Olympia 2012 im Polizeistaat
Von Patrick Martin
19. Juli 2012
Dem Internationalen Olympischen Komitee zufolge ist „das Ziel der Olympischen Idee, den Sport in den Dienst der harmonischen Entwicklung der Menschheit zu stellen und eine friedliche Gesellschaft zu schaffen, in der die menschliche Würde gewahrt bleibt“.
Dieses hochtrabende Markenzeichen steht schon seit Langem im Gegensatz zu der tatsächlichen Funktion der Olympischen Spiele, die zunehmend zu einem alle vier Jahre stattfindenden Fest des Nationalismus, der Gigantonomie und der Geldmacherei geworden sind. Das trifft auf keine Olympischen Spiele so sehr zu, wie auf die in London, die von der gastgebenden Regierung bewusst darauf angelegt zu sein scheinen, auf jeder Vorstellung von Frieden, Menschenwürde und demokratischen Rechten herumzutrampeln.
Die britische Regierung gab am Donnerstag bekannt, dass sie zusätzlich 3.500 Soldaten als Sicherheitspersonal bei der Olympiade einsetzen werde. Das hebt die Gesamtzahl an Soldaten Mitgliedern der Luftwaffe und Militärpolizisten im Einsatz auf unglaubliche 17.000 an. Das sind weit mehr, als aktuell im imperialistischen Krieg in Afghanistan eingesetzt sind.
Die Gesamtzahl uniformierten Personals von 49.000 (17.000 Soldaten, 12.000 Polizisten und 20.000 oder mehr Sicherheitsleute) übersteigt die Größe des Expeditionscorps, das Großbritannien zur Invasion des Irak 2003 beisteuerte. Es ist die größte Mobilisierung britischer Sicherheitskräfte seit der Suezkrise von 1956.
Das Ziel dieser Zurschaustellung militärischer Srärke kann nicht eine Handvoll islamisch fundamentalistischer Terroristen sein, die angeblich darauf aus sind, das Spektakel anzugreifen, wie die Regierung von Premierminister David Cameron behauptet. Der Umfang der Mobilisierung ist völlig unverhältnismäßig angesichts der Bedrohung durch mit al-Qaida vernetzten Gruppen, deren letzte bedeutsame Anschläge in Westeuropa die Selbstmordanschläge in Madrid und London 2004 und 2005 auf Eisenbahnen und U-Bahnen waren.
Die britische Regierung mobilisiert dreimal so viele reguläre Truppen wie die Bush-Regierung 2002 bei den olympischen Winterspielen in Salt Lake City, die nur sechs Monate nach den Terroranschlägen vom 11. September und nur vier Monate nach dem Überfall auf Afghanistan begannen.
Die Art der Bewaffnung der Sicherheitskräfte widerlegt die Behauptung, dass kleine Terroristengruppen oder “einsame Wölfe” (Einzeltäter) die Hauptsorge seien. Warum patrouillieren dann Überschalljäger am Himmel über London? Warum werden Abwehrraketenbatterien auf Häusern in dicht bewohnten Stadtvierteln von Ostlondon installiert, wo der Abschuss schwerer Waffen vermutlich mehr zivile Opfer kosten würde, als jedweder Terroranschlag?
Warum fährt das größte Schiff der britischen Marine, der Träger HMS Ocean die Themse hinauf? Das Schiff ist mit vierzig Kampfhubschraubern ausgerüstet, die mit Raketen und schweren Maschinengewehren bewaffnet sind. Das letzte Mal wurde dieses Kriegsschiff 2011 beim Nato-Krieg gegen Libyen eingesetzt.
Ungeachtet der ununterbrochenen Propaganda in den britischen und amerikanischen Medien über die Gefahr des Terrorismus hat die Polizeistaatsatmosphäre anlässlich der Olympischen Spiele in London viel mehr mit den angespannten Klassenbeziehungen in Großbritannien und mit der andauernden Gewaltanwendung der imperialistischen Mächte in aller Welt zu tun.
Die Olympischen Spiele finden nur wenige Straßenzüge entfernt von Gegenden statt, in denen im August letzten Jahres Massenunruhen gegen Polizeibrutalität und schlimme Armut und Arbeitslosigkeit ausbrachen, nachdem ein unbewaffneter Vater von vier Kindern von der Polizei erschossen worden war. Von Tottenham aus dehnten sich die Unruhen auf Städte im ganzen Land aus. Die Cameron-Regierung, die Labor-Opposition und die wirtschaftsfreundlichen Medien leugneten allesamt, dass es irgendwelche sozialen Ursachen für die Unruhen gebe. Die offizielle Reaktion auf die Auseinandersetzungen bestand in massiver staatlicher Repression und fließbandmäßiger Verurteilung angeblicher Unruhestifter, die in Prozessen quasi standrechtlich zu hohen Gefängnisstrafen verurteilt wurden, die einem ordentlichen Verfahren Hohn sprachen.
Anfang des Jahres hatte der Daily Telegraph berichtet, dass Soldaten der Eliteeinheit des 3. Bataillons des Fallschirmjägerregiments, das durch jahrelange Einsätze in Nordirland und Afghanistan scharf gemacht worden ist, in Kent Übungen für künftige Unruhen in Großbritannien absolviere, darunter auch für eventuelles Aufflackern von Unmutsäußerungen während der Olympiade. Die Zeitung schloss: „Militärische Quellen haben bestätigt, dass die Paras ‚in einer idealen Position’ seien, Polizeikräfte in ganz Großbritannien ‚auf Zuruf’ zu unterstützen, wenn die Gewalt in britische Städte zurückkehren sollte, besonders während der Olympischen Spiele.“
Die gesamten Kosten für die Olympiade nähern sich zehn Milliarden Pfund an. Das allein ist schon eine Beleidigung für die britische Arbeiterklasse, die pausenlosen Angriffen auf Arbeitsplätze, Löhne und Sozialleistungen wie Bildung, Gesundheit und Renten ausgesetzt ist. Von dieser phantastischen Summe wird mindestens die Hälfte unter der Kategorie „Sicherheit“ geführt. 1,1 Mrd. Pfund werden alleine für die Polizei ausgegeben und 4,4 Mrd. Pfund für das Militär und die Geheimdienste.
Camerons Innenministerin Theresa May, die für innere Sicherheit verantwortlich ist, brüstet sich mit der Schaffung einer riesigen Datei und der Schaffung eines besonderen Zentrums, “das jetzt nationale Bedrohungsanalysen im Zusammenhang mit den Olympischen Spielen erstellt und zur Verfügung stellt”.
Bei den „Bedrohungen“ geht es nicht so sehr um Gewalt, als vielmehr um politische Opposition gegen die Sparpolitik der britischen Regierung. May sagte, Sicherheitsvorkehrungen „gegen zeltlagerartige Proteste auf Olympia-Gelände“ seien verstärkt worden“ und die Polizei sei darauf vorbereitet, „Zelte und Ausrüstungen schnell wegzuschaffen“. Die Metropolitan Police zum Beispiel hat Zehntausende Gummigeschosse auf Lager. Vor den Unruhen im August letzten Jahres verfügte sie nur über einen Vorrat von 700.
In Großbritannien hat wie in jedem großen kapitalistischen Land die soziale Ungleichheit zugenommen. Neun Prozent des gesamten Einkommens geht an das reichste Prozent der Bevölkerung, dreimal so viel, wie vor 35 Jahren. Die Finanzelite und die politische Elite haben wenig Unterstützung in der Bevölkerung. Sie sind aber fest entschlossen ein Sparprogramm durchzusetzen, das für die große Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung große Härten bedeutet. Dabei verlassen sie sich auf staatliche Unterdrückung, um ihre Herrschaft zu sichern.
Die Militarisierung der Olympiade in London hat auch eine internationale Dimension. Die britische Regierung war im Irak und in Afghanistan der (kleine) Juniorpartner des amerikanischen Imperialismus, versucht aber genauso wie Frankreich, sich bei der Ausplünderung und Ausbeutung der ehemaligen Kolonien einen größeren Anteil zu sichern. Großbritannien und Frankreich führten letztes Jahr den Luftkrieg gegen Libyen an und stehen jetzt an der Spitze eines ähnlichen Vorgehens gegen Syrien. Eine Parade britischer Luft- und Seestreitkräfte sendet im weltweiten Fernsehen ein klares Signal unmittelbar an Ziele wie Syrien und Iran, wie auch an deren Hauptunterstützer Russland und China.
Wie bei so ziemlich jedem imperialistischen Säbelrasseln, sind die Vereinigten Staaten auch jetzt mit von der Partie. Die New York Times berichtete am Sonntag, dass die britischen Sicherheitspläne für die Olympiade im Dezember „noch einmal gründlich überarbeitet wurden, teilweise, Sprechern zufolge, aufgrund von Warnungen der Vereinigten Staaten vor Terrorangriffen, die von Spezialteams des FBI und der CIA kamen, die die Olympiavorbereitungen überwachen.
Das militaristische Gehabe in London dient den politischen Zwecken Washingtons. Die Aufmerksamkeit, die die Olympiade 2012 dem Gespenst des „Terrorismus“ verleiht, hilft, die öffentliche Meinung auf neue militärische Abenteuer des amerikanischen Imperialismus vorzubereiten.