Historische Grundlagen der Partei für Soziale Gleichheit
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29. Juni 2010
Die Historischen Grundlagen der Partei für Soziale Gleichheit wurden am 23. Mai 2010 von einem Bundesparteitag der PSG nach ausführlicher Diskussion einstimmig verabschiedet. Wir veröffentlichen das Dokument in 11 Teilen. Es kann auch als Ganzes im PDF-Format heruntergeladen werden und wird demnächst als Buch erscheinen.
I. Programm und Geschichte
1. Die Perspektive einer Partei wird in hohem Maße durch ihre Haltung zu historischen Fragen bestimmt. Das ist nirgends so augenfällig wie in Deutschland. Hier erlitt die Arbeiterbewegung triumphale Erfolge und Niederlagen von welthistorischem Ausmaß, die den Charakter des gesamten 20. Jahrhunderts prägten. In Deutschland entstand der Marxismus, hier entwickelte sich die SPD zur ersten marxistischen Massenpartei, und hier verschuldeten Opportunismus (die Kapitulation der SPD am Vorabend des Ersten Weltkriegs) und Stalinismus (das Versagen der KPD bei Hitlers Machtübernahme) verheerende Katastrophen. Nach dem Zweiten Weltkrieg hinterließen die Spaltung des Landes und der Verfälschung des Marxismus durch das DDR-Regime ein Erbe der politischen Konfusion.
2. "Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden", schrieb Marx 1852. [1] Alpträume werden durch unverarbeitete traumatische Erlebnisse ausgelöst. Um sie zu überwinden, müssen diese Erlebnisse bewusst aufgearbeitet werden. Das gilt sinngemäß auch für die Politik. Ohne bewusste Aufarbeitung der Lehren des zwanzigsten Jahrhunderts kann man sich im einundzwanzigsten nicht zurechtfinden. Die Partei für Soziale Gleichheit stützt ihr Programm und ihre Perspektive auf ein Verständnis der historischen Erfahrungen der internationalen sozialistischen Bewegung. Sie stützt sich dabei auf das Erbe der Vierten Internationale und deren Kämpfe gegen den Stalinismus, den Reformismus und den pablistischen Revisionismus. Diese Erfahrungen darzulegen, ist die Aufgabe dieses Dokuments.
3. Die tiefste Finanz- und Wirtschaftskrise seit den 1930er Jahren wirft heute alle ungelösten Fragen der Vergangenheit wieder auf. Das kapitalistische Weltsystem krankt an denselben unlösbaren Widersprüchen, die zwei Weltkriege, zahlreiche regionale militärische Konflikte, den Faschismus und andere brutale Diktaturen hervorgebracht haben - an der Unvereinbarkeit von Weltwirtschaft und Nationalstaat und dem Gegensatz von Privateigentum und gesellschaftlicher Produktion. Es gibt keinen Ausweg aus dieser Krise auf kapitalistischer Grundlage. Wie im vorigen Jahrhundert stellt sie die Menschheit vor die Alternative: Sozialismus oder Barbarei.
4. Im Mittelpunkt der Krise steht der Niedergang der USA, deren wirtschaftliche Macht 1945 - nach zwei Weltkriegen und hundert Millionen Kriegstoten - als Fundament für einen neuen kapitalistischen Aufschwung diente. Die USA kompensieren den Verlust ihrer wirtschaftlichen Hegemonie seit langem, indem sie ihre militärische Übermacht einsetzen und den Finanzsektor auf Kosten der Industrieproduktion ausdehnen. Das ist der Hintergrund der gegenwärtigen Krise, aus der es keinen friedlichen Ausweg gibt. Die herrschende Klasse der USA ist ebenso wenig bereit, freiwillig auf ihre Macht und ihren Reichtum zu verzichten, wie jede andere herrschende Klasse in der Geschichte. Ihr Bemühen, die Kosten der Krise auf die Abeiterklasse und ihre internationalen Rivalen abzuwälzen, und die Reaktion ihrer Rivalen in Europa und Asien, rufen heftige Klassenkämpfe und internationale Konflikte hervor.
5. Die globale Entwicklung der Produktivkräfte hat nicht nur die Krise des Kapitalismus vertieft, sie hat auch die gesellschaftliche Macht der Arbeiterklasse gestärkt und die objektiven Voraussetzungen für den Sturz des Kapitalismus und den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft geschaffen. Bahnbrechende Fortschritte der Informations- und Kommunikationstechnologie haben zu einer nie da gewesenen Integration der Weltwirtschaft geführt, die Arbeiterklasse kontinentübergreifend verbunden und zahlenmäßig gestärkt. Nie zuvor lebte ein derart hoher Prozentsatz der Menschheit in Städten und war direkt in den globalen Produktionsprozess eingebunden. Länder wie China, die vor hundert Jahren noch vorwiegend ländlich geprägt waren, zählen heute zu den wichtigsten Industrieregionen der Welt. Die PSG stellt sich die Aufgabe, die Arbeiterklasse politisch und theoretisch auf die kommenden Klassenkämpfe vorzubereiten und sie mit einem sozialistischen Programm zu bewaffnen, das auf die Lehren vergangener Kämpfe aufbaut. Als Mitglied des Internationalen Komitees der Vierten Internationale ist sie die deutsche Sektion der 1938 von Leo Trotzki gegründeten Weltpartei der sozialistischen Revolution.
II. Die SPD als marxistische Massenpartei
6. Vier Jahrzehnte nachdem Marx und Engels das Kommunistische Manifest veröffentlicht und den Sozialismus auf eine wissenschaftliche Grundlage gestellt hatten, entwickelte sich die deutsche Sozialdemokratie unter dem Einfluss des Marxismus zur weltweit ersten Massenpartei der Arbeiterklasse. Sie leistete eine historische Pionierarbeit, deren Ergebnisse jahrzehntelang nachwirken sollten, auch nachdem sich die SPD selbst längst vom Marxismus abgewandt hatte. Sie formte die Arbeiterklasse zu einer politisch bewussten Klasse und entwickelte in der Arbeiterklasse eine breite, alle Lebensbereiche umfassende sozialistische Kultur. Sowohl die Kommunistischen Parteien wie die Vierte Internationale stützten sich auf diese Vorarbeit der SPD.
7. Die Notwendigkeit einer selbständigen Arbeiterpartei ergab sich aus der Niederlage der demokratischen Revolution von 1848, die den unversöhnlichen Gegensatz zwischen Bourgeoisie und Proletariat und die politische Ohnmacht des demokratischen Kleinbürgertums zeigte. Die bürgerlich-demokratische Revolution fand in Deutschland mit Verspätung statt, weil die bis ins 19. Jahrhundert bestehende Kleinstaaterei die Entfaltung von Handel und Industrie gebremst hatte. Als die Revolution 1848 schließlich ausbrach, war der Gegensatz zwischen Bourgeoisie und Proletariat bereits derart tief, dass ein gemeinsames Vorgehen gegen den preußischen Absolutismus nicht mehr möglich war. Insbesondere nach der ersten großen Schlacht zwischen Proletariat und Bourgeoisie, die im Juli 1848 in Paris entbrannte, fürchtete das liberale Bürgertum die Bedrohung seines Eigentums durch die Revolution weit mehr als die politische Rechtlosigkeit unter preußischer Herrschaft und fiel der Revolution in den Rücken. Das demokratische Kleinbürgertum - die aus Handwerkern, Kleinhändlern und Bauern bestehende Masse der Nation - erwies sich unfähig, eine eigenständige politische Rolle zu spielen und versagte kläglich. Die erste frei gewählte Nationalversammlung, die in der Frankfurter Paulskirche zusammentrat, hatte - in den Worten von Engels - "vom ersten Tag ihres Bestehens mehr Angst vor der geringsten Volksbewegung als vor sämtlichen reaktionären Komplotten sämtlicher deutscher Regierungen zusammengenommen". [2]
8. In ihrer Analyse der Revolution von 1848 betonten Marx und Engels, dass sich die Arbeiterklasse unabhängig vom demokratischen Flügel der Bourgeoisie organisieren müsse. Selbst unter Verhältnissen, "wo die demokratischen Kleinbürger überall unterdrückt sind", wo sie "dem Proletariat Einigung und Versöhnung predigen" und "nach der Herstellung einer großen Oppositionspartei" streben, müsse eine Vereinigung mit ihnen "auf das entschiedenste zurückgewiesen werden", schrieben sie. Die demokratischen Kleinbürger strebten danach, "die Arbeiter in eine Parteiorganisation zu verwickeln, in der die allgemein sozial-demokratischen Phrasen vorherrschend sind, hinter welchen ihre besonderen Interessen sich verstecken, und in der die bestimmten Forderungen des Proletariats um des lieben Friedens willen nicht vorgebracht werden dürfen. Eine solche Vereinigung würde allein zu ihrem Vorteile und ganz zum Nachteile des Proletariats ausfallen. Das Proletariat würde seine ganze selbständige, mühsam erkaufte Stellung verlieren und wieder zum Anhängsel der offiziellen bürgerlichen Demokratie herabsinken." Sie forderten eine selbständige Organisation der Arbeiterpartei, in der "die Stellung und Interessen des Proletariats unabhängig von bürgerlichen Einflüssen diskutiert werden". [3]
9. In einer weiteren Passage, auf die sich Leo Trotzki später bei der Ausarbeitung der Theorie der permanenten Revolution stützen sollte, erklärten Marx und Engels: "Während die demokratischen Kleinbürger die Revolution möglichst rasch und unter Durchführung höchstens der obigen Ansprüche zum Abschlusse bringen wollen, ist es unser Interesse und unsere Aufgabe, die Revolution permanent zu machen, so lange, bis alle mehr oder weniger besitzenden Klassen von der Herrschaft verdrängt sind, die Staatsgewalt vom Proletariat erobert und die Assoziation der Proletarier nicht nur in einem Lande, sondern in allen herrschenden Ländern der ganzen Welt so weit vorgeschritten ist, dass die Konkurrenz der Proletarier in diesen Ländern aufgehört hat und dass wenigstens die entscheidenden produktiven Kräfte in den Händen der Proletarier konzentriert sind. Es kann sich für uns nicht um Veränderung des Privateigentums handeln, sondern nur um seine Vernichtung, nicht um Vertuschung der Klassengegensätze, sondern um Aufhebung der Klassen, nicht um Verbesserung der bestehenden Gesellschaft, sondern um Gründung einer neuen." [4]
10. Die Niederlage der Revolution von 1848 drängte die Arbeiterklasse zeitweilig in den Hintergrund. Staatliche Unterdrückungsmaßnahmen, die 1852 im Kölner Prozess gegen den Bund der Kommunisten gipfelten, behinderten ihre politische Organisation. Die Jahre der politischen Reaktion waren jedoch vom Siegeszug der industriellen Revolution und einem raschen Anwachsen der Arbeiterklasse geprägt. Bankwesen, Industrie, Bergbau, Schienenverkehr, Schifffahrt und Überseehandel erlebten einen gewaltigen Aufschwung. In den 1860er Jahren entstanden mit dem Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein (ADAV) Ferdinand Lassalles und dem Verband Deutscher Arbeitervereine (VDAV) August Bebels eigenständige politische Arbeiterorganisationen. Sie schlossen sich 1875 zur Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SAP) zusammen, die sich im Jahre 1890 in SPD umbenannte.
11. Innerhalb der SAP trat der Marxismus dann seinen eigentlichen Siegeszug an. Bebels Fraktion, die mit dem Marxismus identifiziert wurde, gewann zunehmend an Autorität. Obwohl die Partei zwischen 1878 und 1890 durch Bismarcks Sozialistengesetze verboten war, politisch verfolgt wurde und nur zu Reichs- und Landtagswahlen legal antreten durfte, entwickelte sie sich zu einer mächtigen gesellschaftlichen Kraft. Ihre Wahlerfolge und ein Massenstreik, der 1889/90 Deutschland erschütterte, führten schließlich zum Rücktritt Bismarcks und zum Fall der Sozialistengesetze. Nun entwickelte sich die SPD zur größten Partei Deutschlands. Sie erzog die Arbeiterklasse im Sinne des Marxismus und wurde für Hunderttausende Arbeiter zum Mittelpunkt ihres gesamten Lebens. Auf dem Höhepunkt ihrer Macht publizierte sie über 70 Tageszeitungen und zahlreiche wöchentliche Publikationen, die von sechs Millionen Menschen gelesen wurden. Ihre Verlage brachten in hohen Auflagen Bücher zur Geschichte, Politik und Kultur heraus. Sie verfügte über eine eigene Parteischule und 1.100 Bibliotheken. Sie koordinierte ein riesiges Netz von Freizeitaktivitäten vom Turn- bis zum Gesangsverein.
12. Die SPD verteidigte nicht nur die sozialen Belange der Arbeiter, sie war auch die einzige Partei Deutschlands, die konsequent für demokratische Rechte eintrat und sich scharf gegen den Antisemitismus wandte. Das Kleinbürgertum und die bürgerliche Intelligenz waren 1848 der demokratischen Revolution in den Rücken gefallen und stellten sich nach der Einigung des Reichs durch "Blut und Eisen" mehrheitlich hinter Bismarck und den wilhelminischen Staat. Im Unterschied zu England, Frankreich und den USA gibt es in Deutschland keine bürgerlich demokratische Tradition. Der Kampf für demokratische Rechte war von Anfang an untrennbar mit der Arbeiterbewegung verbunden. Die Arbeiterklasse stand einem starken, feindlichen Staat gegenüber. Das bloße Eintreten für soziale Rechte setzte den Kampf für politische Rechte voraus. Daher ging in Deutschland die Gründung der Arbeiterpartei dem Aufbau der Gewerkschaften voraus. Einflussreiche Gewerkschaften entstanden erst anschließend, auf Initiative und unter Führung der SPD.
III. Das Anwachsen des Opportunismus in der SPD
14. Die SPD war nie eine homogene Partei. 1875 machte der Vereinigungsparteitag von Gotha zahlreiche Zugeständnisse an die Anhänger des 1864 verstorbenen Ferdinand Lassalle. Marx übte scharfe Kritik am Gothaer Programm, dem er vorwarf, es sei "durch und durch vom Untertanenglauben der Lassalleschen Sekte an den Staat verpestet". Lassalle wollte den Sozialismus mit Hilfe des preußischen Staats errichten, den er als über den Klassen stehende Institution betrachtete. Er hatte sich sogar heimlich mit Bismarck getroffen, um dessen Konflikte mit der Bourgeoisie im Interesse der Arbeiterklasse auszunutzen. Er rechtfertigte diese opportunistische "Allianz mit den absolutistischen und feudalen Gegnern wider die Bourgeoisie" (Marx) damit, dass gegenüber der Arbeiterklasse "alle andren Klassen nur eine reaktionäre Masse" seien. Diese ultralinke Phrase verwischte den Unterschied zwischen demokratischem Kleinbürgertum, liberaler Bourgeoisie und feudaler Reaktion. Sie fand sich auch im Gothaer Programm wieder und wurde von Marx empört zurückgewiesen. [5]
15. Nach Gotha gerieten Lassalles Anhänger in die Defensive und der Marxismus setzte sich als offizielle Doktrin der Partei durch. Doch nach der Aufhebung der Sozialistengesetze erhielt Lassalles Perspektive, unter den Fittichen des preußischen Despotismus eine Art nationalen Sozialismus zu verwirklichen, neuen Auftrieb. Im Juni 1891 hielt der bayrische Sozialdemokrat Georg von Vollmar im Münchner Eldorado-Palast zwei viel beachtete Reden, in denen er die Partei aufforderte, die Schlagworte der Vergangenheit fallen zu lassen und zu einer praxisorientierten demokratischen Reformbewegung zu werden. Der Partei sei am besten gedient durch Bemühungen, "auf der Grundlage der heutigen Staats- und Gesellschaftsordnung Verbesserungen wirtschaftlicher und politischer Art herbeizuführen". Vollmar wandte sich ausdrücklich gegen den Internationalismus der SPD. Wer kein Träumer sei, müsse anerkennen, "dass die Verschiedenheiten des Volkstums und der Gemeinwesen tief begründet" seien, sagte er und warnte vor "einer widersinnigen Verneinung eines berechtigten, gesunden nationalen Lebens und der daraus auch für uns erwachsenden Pflichten". Er lobte den Dreibund, das imperialistische Bündnis zwischen Deutschland, Österreich und Italien, als eine dem Frieden dienende Kraft und drohte, jede Macht, die den Frieden durch einen Angriff auf deutschen Boden breche, werde sich der Streitmacht der deutschen Arbeiterklasse gegenüber sehen. [6]
16. Vollmars Eldorado-Reden wurden zum Manifest des Revisionismus, den Eduard Bernstein sieben Jahre später in seinem Buch Die Voraussetzungen des Sozialismus theoretisch untermauerte. Bernstein behauptete, die Entwicklung des Kapitalismus habe die ökonomische Analyse von Marx widerlegt, und verspottete dessen Prognose, der Kapitalismus werde aufgrund seiner inneren Widersprüche in eine tiefe Krise geraten, als "sozialistische Katastrophitis". Der Kapitalismus habe "Anpassungsmittel" entwickelt, mit denen er periodische Krisen dämpfen und überwinden könne. Der Sozialismus sei keine historische Notwendigkeit, sondern das Endresultat allmählicher Reformen im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft. Er sei kein Ergebnis des Klassenkampfs, sondern das Produkt moralischer und humanistischer, mit Kants kategorischem Imperativ begründeter Grundsätze.
17. Damit wies Bernstein die sozialistische Perspektive selbst zurück. Wie Rosa Luxemburg in ihrer Antwort auf Bernstein zeigte, führt die Ablehnung der marxistischen Krisentheorie zwangsläufig zur Preisgabe des Sozialismus. Luxemburg schrieb, entweder folge die sozialistische Umgestaltung aus den objektiven Widersprüchen der kapitalistischen Ordnung oder "es sind die Anpassungsmittel wirklich solche, die einem Zusammenbruch des kapitalistischen Systems vorbeugen, also den Kapitalismus existenzfähig machen, also seine Widersprüche aufheben, dann hört aber der Sozialismus auf, eine historische Notwendigkeit zu sein, und er ist dann alles, was man will, nur nicht ein Ergebnis der materiellen Entwicklung der Gesellschaft." Wenn Bernstein in Bezug auf den Gang der kapitalistischen Entwicklung Recht habe, verwandle "sich die sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft in eine Utopie". [7]
IV. Der Zusammenbruch der Zweiten Internationale
17. Bernsteins Thesen wurden zwar auf Parteikongressen regelmäßig zurückgewiesen, doch in der Praxis gewannen sie zunehmend an Gewicht. Nach der Jahrhundertwende mehrten sich die Fälle, in denen die SPD-Führung oder Teile davon zu wichtigen politischen Fragen rechte Standpunkte einnahmen oder einer klaren Stellungnahme auswichen. In der Partei tat sich eine tiefe Kluft auf, deren Extreme auf der Linken Rosa Luxemburg und auf der Rechten die Gewerkschaftsführer bildeten. Letztere erachteten die revolutionäre Theorie der Partei als Gefahr für ihre organisatorischen Erfolge und mühsam erkämpften sozialen Verbesserungen. Die Schriften Rosa Luxemburgs, die einen systematischen Kampf gegen den wachsenden Opportunismus führte, lesen sich wie eine Chronologie der schleichenden Rechtsentwicklung der Partei.
18. Als die russische Revolution von 1905 die Frage des politischen Massenstreiks aufwarf, lehnten ihn die Gewerkschaftsführer mit den Worten "Generalstreik ist Generalunsinn" ab und entfachten eine Hetzkampagne gegen Luxemburg, die den Massenstreik befürwortete. Der Kölner Gewerkschaftskongress stand 1905 unter der Devise "Die Gewerkschaften brauchen vor allem Ruhe", selbst die Diskussion der Massenstreikfrage wurde als gefährliches und sinnloses Spiel mit dem Feuer verdammt. Die Gewerkschaftsführer "fürchteten, ihre taktische Unabhängigkeit von der Partei zu verlieren, fürchteten die Aufzehrung des großen Kriegsschatzes, den sie angesammelt hatten, fürchteten sogar die Vernichtung ihrer Organisation durch die Staatsgewalt bei einer solchen Machtprobe. Im übrigen waren sie überhaupt gegen Experimente, die ihr sehr kunstvolles System des täglichen Kleinkrieges mit dem Unternehmertum stören konnten." [8] Weitere Konflikte entbrannten über die Budgetbewilligung durch sozialdemokratische Abgeordnete in Süddeutschland und die Anpassung der SPD an den deutschen Imperialismus, die sich in der Haltung zur deutschen Kolonialpolitik und der passiven Reaktion der Partei auf die militärische Aufrüstung äußerte.
19. Die Parteiführung um August Bebel und Karl Kautsky rückte mit dem Herannahen des Weltkriegs immer deutlicher von Rosa Luxemburg ab und wich einem Konflikt mit den Gewerkschaftsführern aus. Als dann der Krieg 1914 ausbrach, hatten die opportunistischen Elemente in der Partei die Oberhand. Sie hatten den Krieg - in Trotzkis Worten "der größte Zusammenbruch eines an seinen eigenen Widersprüchen zugrunde gehenden ökonomischen Systems, den die Geschichte kennt" [9] - nicht vorhergesehen und reagierten, indem sie vor dem deutschen Imperialismus kapitulierten. Nachdem die SPD noch kurz vorher auf internationalen Kongressen die internationale Solidarität beschworen hatte, bekannte sie sich nun zur Vaterlandsvereidigung und verschob den Sozialismus in eine ferne Zukunft. Sie votierte im Reichstag für die Kriegskredite und stellte ihren gesamten Apparat in den Dienst der imperialistischen Kriegspropaganda.
20. Auch alle anderen sozialdemokratischen Parteien - mit Ausnahme der serbischen Partei und der russischen Bolschewiki - bekannten sich zur Vaterlandsverteidigung. Das besiegelte den Zusammenbruch der Zweiten Internationale. Ihr Übergang ins Lager der herrschenden Klasse war vollständig und unwiderruflich. Als bei Kriegsende revolutionäre Kämpfe aufflammten, verteidigten die sozialdemokratischen Parteien die bürgerliche Ordnung mit allen Mitteln. In Deutschland ließ die SPD auf aufständische Arbeiter schießen. Sie verbündete sich mit der Obersten Heeresleitung, um die Revolution zu unterdrücken und ihre Führer Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht zu ermorden. Das sozialdemokratische Zentralorgan Vorwärts warb für die Freikorps, die paramilitärischen Mörderbanden, aus denen sich später Hitlers SA rekrutierte. Als die Weimarer Republik später in die Krise geriet, unterstützte die SPD Brünings Notverordnungen, wählte Hindenburg zum Reichspräsidenten und half so, Hitler den Weg an die Macht zu bahnen.
21. Dieser historische Verrat, dessen Folgen den weiteren Verlauf des zwanzigsten Jahrhunderts maßgeblich bestimmen sollte, hatte objektive Ursachen in den historischen Bedingungen der vorangegangenen Epoche. Der Aufstieg der SPD hatte sich vor dem Hintergrund einer lang anhaltenden Phase der kapitalistischen Expansion vollzogen. Theoretisch marschierte sie zwar unter dem Banner des Marxismus, doch ihre Praxis war ganz auf die täglichen Bedürfnisse der Arbeiter und die Entwicklung der eigenen Kräfte ausgerichtet - die Erhöhung der Mitgliederzahl, die Füllung der Kassen und die Entwicklung der Presse. Obwohl der Revisionismus im theoretischen Streit unterlag, lebte er in der Partei fort und nährte sich von ihrer Praxis und Psychologie. "Die kritische Widerlegung des Revisionismus als einer Theorie bedeutete durchaus nicht seine taktische und psychologische Überwindung", schrieb Trotzki. "Die Parlamentarier, Gewerkschaftler und Genossenschaftler fuhren fort zu leben und zu wirken in der Atmosphäre allseitigen Possibilismus, praktischer Spezialisierung und nationaler Beschränktheit." [10]
22. Die Katastrophe von 1914 war aber nicht unausweichlich. Die objektive Lage vor dem Weltkrieg förderte nicht nur den Opportunismus, sondern befruchtete auch die Entstehung revolutionärer Strömungen in der Zweiten Internationale und in der Arbeiterklasse als Ganzes. Revolutionäre Marxisten wie Lenin, Trotzki und Luxemburg verstanden die Widersprüche des Imperialismus weit besser und tiefer als Opportunisten wie Bernstein, die sich von den oberflächlichen Eindrücken des wirtschaftlichen Aufschwungs und gewerkschaftlicher Erfolge blenden ließen. Im systematischen Kampf gegen den Opportunismus bereiteten sie die Arbeiterklasse auf die kommenden Erschütterungen vor. Niemand begriff dies besser als Lenin, der den Opportunismus auf theoretischer, politischer und organisatorischer Ebene unnachgiebig bekämpfte und bereits 1903 mit den russischen Opportunisten, den Menschewiki, brach. Lenin entwickelte den Marxismus in einer ständigen Auseinandersetzung mit dem politischen und ideologischen Druck bürgerlicher und kleinbürgerlicher Tendenzen. Er betrachtete den Konflikt zwischen rivalisierenden Strömungen nicht als subjektiv motivierten Kampf um Einfluss über die Arbeiterklasse, sondern als objektiven Ausdruck realer Veränderungen in den Klassenbeziehungen - sowohl zwischen der Arbeiterklasse und der Bourgeoisie, als auch zwischen verschiedenen Schichten innerhalb der Arbeiterklasse. Das bereitete die Bolschewiki auf den Krieg und die folgenden revolutionären Erschütterungen vor.
23. Die Bolschewiki traten nicht nur den Vaterlandsverteidigern entgegen, sondern auch den Pazifisten, die sich auf die Losung nach Frieden beschränkten. Lenin trat dafür ein, den imperialistischen Krieg in einen Bürgerkrieg zu verwandeln, d.h. er verband den Kampf gegen den Krieg mit der Vorbereitung der sozialistischen Revolution. 1917 wurde diese Perspektive in Russland bestätigt. Die Februarrevolution brachte die Menschewiki und Sozialrevolutionäre an die Macht. Sie setzten den Krieg im Interesse der russischen Bourgeoisie und ihrer imperialistischen Verbündeten fort und gerieten in scharfen Konflikt mit den Friedensbestrebungen der Arbeiter, Bauern und Soldaten, die sich den Bolschewiki zuwandten. Diese organisierten im Oktober einen Aufstand, der die Provisorische Regierung stürzte und die Macht in die Hände der Sowjets legte. Die Sowjetregierung stellte die Kriegsteilnahme sofort ein und veröffentlichte die Geheimverträge über die imperialistischen Kriegsziele.
24. Der Sieg der Oktoberrevolution kennzeichnete einen historischen Wendepunkt. Erstmals ergriff in Russland die Arbeiterklasse unter marxistischer Führung die Macht und behauptete sie. Ungeachtet ihrer späteren Degeneration bewies die Oktoberrevolution, dass die Arbeiterklasse in der Lage ist, die kapitalistische Ordnung zu stürzen und das Fundament für eine höhere, fortschrittlichere Gesellschaft zu legen. Sie wurde zum Ansporn für revolutionäre Erhebungen auf der ganzen Welt. Der barbarische Charakter des Kriegs, die Empörung über den Verrat der Sozialdemokratie und die Folgen des wirtschaftlichen Niedergangs radikalisierten breite Schichten von Arbeitern. Sie orientierten sich an den revolutionären Marxisten, die sich von Anfang an gegen den Krieg gestellt hatten. Im März 1919 fand in Moskau der Gründungskongress der Dritten oder Kommunistischen Internationale statt. Sie erklärte kategorisch, dass für zentristische und opportunistische Elemente kein Platz in ihren Reihen sei, und entwickelte das Programm, die Strategie und die Taktik der sozialistischen Weltrevolution als praktische Aufgabe der internationalen Arbeiterklasse.
25. Der Erste Weltkrieg und die Oktoberrevolution markierten den Beginn einer neuen historischen Epoche, der Epoche der Todeskrise des Kapitalismus und der sozialistischen Weltrevolution. Die folgenden drei Jahrzehnte waren durch eine ununterbrochene Folge erbitterter Klassenkämpfe und militärischer Auseinandersetzungen geprägt. Dies erforderteeine andere Art von Partei, als sie die Zweite Internationale aufgebaut hatte. Es war nicht mehr möglich, sich theoretisch zu einem Maximalprogramm, zum Internationalismus und zur Revolution zu bekennen, während die Tagespraxis in organisatorischer Routine verharrte und auf ein Minimalprogramm, auf Reformen im nationalen Rahmen beschränkt blieb. Die neuen Parteien mussten in der Lage sein, schnell auf gesellschaftliche Veränderungen zu reagieren, ihre Taktik der revolutionären Strategie unterzuordnen, diszipliniert zu handeln und einen unversöhnlichen Kampf gegen den Opportunismus zu führen.
26. Trotzki fasste später den Unterschied zwischen den Parteien der Zweiten und der Dritten Internationale mit den Worten zusammen: "In einer Zeit des wachsenden Kapitalismus konnte selbst die beste Parteileitung nicht mehr tun, als die Ausformung der Arbeiterpartei beschleunigen. Umgekehrt konnten Fehler der Führung diesen Prozess nur verzögern. Die objektiven Voraussetzungen für eine proletarische Revolution reiften nur langsam heran, und die Arbeit der Partei behielt einen vorbereitenden Charakter. Jetzt dagegen legt jede neue scharfe Wendung der politischen Situation nach links die Entscheidung in die Hände der revolutionären Partei. Verpasst sie die kritische Situation, so schlägt diese in ihr Gegenteil um. Unter diesen Bedingungen bekommt die Rolle der Parteiführung eine ausschlaggebende Bedeutung. ... Die Rolle des subjektiven Faktors kann in einer Periode der langsamen organischen Entwicklung eine durchaus untergeordnete bleiben. ... Sobald aber die objektiven Voraussetzungen herangereift sind, wird der Schlüssel zu dem ganzen historischen Prozess in die Hände des subjektiven Faktors, d.h. der Partei gelegt. Der Opportunismus, der bewusst oder unbewusst im Geiste der Vergangenheit lebt, neigt immer dazu, die Rolle des subjektiven Faktors, d.h. die Bedeutung der Partei und der revolutionären Führung zu unterschätzen. ... Eine solche Einstellung, die überhaupt falsch ist, wirkt sich in dieser Epoche direkt vernichtend aus." [11]
Anmerkungen
1) Karl Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, in: Marx Engels Werke (MEW), Bd. 8, S. 115
2) Friedrich Engels, Revolution und Konterrevolution in Deutschland, in: MEW, Bd. 8, S. 46, 96
3) Marx/Engels, Ansprache der Zentralbehörde an den Bund vom März 1850, in: MEW, Bd. 7, S. 246-249
4) ebd.
5) Karl Marx, Kritik des Gothaer Programms, in: MEW, Bd. 19, S. 22-28
6) Georg von Vollmar, Über die nächsten Aufgaben der deutschen Sozialdemokratie, München 1891
7) Rosa Luxemburg, Sozialreform oder Revolution?, in: Gesammelte Werke, Band 1, Berlin 1990, S. 377
8) Paul Frölich, Rosa Luxemburg. Gedanke und Tat, Berlin 1990, S. 171-172
9) Leo Trotzki, Der Krieg und die Internationale, in: Europa im Krieg, Essen 1998, S. 378
10) ebd., S. 439, 441
11) Leo Trotzki, Die Dritte Internationale nach Lenin, Essen 1993, S. 95-97