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Ein bürgerlicher Kritiker:

Gore Vidal, amerikanischer Schriftsteller und liberaler Denker 1925-2012

Von Sandy English
15. September 2012

Am 31. Juli verstarb der Schriftsteller, Drehbuchautor, Essayist und einstige TV-Prominente Gore Vidal in seinem Haus in Hollywood Hills oberhalb der Stadt Los Angeles. Als einer der eindringlicheren bürgerlichen Kritiker der amerikanischen Politik und Kultur befand er sich stets dezidiert sowohl über als auch innerhalb des Establishments.

Vidal war eine der wenigen prominenten Persönlichkeiten, die offen über die derzeitige Beseitigung demokratischer Rechte in den Vereinigten Staaten sprachen. Bereits in den 1970er Jahren machte er auf die wachsende soziale Ungleichheit sowie die Unterwürfigkeit der politischen Institutionen gegenüber dem reichsten Prozent der Amerikaner aufmerksam. Er war ein entschiedener Kritiker der Brutalität der amerikanischen auswärtigen Politik und zog sich den Hass der Ultrarechten zu.

Er war ein fähiger Autor, dessen gelungenste Prosa, zum Beispiel seine siebenbändige Chronik der USA (1967-2000) (Narratives of Empire: Burr, Lincoln, 1876, Empire, Hollywood, Washington D.C., Das goldene Zeitalter), den Versuch unternimmt, die Entwicklung der herrschenden amerikanischen Elite und deren Angelegenheiten nachzuzeichnen. Vidal war aber auch in der Lage, kundig über andere historische Perioden zu schreiben: beispielsweise über das römische Imperium in seinem Roman Julian. Mit weniger Erfolg flocht er politische und gesellschaftliche Themen in seine Dramen ein.

Vidals Urteile zur Literatur waren unkonventionell und trafen manchmal ins Mark, besonders wenn er die Aufmerksamkeit auf unterbewertete Autoren lenkte oder wenn er Zweifel an akzeptierten Ansichten hegte. Auch seine Memoiren sind von literarischem Wert, denn sie geben lebendigen Einblick in das gesellschaftliche und kulturelle Leben der Vereinigten Staaten, besonders der etwa zwanzig auf den Zweiten Weltkrieg folgenden Jahre.

Wenn Vidal allerdings ein halbes Jahrhundert lang ein überragender politischer Kommentator war, dann vor allem, weil er eine der wenigen aufrichtigen Stimmen war, die aus dem Establishment stammten. Als viele Liberale sich in dramatischer Weise der Rechten zuwandten, die Wunder des Marktes entdeckten und die Herrlichkeit des amerikanischen Militärs priesen, hielt sich Vidal von dieser Entwicklung fern.

Es ist aber nicht notwendig, ihn überschwänglich zu beweihräuchern. Die Niedertracht und Verkommenheit so vieler anderer macht aus Vidal nicht mehr, als er war. Er besaß ein unverfälschtes Engagement für die Demokratie, doch gewisse Grenzen überschritt er nie. Er kritisierte das Zweiparteiensystem als Herrschaft der einen Partei des Reichtums, doch er bot keine Alternative an, erst recht nicht in Form des Sozialismus. Am Ende gab Vidal stets, wenn auch widerwillig, dem einen oder anderen Politiker der Demokratischen Partei seine Unterstützung. Dies hilft zu verstehen, warum ihm erlaubt wurde, weiterhin einen Platz am offiziellen Tisch einzunehmen.

Angesichts seines persönlichen Hintergrundes sowie der Zeit des Kalten Krieges mit seinem unerbittlichen Antikommunismus, in der er aufwuchs, erwies es sich für Vidal als unmöglich, mit der offiziellen politischen Kultur zu brechen oder sie überhaupt in frontaler Art und Weise künstlerisch herauszufordern.

Sein Vater Eugene Vidal war einer der ersten Militärpiloten und später Direktor des Luftverkehrs unter der Regierung von Franklin D. Roosevelt. Er war außerdem der Gründer von Unternehmen, die sich später zur Eastern Airlines und Trans World Airlines (TWA) zusammenschlossen.

Vidals Mutter Nina Gore war die Tochter von Thomas Pryor Gore, einem Politiker der Demokraten mit populistischen Neigungen und einem der beiden ersten Senatoren aus Oklahoma (das 1907 als Bundesstaat der Union beitrat). Vidal verbrachte den größten Teil seiner Kindheit in Washington, wo er nach der Scheidung seiner Eltern bei seinem Großvater wohnte.

Nach den Zweiten Weltkrieg (Vidal diente als Marinemitglied auf den Aleuten) begann er eine literarische Karriere, die ihm mit seinem dritten Roman, The City and the Pillar (1948) (dt. Geschlossener Kreis) einen schlechten Ruf einbrachte. Dieser Roman behandelte Homosexualität in offener Weise.

Als er für Film und Fernsehen zu schreiben begann, hatte die antikommunistische Hexenjagd gerade begonnen und die Säuberung Hollywoods von linken Elementen war weitestgehend abgeschlossen. Vorurteile aus dem Klima des Kalten Krieges, deren er sich nicht vollkommen bewusst gewesen scheint, fanden Eingang in sein Werk, wie auch in das Schaffen anderer linksliberaler Autoren.

In den 1950er Jahren hörte Vidal auf, ernste Prosa zu verfassen, was er der New York Times anlastete, die seine Karriere behinderte, und produzierte eine Zeit lang Genrestücke unter einem Pseudonym. Anschließend schrieb er eine Reihe von Filmadaptionen sowie auch Eigenständigeres darunter Teile zum Drehbuch von Ben Hur (1959).

Sein Drama The Best Man (1960), das von zwei angehenden Präsidentschaftskandidaten (einer von ihnen basiert auf Richard Nixon) und “schmutzigen Tricks” in der amerikanischen Politik handelt, hatte am Broadway großen Erfolg. Es zeigte seine Rückkehr zu substanzielleren politischen Themen. Später wurde es von Franklin J. Schaffner verfilmt (1964); Henry Fonda hatte eine Hauptrolle darin.

Vidal stellte sich 1960 im Staat New York für die Wahlen zum US-Kongress auf. Er wurde dabei von Eleanor Roosevelt und anderen liberalen Persönlichkeiten unterstützt. Seine Karriere als liberaler Intellektueller in der Öffentlichkeit nahm hier ihren Anfang.

Zu dieser Zeit scheint er von der Mainstreampolitik desillusioniert worden zu sein. Es ist nicht klar, ob dies während der Kennedy-Regierung (er war aufgrund familiärer Bindungen mit dem Präsidenten bekannt), wegen des Präsidentenmords im November 1963 oder infolge der Verquickung unheilvoller Ereignisse geschah.

Was auch immer der letzte Grund war, dieser Mord brachte ihn dazu, in sich zu gehen und ein Werk zu erschaffen, dass von vielen als Vidals künstlerisch bedeutendstes angesehen wird: Julian (1964), ein Roman über das Leben des römischen Kaisers Julian Apostata (der Abtrünnige), der auf Originaldokumenten basiert. Julian hatte den vergeblichen Versuch unternommen, im Jahr 362 nach Christus das römische Reich zu seiner früheren traditionellen Kultur und Religion zurückzuführen und vom Christentum, das Staatsreligion geworden war, abzukehren.

Vidal stellt Julians Handeln als eine prinzipielle Verteidigung der Freiheit der Religion und als Zurückweisung des status quo dar. Bezeichnenderweise geht der Autor davon aus, dass die herrschenden Klassen innerhalb ihrer Reihen einen vielseitigen Reformer hervorbringen können – selbst angesichts des Zerfalls und der Entartung eines Imperiums. Letzteren Prozess schildert er höchst lebendig.

Nachdem er unerkannt eine Orgie der Eunuchen seines Palastes besucht hatte, stellt Julian fest: “Die Grundlage einer legitimen Gesellschaft besteht darin, dass kein Mann (noch weniger ein halber Mann) die Macht besitzt, einen anderen Bürger seinem Willen zu unterwerfen…Was diese Nacht – und in vielen anderen Nächten – geschah, war ungesetzlich und grausam.“

Dies war ein deutlicher Kommentar zu einer gewissen Sorte Menschen auf der Welt und speziell zu dem amerikanischen Staat in den frühen 1960er Jahren. War es der amerikanischen herrschenden Klasse möglich, die Gesetze einzuhalten, wenn sie zugleich, nach Auffassung Vidals, ein Weltimperium errichtet?

Als der Nachkriegsboom sich zu verflüchtigen begann und der Krieg in Vietnam für die amerikanische Elite schwieriger zu vertreten wurde, traten Persönlichkeiten des Establishments wie Vidal, die der amerikanischen Außenpolitik kritisch gegenüberstanden, in den Massenmedien in Erscheinung.

Ein dramatischer Aufschwung der Kämpfe der Arbeiterklasse auch in den Vereinigten Staaten fand seinen Höhepunkt im französischen Generalstreik vom Mai und Juni 1968. Es gibt fast nichts innerhalb des umfangreichen Werkes von Vidal, das sich auf diese Ereignisse bezieht, und noch weniger einen Versuch, sie zu verstehen. Für ihn blieb dies im Wesentlichen ein Buch mit sieben Siegeln.

Vidal verteidigte das Recht der vietnamesischen Bevölkerung, ihr Schicksal selbst zu bestimmen und nannte in einem berühmt gewordenen Ausspruch in ABC News vor Millionen Zuschauern den Erzkonservativen William F. Buckley einen „Krypto-Nazi“. In der Sendung wurde die Democratic National Convention von 1968 in Chicago, die alle vier Jahre stattfindende Versammlung der Demokratischen Partei zur Nominierung des Präsidentschaftskandidaten, übertragen und von den beiden kommentiert.

Trotz ihrer Differenzen hatte Vidal indessen viel mit einem Buckley gemeinsam. Beide entstammten den gehobenen Kreisen und beide bemühten sich um Einflussnahme auf die Politik der herrschenden Klasse, wenn auch von verschiedenen Standpunkten aus.

Von Vidal stammen zahlreiche literaturkritische Essays, von denen einige es verdienen, heute erneut gelesen zu werden, wie etwa seine Schrift aus dem Jahr 1983 “William Dean Howells,” die den Versuch unternimmt, den klassischen amerikanischen Erzähler bei einem größeren Publikum wieder einzuführen.

Vidals bedeutendste Prosawerke nach Julian waren die sieben Romane seiner USA-Chronik Narratives of Empire [Erzählungen vom Imperium]. Die Chronik begann mit Burr (1973), einer fiktiven Erinnerung Aaron Burrs an die amerikanischen „Gründerväter“. Burr hat zweifelhaften Ruhm erworben für seinen Duellmord an Alexander Hamilton im Jahr 1804. Den Abschluss der Reihe bildet Das goldene Zeitalter (2000), eine Darstellung der politischen Kreise in Washington D.C. von 1939 bis 1954. Viele Abschnitte klingen sehr glaubhaft.

In einer Szene des letztgenannten Buches spricht ein Berater von Franklin Roosevelt mit einem Agenten des britischen Imperialismus. Die Unterredung handelt von der globalen Strategie der amerikanischen herrschenden Elite. Der Berater Roosevelts sagt dem britischen Vertreter: „Wir werden Hitler niemals erlauben, bei Ihnen einzudringen. Aber wir werden Sie niemals – mit oder ohne ein Imperium – irgendwo auf der Welt als ebenbürtig betrachten. Wenn wir siegen, siegen wir.“

Nach den Ereignissen vom 11. September 2011 widerstand Vidal der patriotischen Hysterie und legte eine Analyse vor, welche die offizielle Darstellung zurückwies. Er stellte den Zusammenhang her zwischen den anschließenden Kriegsvorbereitungen gegen den Irak und den Bedürfnissen des amerikanischen Imperialismus. Diesen sah er durch die von ihm so genannte „Bush-Cheney-Junta“ repräsentiert.

Am Ende des Goldenen Zeitalters, während Festlichkeiten zum Neujahr 1999, stellt eine ältere Figur, deren Ansichten denen Vidals ähneln, Überlegungen zu kürzlich übersetzten Hieroglyphen der Maya und unserer Fähigkeit an, das Schicksal dieser Zivilisation besser zu verstehen.

Er antwortet einem Journalisten, der ihn befragt, was er über das neue Jahrtausend fühle: “Ich fühle nichts, außer Interesse an der Tatsache, dass es in diesem Teil der Welt vor uns andere Imperien gegeben hat und dass Pacals Volk [Pacal war ein Herrscher der Maya] mit der Zeit zu zahlreich wurde; und als dies geschah, verschlangen sie einander.“

In den letzten zwanzig Jahren seines Lebens war Vidal zunehmend besorgt über den fortgeschrittenen Verfall der amerikanischen Demokratie und den Ausbruch amerikanischer militaristischer Gewalt. Doch seine Kritik verblieb innerhalb populistischer und isolationistischer Traditionen, die Strömungen innerhalb der herrschenden Klasse selbst sind. Sie sind nationalistisch und stehen dem Klassenkampf feindlich gegenüber. Tatsächlich kam Vidal niemals einem Verständnis nahe, das den Klassenkampf als Motor der Weltgeschichte begreift.

Obwohl er Sympathie für einfache Menschen empfand, betrachtete er sie wesentlich als passive Masse, die mittels Werbesendungen im TV oder politischer Fertigkeiten manipulierbar sei.

Fast alles, was einer Volksbewegung ähnelte, ließ ihn einfach unberührt und eignete sich nicht als Material für einen ernst zunehmenden Kommentar seinerseits. Diese Haltung kann auch als Wurzel für einige Grenzen seiner Literatur verstanden werden: Ein mehr abgerundeter, volksnäherer, tiefer gehender Blick auf das amerikanische Leben kam bei ihm nur selten zum Vorschein. Dies hinderte ihn daran, ein ästhetisch befriedigendes und emotional stärkeres Werk zu erschaffen, selbst im Vergleich mit einigen seiner Zeitgenossen.