Der Angriff auf die Kultur und die Krise des amerikanischen Kapitalismus
Von Dave Walsh
6. Oktober 2010
Der Streik der Mitglieder des Detroit Symphony Orchestra (DSO), der am Montag begonnen hat, ist ein politisch und gesellschaftlich bedeutsames Ereignis. Die Musiker traten gegen Forderungen des Managements in den Streik, die eine massive Senkung ihres Lebensstandards bedeuten würden. Die Forderungen des Managements lauten: Senkung des Grundlohns um 33 Prozent, 42 Prozent weniger für Neueingestellte, eine massiv verschlechterte Krankenversicherung und das Einfrieren der Renten.
Außerdem verlangt das Orchester, dass die Musiker zahlreiche nicht-musikalische Pflichten übernehmen, wodurch sie, wie ein Sprecher der Musiker sagte, zu „Bediensteten“ würden.
Das Detroiter Symphonieorchester hat eine lange und glanzvolle Geschichte, die bis ins Jahr 1914 zurückreicht, und es zählt zu den besten Orchestern in den USA. Die anhaltende Wirtschaftskrise hat verheerende Auswirkungen auf den Bundesstat Michigan und die Stadt Detroit. Das Orchester hat mit einem Defizit von neun Millionen Dollar zu kämpfen, weil der Verkauf von Eintrittskarten und auch private Spenden zurückgegangen sind. Der New York Times zufolge „leihen Banken [dem DSO] kein Geld mehr… und es greift schon sein Stiftungskapital an, um den Spielbetrieb zu finanzieren.“
Die Krise des DSO ist Teil eines nationalen Phänomens. Die Mittel für Kunstgruppen und Kunstausbildung werden von den Regierungsstellen in den USA auf allen Ebenen gnadenlos zusammengestrichen, während Wohlhabende und Firmen ebenfalls ihre privaten Geldspenden reduzieren. In Phoenix, Houston, Cincinnati, Seattle, Indianapolis, Milwaukee, Baltimore, Atlanta, Virginia, North Carolina, Utah und weiteren Städten und Staaten wurden schon Lohnkürzungen an Symphonieorchestern durchgesetzt.
Ein Drittel der Museumsdirektoren in den USA musste schon bis Oktober 2009 Gehaltskürzungen hinnehmen, ebenso Tausende Beschäftigte in den Museen.
Die Kunst- und Kulturbehörden in 31 Bundesstaaten erwarten, dass für 2011 weniger finanzielle Mittel zur Verfügung stehen werden. Die Mittelzuweisungen für Kultur auf Ebene der Bundesstaaten sind in den letzten zehn Jahren um 34,7 Prozent zurückgegangen. Unter Berücksichtigung der Inflation beträgt der Rückgang im letzten Jahrzehnt sogar knapp über 45 Prozent.
Die gesamten Bundesmittel für ca. 100.000 gemeinnützige Künstlergruppen im Haushaltsjahr 2009 – die über die Nationale Kunststiftung (NEA) vergeben werden – beliefen sich auf 155 Millionen Dollar (die Ausgaben für ein oder zwei Tage Afghanistankrieg). 1978 betrug das Budget der NEA 123 Millionen Dollar, oder 416 Millionen Dollar nach heutiger Kaufkraft.
Der niedergehende amerikanische Kapitalismus hat weder Interesse an, noch Geld für künstlerisches Schaffen. Zu Zeiten wirtschaftlicher Blüte sah die Wirtschaftselite noch ein gewisses Prestige darin, sich mit der Unterstützung zahlreicher Bildungs- und Kultureinrichtungen zu schmücken. Heute betrachtet die Aristokratie, die in den USA regiert, jeden Dollar, der nicht auf ihre Konten fließt, als Verschwendung und sogar als Affront. Das kulturelle Leben Amerikas wird in höchstem Maße von den Vandalen in den Unternehmensvorständen und Parlamentskammern bedroht.
Die Behauptung, dass „ es kein Geld mehr gibt“ (Detroit News), um ein Orchester – oder eine Bücherei, oder auch nur eine staatliche Schule – in Detroit oder sonst wo in Amerika zu finanzieren, ist grotesk. Die Finanzmärkte und die Tresore der Wirtschaftsunternehmen fassen die Billionen fast nicht mehr. Die Detroit News argumentiert: „Für weniger Geld mehr zu arbeiten ist schwer zu akzeptieren. Aber genau das musste die Gemeinschaft, die das DSO unterstützt, im letzten Jahrzehnt tun.“
Welche Gemeinschaft? Die Superreichen in Michigan (und in den gesamten USA) sind reicher denn je. Bloomfield Hills nördlich von Detroit, mit etwas über 1000 Einwohnern, steht auf Platz vier der Orte in Amerika mit dem höchsten Einkommen. Das durchschnittliche Einkommen von Haushalten in Michigan ist dagegen in den letzten zehn Jahren um 21 Prozent gesunken, und die offizielle Armutsquote in Detroit ist sogar auf 36 Prozent gestiegen.
2006 führte die Forbes Liste acht Milliardäre in Michigan mit einem Vermögen von 16,5 Milliarden Dollar. Dieses Jahr benennt das Magazin zehn Milliardäre mit einem Vermögen von 21 Mrd. Dollar (eine Zunahme um 22 Prozent).
Der pseudo-populistische Versuch, die DSO-Musiker und andere Berufsgruppen gegen niedrig bezahlte Arbeiter auszuspielen, sollte mit der Verachtung zurückgewiesen werden, die er verdient. Die Interessen der Letzteren werden von den Medien nur dann entdeckt, wenn es darum geht, die Versuche finanziell ein wenig besser gestellter Teile der Bevölkerung, ihre Errungenschaften und Rechte zu verteidigen, niederzuschlagen.
Die sozial entscheidenden Einkommensunterschiede liegen nicht zwischen denen, die 30.000 und denen, die 130.000 Dollar verdienen, sondern zwischen der gesamten Klasse von Lohnarbeitern und Gehaltsempfängern und den Superreichen, von denen jeder einzelne die Wirtschaft um Millionen plündert und zum Teil, wie im Fall der Wall Street Hedge Fond Manager jedes Jahr Milliarden Dollar zusammenraffen!
Die Regierungen auf allen Ebenen des Staates in den USA haben die Künste nie ausreichend unterstützt oder finanziert. Auf der einen Seite verlangen die philisterhaften Ideologen der „freien Marktwirtschaft“, dass Künstler sich völlig vom Markt abhängig machen, d. h. Werke hervorbringen, die Profit abwerfen. Sie fordern, Künstler dürften nicht von den „Steuerzahlern“ subventioniert werden. Die jämmerlichen Folgen sind in den derzeitigen Angeboten der Film- (Hollywood) und Theater-Profitindustrie (Broadway) zu bewundern.
Auf der anderen Seite wurde von der Wirtschaft und reichen Personen erwartet, die Lücke mit ihren mildtätigen Gaben zu schließen. Den Angaben der NEA zufolge machten 2007 private Spenden 43 Prozent des Einkommens von nicht gewinnorientierten Kultureinrichtungen aus, staatliche Stellen steuerten nur dreizehn Prozent bei.
Diese Abhängigkeit von der Großzügigkeit der Reichen ist in guten Zeiten entwürdigend und intellektuell einschränkend. In Zeiten der Krise droht dadurch eine Katastrophe. Heute kann es von den finanziellen Launen der Superreichen abhängen, ob es an einem gegebenen Ort überhaupt musikalische, künstlerische und Theatereinrichtungen gibt.
Es ist ein sinnloses Unterfangen, Banker und Konzernvorstände, d.h. die Leute, die in Amerika „zählen“, darauf hinzuweisen, dass Kunst zu den Tätigkeiten gehört, die Menschen menschlich macht, indem sie sie schaffen und genießen, dass die Kunst für das Leben und das Wohl einer aufgeklärten und fühlenden Bevölkerung wesentlich ist, und dass künstlerische Kreativität einzuschränken, einen erheblichen zerstörerischen Einfluss auf das Leben derjenigen hat, denen sie vorenthalten wird. Solche Argumente würden auf verständnislose Blicke treffen.
Der Versuch, die Löhne und Sozialleistungen der symphonischen Musiker in Detroit und anderswo drastisch zu senken, der von den wirtschaftsfreundlichen Medien voll und ganz unterstützt wird, ist auch noch in anderer Hinsicht lehrreich. In der Tat befinden sich die Musiker jetzt in der gleichen Lage wie Millionen Autoarbeiter, Lehrer und andere Arbeiter. Sie mögen geglaubt haben, dass sie als „Spezialisten“ dauerhaft vor der Art von Angriffen auf den Lebensstandard und die Arbeitsplätze geschützt seien, die so viele Arbeiter in den USA und überall auf der Welt erlebt haben. Aber die gegenwärtige Entwicklung stellt auch hier die Dinge klar.
In den Augen der herrschenden Elite und ihrer Medien sind die Mitglieder des DSO „Bedienstete“, von denen erwartet wird, dass sie ihre Funktion unter den Bedingungen erfüllen, die das Management ihnen diktiert. Ihr Streik, der von jedem Arbeiter und Studenten voll und ganz unterstützt werden sollte, ist auch ein Teil der wachsenden Widerstandsbewegung der Arbeiterklasse gegen den Versuch, die ganze Last der Wirtschaftskrise auf ihren Schultern abzuladen.
Wie Leo Trotzki vor vielen Jahren erklärte, fällt die Periode, in der Künstler relative Freiheiten und die Unterstützung der Mächtigen genossen, historisch gesehen mit der Periode zusammen, in der „den obersten Schichten der Arbeiterklasse besondere Privilegien“ eingeräumt wurden. Die Zerstörung der Löhne und Sozialleistungen der Autoarbeiter ging zwangsläufig dem Angriff auf die Detroiter Musiker und andere Künstler voraus und erleichterte ihn.
Letztlich ist die Konfrontation beim DSO Ausdruck einer schonungslosen Realität: Das Überleben und die Entwicklung der Künste in den USA ist unvereinbar mit dem Würgegriff, in dem die Wirtschaftsinteressen alle wichtigen Aspekte des Lebens halten. Es existieren bei Weitem ausreichende Mittel, um jede ernsthafte Künstlergruppe in den USA zu finanzieren und jedem Mitglied des Detroiter Orchesters wie auch Unterhaltungsmusikern, Malern, Fotografen, Dichtern und Tänzern ein sicheres wirtschaftliches Auskommen zu ermöglichen. Aber dieser Reichtum wird von einigen Wenigen eifersüchtig monopolisiert.
Der Streik beim DSO ist nicht einfach, und nicht einmal vorrangig, ein gewerkschaftlicher Konflikt. Es ist ein politischer und kultureller Kampf mit gewaltigen Auswirkungen. Die einzige wirkliche Antwort auf die Angriffe auf die Orchestermusiker besteht in einem bewussten Widerstand gegen die Angriffe der Wirtschaftselite, einer Zurückweisung ihrer Argumente und Propaganda, und dem Entstehen einer erklärtermaßen sozialistischen Bewegung unter Arbeitern, Akademikern und Studenten.