Sechs Monate nach dem Erdbeben
Der amerikanische Imperialismus und die Katastrophe in Haiti
Von Patrick Martin
15. Juli 2010
Vor sechs Monaten zerstörte ein Erdbeben große Teile von Haiti. Diesen Montag mussten die Medien zugeben, dass der Wiederaufbau des zerstörten Landes und der Bau neuer Unterkünfte für die anderthalb Millionen Obdachlosen praktisch keinen Fortschritt gemacht haben. Es war die schwerste Naturkatastrophe des neuen Jahrhunderts.
Die amerikanische Regierung widmete dem Jahrestag nur äußerst oberflächliche Aufmerksamkeit. Obama ging im Rahmen einer kurzen Pressekonferenz nur ganz nebenher auf Haiti ein. Die Konferenz erfolgte während eines Besuchs des Präsidenten der Dominikanischen Republik, die sich die Insel Hispaniola mit Haiti teilt.
Obama hat Haiti seit dem Erdbeben nicht besucht, was seine Gleichgültigkeit gegenüber der riesigen Zahl von Todesopfern und dem andauernden Leid der Bevölkerung unterstreicht. Er könnte das Land jederzeit mit einem kurzen Flug in der Präsidentenmaschine erreichen. Haiti liegt näher bei Washington als so manche Spendengala, die der Präsident im ganzen Land herum besucht.
Unmittelbar nach dem Erdbeben mobilisierte die Obama-Regierung 12.000 Soldaten und Matrosen und besetzte Schlüsselpositionen in der Hauptstadt Port-au-Prince. Dieser militärische Einsatz wurde beendet, sobald Washington darauf vertrauen konnte, dass es zu keinem Volksaufstand gegen seinen Marionettenpräsidenten René Préval und die winzige Elite von haitianischen Multimillionären kommen würde.
Bezeichnenderweise hat die letzte größere US-Kampfeinheit Haiti am 1. Juni verlassen, dem offiziellen Beginn der atlantischen Hurrikan-Saison. Die 1,5 Millionen Menschen, die immer noch in Zelten hausen, sind sich selbst überlassen, wie auch die Millionen Menschen in Hütten, die so baufällig sind, dass sie einem Hurrikan niemals widerstehen könnten.
Ein erfahrener Mitarbeiter einer Hilfsorganisation wies darauf hin, dass das schwere Gerät, das vom amerikanischen Militär ins Land gebracht wurde, unbenutzt wieder abgezogen wurde, obwohl Port-au-Prince heute noch aus riesigen Bergen von zertrümmertem Beton besteht. Das Gerät war ausschließlich dazu eingesetzt worden, den Flughafen und den Hafen frei zu schaffen. Die Beseitigung von Trümmern mit Schubkarren und Körben ist jetzt die Hauptbeschäftigung der Menschen, die durch die Katastrophe obdachlos und beschäftigungslos gewordenen sind.
Die World Socialist Web Site erklärt, dass die Ereignisse in Haiti nicht nur eine Naturkatastrophe, sondern auch eine gesellschaftliche Katastrophe waren. Schon lange vor dem Erdbeben war Haiti das ärmste Land der westlichen Hemisphäre. Es hatte das geringste Pro-Kopf-Einkommen, die niedrigste Lebenserwartung, die höchste Analphabetenquote und die schlechtesten Aussichten für die Zukunft seiner Kinder. Diese Armut war keine Folge der "Natur", sondern der langen Geschichte kolonialer und halbkolonialer Ausbeutung.
Haiti ist von der Natur mit einem tropischen Klima und fruchtbarem Boden ausgestattet. Als die Sklavenbevölkerung revoltierte und die französischen Sklavenbesitzer in einer großen Revolution vertrieb, wodurch sie 1803 die Unabhängigkeit erlangte, war Haiti im Verhältnis zur Einwohnerzahl ebenso produktiv wie die Vereinigten Staaten. Aber die Bevölkerung Haitis litt zweihundert Jahre lang unter ausländischer wirtschaftlicher Vorherrschaft und der Misswirtschaft der eigenen räuberischen und brutalen Elite, die besonders im vergangenen Jahrhundert ökonomisch und politisch eng mit Washington verbunden war.
In den letzten einhundert Jahren haben die Vereinigten Staaten fünfmal militärisch in Haiti interveniert und das Land insgesamt fast 25 Jahre lang direkt besetzt gehalten: 1914, 1915 bis 1934, 1994-95, 2004 und 2010. Nach der langen Besetzung von 1915 bis 1934 ging die Macht auf eine von den USA ausgebildete Militärclique über, die ihre Waffen gegen die haitianische Bevölkerung richtete und zur Hauptstütze der Familiendiktatur der Duvaliers wurde. Diese Familie regierte dreißig Jahre lang auf barbarische Weise.
In den 23 Jahren seit dem Zusammenbruch des Duvalier-Regimes gab es mehrere Interventionen der USA mit dem Ziel, Regierungswechsel herbeizuführen und die Wirtschaftspolitik im Interesse amerikanischer Unternehmensinteressen zu diktieren. Gleichzeitig zerstörte sie die Landwirtschaft und das produzierende Gewerbe des Landes. Mit der möglichen Ausnahme des Iraks und Afghanistans ist kein Land der Welt so sehr Opfer von Washingtons Aggression, Subversion und wirtschaftlicher Beherrschung geworden wie Haiti.
Das heutige so genannte Wiederaufbauprojekt der Vereinten Nationen ist von eben denselben Beziehungen geprägt. Die Kommission, die im März gebildet wurde, um die Verwendung der 5,3 Milliarden Dollar für den Wiederaufbau Haitis zugesagten Hilfsgelder zu kontrollieren, wird gemeinsam vom Premierminister Haitis, Jean-Max Bellerive, und dem amerikanischen Ex-Präsidenten Bill Clinton geleitet. Die wirkliche Macht liegt beim amerikanischen Vertreter und der Obama-Regierung.
Washington bestimmt, wo es bei der Verwendung der Hilfsgelder lang geht; daran ändert auch das haitianische Feigenblatt nichts. Die Kommission traf sich erst am 17. Juni zum ersten Mal, mehr als fünf Monate nach dem Erdbeben, und das nur, um angesichts der heraufziehenden Hurrikan Saison 31 Millionen Dollar für den Bau von Schutzräumen für einen winzigen Teil der Bevölkerung zu bewilligen.
Ex-Präsident Clinton hat wiederholt sein Bestreben bekräftigt, private Investitionen in Haiti zu ermutigen. Zu dem Zweck setzt er sich systematisch für eine Politik ein, die die Profite der Banken und Konzerne der Vereinigten Staaten und anderer imperialistischer Mächte sicherstellt.
In einer Meinungskolumne in der New York Times von diesem Wochenende erklärte Clinton gemeinsam mit Premierminister Bellerive: "Es gibt zahlreiche Möglichkeiten für ertragreiche, längerfristige Investitionen in der Landwirtschaft, der Bauindustrie, dem Tourismus, der Verarbeitung, den Dienstleistungen und sauberer Energie, vor allem der Solarindustrie."
Der Wiederaufbau dieses unterdrückten und leidenden Landes ist eine dringliche humanitäre Aufgabe, aber der amerikanische Imperialismus hat der Bevölkerung von Haiti absolut nichts zu bieten. Die amerikanische und die internationale Arbeiterklasse müssen an der Seite der Arbeiterklasse von Haiti die Führung in diesem Kampf übernehmen.
Die internationale Arbeiterklasse muss sofort umfangreiche Hilfen für die Bevölkerung von Haiti verlangen. Es müssen Baumaschinen und Baufachkräfte geschickt werden. Dringende medizinische und technische Hilfe ist ebenfalls nötig. Diese Mittel werden nicht von den imperialistischen Mächten bereitgestellt, und die halbkriminelle herrschende Elite Haitis wäre unfähig, sie sinnvoll zu nutzen.
Der Wiederaufbau Haitis erfordert die Mobilisierung der internationalen Arbeiterklasse für ein sozialistisches Programm, das die Arbeiter Haitis mit ihren Klassenbrüdern- und schwestern in der ganzen Karibik und der ganzen Hemisphäre und vor allem mit der der Vereinigten Staaten vereint.