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Gutachten stellt Kindergeld in Frage

Von Sybille Fuchs
16. Februar 2013

Anfang Februar ließen Regierungsstellen ein Gutachten an die Presse durchsickern, das staatliche Ausgaben für Familien im Umfang von 200 Milliarden Euro als weitgehend wirkungslos, ineffizient oder kontraproduktiv bezeichnet.

Das Gutachten war vom Familien- und vom Finanzministerium in Auftrag gegeben worden. Wie in solchen Fällen üblich, distanzierten sich beide umgehend davon. Das Gutachten, das einer Gesamtevaluation aller 156 familienbezogenen Leistungen dienen solle, sei noch nicht fertig, verlautete aus dem Familienministerium von Kristina Schröder (CDU), und es sei nicht sicher, ob es noch in dieser Legislaturperiode veröffentlicht werde.

Tatsächlich wurde die Studie an die Presse weitergegeben, um rechtzeitig vor der Bundestagswahl im September eine Diskussion über die Kürzung von Leistungen anzustoßen, von denen Millionen Familien abhängig sind, und um die Reaktion darauf zu testen. Den Hartz-Reformen der Regierung Schröder, die viele Familien dauerhaft in Armut stießen, waren ähnliche Debatten vorausgegangen.

Zu den Familienleistungen des Staates, die in dem Gutachten angeprangert werden, gehören das Kindergeld, die beitragsfreie Mitversicherung von Familienmitgliedern in der Krankenkasse, das Elterngeld, die Witwen- und Waisenrente, Rentenleistungen für die Kindererziehung, Wohnraum- und Bildungsförderung und die steuerliche Begünstigung von Ehepartnern, das sogenannte Ehegattensplitting.

Als Kriterium für die Wirksamkeit oder Unwirksamkeit der einzelnen Leistungen dient den Gutachtern nicht das Wohlergehen der Betroffenen – der Kinder, Familien und Rentner –, sondern ihre Auswirkung auf die Geburtenrate und ihr volkswirtschaftlicher Nutzen. Die Leistungen werden nach rein ökonomischen und nicht nach humanen Kriterien beurteilt.

Schon die angegebene Zahl von 200 Milliarden an Familienausgaben ist stark übertrieben. 50 Prozent dessen, was da ausgegeben wird, zahlen die Familien über Steuern und Sozialbeiträge selber, wie vor Jahren die damalige Familienministerin Ursula von der Leyen zugeben musste.

Hauptzielscheibe des Gutachtens ist das Kindergeld, das mit jährlich 40 Milliarden Euro den größten Anteil an den familienpolitischen Ausgaben ausmacht. Das Kindergeld ist eine der wenigen staatlichen Leistungen, die ohne Vorbedingung in gleicher Höhe an alle ausbezahlt werden. Für das erste und das zweite Kind erhalten die Erziehungsberechtigten jeweils 184 Euro im Monat, für das dritte Kind 190 Euro und für das vierte und jedes weitere Kind 215 Euro.

Lediglich Familien mit hohem Einkommen können über einen Kinderfreibetrag eine höhere Summe von der Steuer abziehen, während den ganz armen, von Sozialleistungen lebenden Familien das Kindergeld mit den anderen Sozialleistungen verrechnet wird.

Vor diesem Hintergrund ist es geradezu zynisch, wenn das Gutachten das Kindergeld als „wenig effektiv“ bezeichnet, weil es weder die Geburtenrate erheblich beeinflusse noch Kinderarmut verhindere. Da ausgerechnet die ärmsten, von Sozialleistungen abhängigen Familien kein volles Kindergeld bekommen, kann es die Kinderarmut nicht verhindern.

Die beitragsfreie Mitversicherung von Ehepartnern und Kindern bei den gesetzlichen Krankenkassen bezeichnen die Gutachter als „besonders unwirksam“. Gerade von dieser Leistung profitieren ärmere und Durchschnittsfamilien ganz besonders, insbesondere wenn sie mehr als ein oder zwei Kinder haben und sich ein Ehepartner entschlossen hat, wenig oder gar nicht berufstätig zu sein.

Vor allem Arbeiterfamilien profitieren von dieser Leistung, während Wohlhabende in der Regel privat versichert sind. Dass dem Staat dadurch 27 Milliarden Euro und allein für die Ehepartner elf Milliarden Euro entgehen, ist für die Gutachter nicht hinnehmbar. Verheiratete Frauen würden so davon abgehalten, eine sozialversicherungspflichtige Arbeit aufzunehmen, und bezahlten daher auch keine Steuern und Sozialversicherungsbeiträge.

Das Gutachten vermischt die Leistungen, von denen vor allem ärmere Familien abhängig sind, mit Steuervergünstigungen, die vorwiegend Familien oder Paaren mit hohem Einkommen zugute kommen, sowie mit Leistungen, die – wie auch das erst kürzlich von der CSU durchgesetzte Betreuungsgeld – das Ergebnis eines sehr konservativen kirchenpolitischen Familienbilds sind. Auf diese Weise versuchen sie, den Klassencharakter ihres Angriffs auf die Familienleistungen zu vertuschen.

So stuft das Gutachten das Ehegattensplitting, das den Staat jährlich rund 20 Milliarden Euro kostet, als „ziemlich unwirksam“ ein. Von diesem Steuervorteil profitieren vor allem wohlhabende Ehepaare, in denen der eine Partner deutlich mehr verdient und der andere nicht oder nur wenig arbeitet. Die Einkommen des Paares werden addiert, dann halbiert und besteuert, was dem Mehrverdiener einen geringeren Steuersatz beschert.

Dass Kinder in diesem Steuermodell keine Rolle spielen und nicht verheiratete Paare außen vor bleiben, ist ein Beispiel für die soziale Ungleichheit im Steuerrecht. Zudem gibt es kaum noch Arbeiterfamilien, bei denen die Ehefrau nicht mitarbeiten muss, um den Lebensunterhalt zu sichern. Da ein Minijob dafür meist auch nicht mehr ausreicht, tendiert für sie der Steuervorteil gegen Null.

Auch das von der Großen Koalition eingeführte Elterngeld, das Müttern und Vätern bis zu vierzehn Monate lang nach der Geburt eines Kindes gewährt wird, wenn sie während dieser Zeit nicht arbeiten, kommt vor allem Besserverdienenden zugute. Es trat 2007 an die Stelle des 300 Euro im Monat betragenden Erziehungsgeldes, das vorwiegend einkommensschwachen Familien half und 24 Monate lang gezahlt wurde. Die Höhe des Elterngelds bemisst sich dagegen nach dem letzten Einkommen. Hartz-IV-Empfänger haben überhaupt kein Anrecht darauf. Es dient also eher der sozialen Auslese als der Familienförderung.

Das Gutachten gelangt zum Schluss, das Elterngeld habe nicht zur erhofften Steigerung der Geburtenrate geführt. Da seine Höhe vom vorherigen Einkommen abhänge, schöben Eltern den Zeitpunkt der Geburt des ersten Kindes hinaus, bis sie ein gutes Einkommen hätten.

Die gegenwärtige Familienpolitik ist alles andere als gut. Sie ermöglicht der großen Mehrheit der Familien mit Kindern kein sorgenfreies Leben. Die jährlichen Armutsberichte weisen nach, dass Millionen Kinder und ihre Familien in Armut leben. Viele Frauen gingen gerne einer Erwerbsarbeit nach, finden aber weder eine vernünftige Betreuung für ihre Kinder noch einen anständig bezahlten Arbeitsplatz. Kinder aus ärmeren Familien haben im selektiven deutschen Schulsystem kaum Bildungschancen.

Aber weder der Regierung noch der Opposition geht es darum, hier Abhilfe zu schaffen. Vor allem die Oppositionsparteien SPD, Grüne und Die Linke haben sich auf das Gutachten gestürzt, um eine massive Umstrukturierung der Familienpolitik zu fordern. Sie halten es für notwendig, die verschiedenartigen staatlichen Leistungen zusammenzufassen und auf eine „neue Grundlage“ zu stellen.

So fordert der Kanzlerkandidat der SPD, Peer Steinbrück, auf Spiegel online „eine Umstellung der Familienpolitik“. In Zukunft könne es nicht darum gehen, „an einzelnen Instrumenten herumzustricken“, meint er. Offensichtlich schwebt ihm etwas vor wie die sogenannten „Arbeitsmarktreformen“ der Regierung Schröder, durch die viele Familien dauerhaft in Armut gestoßen wurden.

Das Gutachten zielt darauf ab, die Familienleistungen nach dem Muster der Hartz-Reformen neu zu strukturieren. Auch diesen „Reformen“, die einen gewaltigen Niedriglohnsektor hervorbrachten und die soziale Ungleichheit verschärften, war eine Kampagne vorausgegangen, die die bisherigen staatlichen Leistungen – Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe – als „ineffektiv“ bezeichnete.

Jetzt dient die angeblich „ineffektive“ Familienpolitik als Vorwand, um Familien von Arbeitslosen und Arbeitern soziale Leistungen zu streichen.

Mütter aus armen Familien, für die sich die Aufnahme einer Arbeit wegen der schlechten Bezahlung bisher nicht lohnte, sollen in einen Niedriglohnjob gezwungen werden, während die Kinder sich selbst überlassen oder in eine personell und finanziell ungenügend ausgestattete Betreuung gesteckt werden.

In dem Gutachten schneiden Investitionen in Betreuungsplätze in Kindertagesstätten, Krippen und Tagesmütter am besten ab. Begründet wird dies damit, dass dem Staat Steuern und Einnahmen für die Sozialversicherung entgehen, wenn Mütter nicht arbeiten. Von staatlichen Ausgaben für Kinderbetreuung flössen dagegen bis zu 48 Prozent an den Staat zurück. Bei Ganztagsschulen finanziere sich der Aufwand des Staates sogar zu 66 bis 69 Prozent selbst.

Auf diese ökonomischen Argumente stützt sich die Spitzenkandidatin der Grünen, Katrin Göring-Eckardt, die der Regierung Merkel vorwirft, sie sei „in der Familienpolitik komplett auf dem falschen Dampfer unterwegs“. Das Gutachten mache klar, „dass sich jeder Cent für Kita-Plätze und Ganztagsschulen für die Familien und die Gesellschaft insgesamt auszahlt“.

Eine Analyse der Kindergelderhöhung aus dem Jahr 1996 habe gezeigt, dass Frauen in der Folgezeit weniger gearbeitet hätten, was sich auf ihren Berufsweg und ihr späteres Einkommen ausgewirkt habe, fuhr Göring-Eckardt fort. Dadurch seien dem Staat Steuereinnahmen sowie Einnahmen für die Sozialversicherung entgangen. Ähnlich argumentiert Katja Kipping von der Linkspartei.

Das Gutachten und die durch seine Weitergabe an die Presse ausgelöste Diskussion dienen dazu, umfangreiche Kürzungsmaßnahmen bei den Sozialausgaben für arme und Arbeiterfamilien nach der Bundestagswahl vorzubereiten. Wie schon bei den Hartz-Gesetzen erweisen sich dabei SPD und Grüne als eifrigste Befürworter einer solchen „Reform“ – wobei sie diesmal auch die Unterstützung der Linkspartei haben.

Die niedrige Geburtenrate, über die das Gutachten so zynisch klagt, wird dadurch weiter sinken. Sie ist vor allem der Tatsache geschuldet, dass viele junge Menschen nur schlecht bezahlte und befristete Arbeitsplätze finden und nicht wissen, wie ihre Zukunft aussieht. Andere müssen so hart arbeiten, um ihren Job zu behalten, dass sie lieber auf Kinder verzichten, weil sie befürchten, sich nicht ausreichend um sie kümmern zu können.