Zum Tod von George McGovern:
Ein Liberaler an einem Wendepunkt der amerikanischen Politik
Von Patrick Martin
3. November 2012
Der ehemalige US-Senator George S. McGovern, der am 21. Oktober verstorben ist, spielte eine wichtige Rolle in der Periode der Demokratischen Partei, in der sie sich scharf nach rechts wandte und selbst begrenzte Sozialreformen und Umverteilung von Reichtum aufgab.
McGovern wurde 1972 zum Präsidentschaftskandidaten nominiert. Er errang die Nominierung erst nach längerem Kampf gegen finanziell potentere Gegner, die mehr Unterstützung bei Parteimitgliedern mit hohen Ämtern und bei den Demokraten nahe stehenden Organisationen wie dem AFL-CIO hatten. Er erlitt dann eine schwere Niederlage gegen den republikanischen Amtsinhaber Richard Nixon. Er verlor in 49 Staaten und gewann nur in Massachusetts und dem District of Columbia, dem Gebiet der amerikanischen Hauptstadt.
Seine Rolle in der amerikanischen Politik war jedoch größer als diese knappe Zusammenfassung vermuten lässt. Und sie verkörpert scharfe Gegensätze, die mit der Rolle der Demokratischen Partei verbunden sind, die angeblich die „volksnähere“ der beiden kapitalistischen Parteien ist, durch die die amerikanische Wirtschaftselite ihr politisches Monopol ausübt.
McGovern war der letzte demokratische Präsidentschaftskandidat, der offen und frei heraus den Liberalismus als seinen politischen Standpunkt bekannte. Gleichzeitig war er ein Instrument bei der Neuorientierung der Demokratischen Partei. Diese wandte sich von ihrer bisherigen Anhängerschaft, der Arbeiterklasse, und dem ausdrücklichen Bekenntnis zu wirtschaftlicher Gleichheit ab. Sie begann sich an privilegierteren Schichten des Kleinbürgertums zu orientieren, die einen Aufstieg in der kapitalistischen Gesellschaft auf der Grundlage von Rassen- und sexueller Identitätspolitik anstrebten.
McGovern wurde 1922 in einer traditionell republikanischen Familie in einer Kleinstadt in South Dakota geboren; sein Vater war ein Pastor der Wesleyan Methodists, des konservativsten Zweigs dieser protestantischen Sekte. Er erlebte als Jugendlicher die Große Depression und diente im Zweiten Weltkrieg als Bomberpilot über dem von den Nazis besetzten Europa.
Diese Erfahrungen blieben nicht ohne Folge. McGovern gab die Priesterausbildung auf, womit er in die Fußstapfen seines Vaters getreten wäre, und erwarb schließlich einen Doktortitel in Geschichte an der Northwestern University. Er schrieb seine Dissertation über die „Kriege gegen die Bergarbeiter“ in Colorado von 1912-13, in denen von Rockefeller angeheuerte Schützen und Soldaten Dutzende von streikenden Arbeitern erschossen.
McGovern unterstützte anfangs den Wahlkampf von Henry Wallace, dem Vizepräsidenten in Roosevelts dritter Amtszeit, von 1948 für die Progressive Partei. Er wurde aber von dem von Stalinisten dominierten Milieu abgeschreckt und stimmte schließlich für den demokratischen Präsidenten Harry Truman. 1952 war er zum begeisterten Wahlkämpfer für die Demokraten geworden, unterstützte den Kandidaten Adlai Stevenson. Dann setzte er sich dafür ein, die Demokratische Partei in South Dakota wiederzubeleben. Vier Jahre später war er selbst Kandidat der Demokraten für einen Sitz für South Dakota im Repräsentantenhaus und setzte sich gegen einen republikanischen Amtsinhaber durch.
1960 verlor McGovern den Kampf um den Posten eines Senators gegen den Amtsinhaber Karl Mundt, einen Kommunistenjäger aus der McCarthy-Zeit. Der künftige demokratische Präsident John F. Kennedy ernannte ihn zum Chef des Programms, das später zum Food for Peace-Programm wurde. 1962 kehrte er dann nach einem knappen Sieg im Kampf um einen Senatorposten nach South Dakota zurück.
Als neuer Senator war er einer der ersten, die den Sinn der zunehmenden US-Intervention in Vietnam hinterfragten, allerdings stellte er nie das Recht des amerikanischen Imperialismus in Frage, mit militärischer Gewalt und politischer Subversion die Revolution gegen den Kolonialismus zu unterdrücken und den wachsenden Einfluss der stalinistischen Regimes in der UdSSR und China einzudämmen. Er stimmte für jeden Militäreinsatz, den die demokratischen Regierungen unter Kennedy und Johnson anstrebten.
1968 lehnte McGovern die Aufforderung ab, bei der Wahl zum Präsidentschaftskandidaten der Demokraten gegen Lyndon Johnson anzutreten. Stattdessen konzentrierte er sich auf seine eigene Wiederwahl als Senator in South Dakota bis im Juni Robert F. Kennedy ermordet wurde. Kurz darauf ließ McGovern seinen Namen beim Parteitag der Demokraten bei den Nominierungen eintragen. Unterstützt wurde er dabei von einigen Kennedy-Delegierten, aber das war nur alibihaft. McGovern unterstützte den nominierten Vizepräsidenten Hubert Humphrey, einen Kriegsbefürworter.
Als die Antikriegsbewegung Millionen amerikanischer Jugendlicher radikalisierte und die Mehrheit der Bevölkerung zunehmend gegen den Krieg eingestellt war, nahm McGovern eine eindeutigere Haltung ein, blieb jedoch im Rahmen des kapitalistischen Zweiparteiensystems und der Verteidigung des amerikanischen Imperialismus‘.
Er war in der Lage der echten Wut über die Auswirkungen des Krieges, vor allem auf amerikanische Soldaten, Ausdruck zu geben. In einer Debatte im Senat im September 1970 brachte er gemeinsam mit dem Republikaner Mark Hatfield einen Gesetzentwurf ein, um die Finanzierung des Krieges einzustellen. Damals sprach McGovern in einer Weise, die in der heutigen bürgerlichen Politik undenkbar wäre. Seine Bemerkungen sind es wert, zitiert zu werden, wenn auch nur, um zu zeigen, wie weit sich das ganze Spektrum des Zweiparteiensystem in den letzten 40 Jahren nach rechts verlagert hat. Er sagte im Senat:
„Jeder Senator in dieser Kammer ist mitverantwortlich dafür, dass 50.000 junge Amerikaner in einen frühen Tod geschickt wurden. Diese Kammer riecht nach Blut. Jeder Senator in dieser Kammer ist mitverantwortlich für das menschliche Leid im Walter Reed-Militärkrankenhaus, im Bethesda-Marinekrankenhaus und überall im Land – junge Männer ohne Beine, ohne Arme, ohne Genitalien, ohne Gesichter, ohne Hoffnung. Unter diesen versehrten und gebrochenen Jungen ist kaum einer, der diesen Krieg für ein ruhmreiches Abenteuer hält. Erzählen Sie ihnen nichts von ‚Nerven behalten‘, von der Ehre der Nation oder von Mut. Es erfordert von einem Kongressabgeordneten, einem Senator oder einem Präsidenten keinen Mut, sich in eine Flagge zu hüllen und zu sagen, wir bleiben in Vietnam, denn es ist nicht unser Blut, das vergossen wird. Aber wir sind verantwortlich für diese jungen Männer, für ihr Leben und ihre Hoffnungen. Und wenn wir diesen verabscheuenswerten Krieg nicht beenden, werden diese jungen Männer uns eines Tages für unsere erbärmliche Bereitschaft verfluchen, es der Exekutive zu überlassen, die Last zu schultern, die die Verfassung uns zu tragen aufgibt.“
Sollte heute ein Mitglied des US-Senates oder des Repräsentantenhauses so reden – was unwahrscheinlich ist – würde er oder sie ausgeschlossen, von den Medien verteufelt und sofort aus der Politik vertrieben werden – und vielleicht auch noch verhaftet und von der Polizei misshandelt.
Im Jahr 1972 war die herrschende Elite selbst tief zerstritten über den Vietnamkrieg. Gleichzeitig war McGoverns Wahlkampf für die demokratische Präsidentschaftsnominierung wichtig für den Fortbestand des von der Wirtschaft kontrollierten Zweiparteiensystems angesichts der Tatsache, dass die Massen den Krieg zunehmend ablehnten. Er galt als Sicherheitsventil, das jede politische Massenbewegung links von den Demokraten verhindern sollte.
McGovern war zwar gegen die Fortführung des Krieges und sprach teilweise auf sehr leidenschaftliche Weise, aber ansonsten war sein Wahlkampf konventionell und sogar nach den Standards der bürgerlichen Politik von damals sehr gemäßigt.
Der Senator aus South Dakota war seit William Jennings Bryan zwei Generationen davor der erste Kandidat der Demokraten, der aus einer Agrarregion stammte. McGovern kam aus einem gewerkschaftsfeindlichen Staat und hatte keinen Kontakt zu städtischen Arbeitern oder der Arbeiterbewegung, und das zu einer Zeit, in der die Gewerkschaften noch den Großteil der Arbeiterklasse repräsentierten.
Der AFL-CIO hatte unter der Führung der rechten, antikommunistischen Bürokratie als Präsidentschaftskandidaten Senator Henry Jackson, einen hartgesottenen Verteidiger des Vietnamkrieges, oder den ehemaligen Vizepräsidenten Hubert Humphrey unterstützt. Gleichzeitig gab es in der Arbeiterklasse zunehmend Befürworter eines Bruchs mit den Demokraten und des Aufbaus einer Arbeiterpartei auf Grundlage der Gewerkschaften, Gleichzeitig kam es zu militanten Streiks gegen Nixons Lohnkontrollen, die Beschleunigung des Arbeitstempos und die Versuche der Konzerne, die Errungenschaften früherer Jahrzehnte rückgängig zu machen.
Nachdem McGovern nominiert war, beschloss der AFL-CIO, ihn nicht gegen Nixon zu unterstützen. Statt eine Arbeiterpartei aufzubauen, unterstützten große Teile der Gewerkschaftsbürokratie stillschweigend den republikanischen Kandidaten, der im August 1971 Lohnkontrollen eingeführt hatte.
McGovern und die gesamte Demokratischen Partei stürzten in eine Krise, nachdem er auf dem Parteitag nominiert worden war. Sein Vizepräsidentschaftskandidat Senator Thomas Eagleton aus Missouri war gezwungen zurückzutreten, nachdem bekannt wurde, dass er sich wegen Depressionen einer Elektroschock-Therapie unterzogen hatte.
McGovern verteidigte Eagleton zunächst, dann zwang er ihn zum Rücktritt und ernannte den ehemaligen Direktor des Peace Corps Sargent Shriver als Ersatz. Aber zu diesem Zeitpunkt waren die Wahlchancen McGoverns bereits dahin.
McGoverns Sieg im Kampf um die Nominierung hatte jedoch eine längerfristige Bedeutung. Nach einem von Auseinandersetzungen geprägten Parteitag in Chicago etablierten die Demokraten 1968 eine Kommission unter seiner Führung, um den Nominierungsprozess kritisch zu überprüfen.
Angeblich um die Partei demokratischer zu machen, setzte die Kommission Quoten für Minderheiten und Geschlechter bei den Delegierten fest und beschloss die Forderung, dass die meisten Delegierten durch Vorwahlen zu wählen seien, was bis dahin eine Seltenheit war (Humphrey hatte die Nominierung 1968 ohne eine einzige Vorwahl gewonnen).
Diese Wende der Demokratischen Partei zur Identitätspolitik war auch eine Wegwendung von der bisherigen Massenbasis unter den Arbeitern und Teilen der Mittelschicht hin zu einer deutlicheren Orientierung auf die Mittelschicht. Die Demokraten waren zwar immer eine kapitalistische Partei, konnten jedoch trotzdem eine große Anhängerschaft in den Arbeitervierteln der großen Städte und enge Beziehungen zu den Gewerkschaften aufbauen. In den 1950er Jahren waren fast 40 Prozent der Arbeiterklasse in Gewerkschaften organisiert. Und noch in den 1970ern war ein Großteil der Industriearbeiter, vor allem in der Auto-, und Stahlindustrie, den Speditionsunternehmen und in den Fleischpackereien, dem Baugewerbe und im Bergbau in Gewerkschaften organisiert.
Indem die Demokraten Geschlechts- und Rassenidentität propagierten, orientierten sie sich an einer aufstrebenden schwarzen Elite, an Frauen als Unternehmerinnen und Selbständigen, nicht jedoch an den Massen schwarzer Arbeiter, deren Lebensbedingungen immer noch schrecklich waren.
Die rechten Auswirkungen dieser Wende zeigten sich weniger in McGoverns eigener Entwicklung als an der derjenigen, die während seines Wahlkampfs erstmals zu politischer Prominenz kamen.
Sein Wahlkampfmanager Gary Hart wurde US-Senator und 1984 Präsidentschaftskandidat. Er wandte sich gegen den eher traditionellen Liberalismus eines Walter Mondale. Sein Wahlkampforganisator in Texas, Bill Clinton, damals 26 Jahre alt, wurde zum Mitbegründer der Neuen Demokratischen Koalition und gewann 1992 die Präsidentschaftswahl, indem er die Politik der Sozialreformen des New Deal und die begrenzte Umverteilung von Reichtum verwarf, die bisher der Demokratischen Partei zugeschrieben wurde.
Letztlich zeigt dieser Prozess, welche Rolle die beiden bürgerlichen Parteien in der Klassengesellschaft der Vereinigten Staaten spielen. Sie arbeiten zusammen, um die arbeitende Bevölkerung daran zu hindern, eine unabhängige politische Rolle zu spielen. Beide Parteien haben eine gut ausgearbeitete Arbeitsteilung entwickelt. Die Demokratische Partei muss jede Bedrohung von unten auffangen und auflösen, während die Republikanische Partei die Richtung bestimmt und das offizielle politische System weiter nach rechts treibt.
McGovern selbst hielt sich an diese politischen Gepflogenheiten, auch lange nachdem er persönlich keine wichtige Rolle mehr spielte. Er unterstützte im Jahr 2008 zunächst Hillary Clinton, danach Barack Obama.