Großes Interesse in Wien an der Arbeit des Historikers Alexander Rabinowitch
Von unserem Korrespondenten
14. Juni 2011
Über 180 Besucher kamen am 6. Juni 2011 abends in die Aula am Campus der Universität Wien, um den amerikanischen Historiker Prof. Alexander Rabinowitch über seine Forschungsarbeit zur Oktoberrevolution 1917 in Russland und den ersten Monaten der Sowjetmacht sprechen zu hören.
Eingeladen hatten das Institut für Zeitgeschichte und die Historisch-Kulturwissenschaftliche Fakultät der Universität Wien, Anlass war die Herausgabe des Buches „Die Sowjetmacht – Das erste Jahr“ von Alexander Rabinowitch in deutscher Sprache durch den Mehring Verlag.
Bereits in den zwei Wochen zuvor war in den Diskussionen an den Informationsständen des Verlages und der ISSE (International Students for Social Equality) vor der Universität deutlich geworden, dass unter Studenten, jungen Arbeitern und auch älteren Bewohnern Wiens ein großes Interesse an dem Verlauf der Oktoberrevolution und ihrem Schicksal in den darauffolgenden Jahren besteht. Nun mussten zahlreiche Gäste stehen oder auf den Fensterbänken Platz nehmen, aber trotz drückender Sommerschwüle harrten sie aus, um dem Vortrag und der anschließenden Podiumsdiskussion zwischen Rabinowitch und dem Wiener Dozenten Finbarr McLoughlin zu folgen und anschließend noch an einer sehr regen, interessanten Diskussion teilzunehmen, zu der auch das Publikum eingeladen war.
Die Veranstaltung wurde von Professor Oliver Rathkolb, dem Leiter des Instituts für Zeitgeschichte an der Universität Wien, eröffnet. Er begrüßte Alexander Rabinowitch als herausragenden Historiker der Russischen Revolution sehr herzlich und stellte auch die anderen Teilnehmer der Podiumsdiskussion vor, Dr. Finbarr McLaughlin, Dozent am Institut für Geschichte, und Wolfgang Weber vom Mehring Verlag.
Alexander Rabinowitch begann seinen Beitrag, indem er schilderte, wie er zum Studium der russischen Revolution gekommen war. Sein Vater Eugene Rabinowitch war nach der Revolution, im August 1918, aus St. Petersburg geflohen und hatte von 1921 bis 1926 an der Berliner Universität bei berühmten Wissenschaftlern wie Albert Einstein und Otto Hahn physikalische Chemie studierte. In Göttingen arbeitete er dann bei James Franck. Nach der Machtergreifung der Nazis verlor er als Jude seine Stellung. Er ging zu Niels Bohr nach Kopenhagen, später nach England. 1938 schließlich ließ er sich mit seiner Familie in Boston (USA) nieder, wo sich jeden Sonntag zum Mittagstisch die an der amerikanischen Ostküste lebenden russischen Emigranten einfanden, um endlose Debatten über die Oktoberrevolution und die gegenwärtige Lage in der Sowjetunion zu führen.
Bei dieser Gelegenheit lernte Alexander Rabinowitch so berühmte Figuren der Zeitgeschichte und des Kulturlebens kennen wie den ehemaligen Ministerpräsidenten der Provisorischen Regierung Alexander Kerenski, den Führer der Menschewiki Isaak Zeretelli, den menschewistischen Historiker und Archivar Boris Nikolajewski oder den Dichter Vladimir Nabokov.
„Das Leben, die Karriere, die Familie – alles war für diese Persönlichkeiten durch die Oktoberrevolution durcheinandergebracht worden,“ führte Rabinowitch aus, „und so war es kein Wunder, dass ich über dieses große Ereignis der Weltgeschichte in diesem Kreis ständig nur die schlimmsten Dinge hörte. Alle waren sich einig darin, dass die Oktoberrevolution ein kaltblütiger Putsch einer Handvoll gewissenloser Fanatiker um Lenin gewesen sei, die keinerlei Unterstützung im Volk gehabt hätten und daher zum Terror greifen hätten müssen, um ihre Herrschaft zu errichten. Das war, bei allen heftigen und endlosen Streitigkeiten, das einende Band der gemeinsamen Überzeugung unter den russischen Emigranten. Natürlich waren dies dann zunächst auch meine Ansichten, als ich das Studium der Geschichte an der Universität von Chicago begann.“
„Auch zu Beginn meiner Dissertation hatte ich meine Sichtweise auf die Oktoberrevolution noch nicht geändert“, fuhr Alexander Rabinowitch fort. Zunächst habe er daran gedacht, eine Biografie Irakli Zeretellis, des georgischen Menschewiken und unversöhnlichen Gegners der Bolschewiki zu schreiben, den er ja in seiner Jugend selbst kennen gelernt habe. Doch dann habe sich sein Interesse immer mehr der Rolle der Bolschewiki im Jahr 1917 zugewandt. „Warum? – Weil ich gelernt hatte, die Fakten zu studieren und sie so objektiv wie möglich zu interpretieren. Das Studium der Quellen, so beschränkt sie Anfang der 1960er Jahre waren, brachte mich schon bald dazu, meine bisherige Sichtweise auf die Revolution von 1917 aufzugeben.“
Rabinowitch beschrieb, wie er in den damals verfügbaren Originaldokumenten – Zeitungen der Bolschewiki und Protokollen des Petersburger Komitees der Bolschewiki – sowohl die herausragende Rolle Lenins und Trotzkis als auch tiefe Differenzen innerhalb der Bolschewistischen Partei entdeckte.
So schrieb er seine Doktorarbeit zur Entwicklung der Bolschewiki zwischen der Februarrevolution und dem Juliaufstand 1917. Sie bildete dann die Grundlage für sein erstes Buch „Prelude to Revolution – The Petrograd Bolsheviks and the July 1917 Uprising“. Darin legte er dar, wie sich die Bolschewiki aus einer kleineren Gruppe, die vornehmlich im Untergrund arbeitete, nach der Februarrevolution in eine Massenpartei verwandelten.
Alexander Rabinowitch: „Diese Partei war tief in den Massen, in den Fabriken, Wohnvierteln und Garnisonen verankert, wies eine sehr große Sensibilität gegenüber den dort herrschenden politischen Meinungen und Tendenzen sowie in der eigenen Organisation eine hohe demokratische Diskussionskultur auf. Nicht die Spur von der sogenannten ,leninistischen Parteikonzeption‘, wonach Lenin stets die korrekte Linie ausgegeben habe, der alle Parteimitglieder gehorsam gefolgt seien!“
Diese „leninistische Parteikonzeption“ sei erst später erfunden und auch in der westlichen Geschichtsschreibung unkritisch als gegeben propagiert worden, habe aber nichts mit der Wirklichkeit im Jahre 1917 zu tun gehabt. Rabinowitch führte als Beleg an, dass Lenin nach dem gescheiterten Juli-Aufstand, der gegen den Willen Lenins stattgefunden hatte, die Parole „Alle Macht den Sowjets“ habe aufgeben wollen. Im September rief er bereits sehr energisch zur Machtergreifung durch die Bolschewiki „ohne weitere Verzögerung“ auf. In beiden Fällen habe er sich innerhalb der Partei, die eng mit den Massen verbunden war und die Stimmung dort richtig einschätzte, nicht durchsetzen können.
Zusammenfassend sagte Rabinowitch: „Man kann die bolschewistische Machteroberung im Oktober 1917 ebenso wenig als erfolgreichen Putsch Lenins bezeichnen, wie man den Juli-Aufstand als erfolglosen Putsch Lenins bezeichnen kann. Obwohl es sich in beiden Fällen nicht um klassische Massenaufstände handelte, zeigen die historischen Quellen eindeutig, dass sie das Ergebnis der weit verbreiteten Enttäuschung der unteren Klassen Petrograds mit dem Ergebnis der Februarrevolution sowie der enormen Anziehungskraft des bolschewistischen Programms auf die Bevölkerung waren. Die energische Führung von Lenin und Trotzki und ihr unnachgiebiges Festhalten an ihrer Politik – sofortige Beendigung des Krieges, Landverteilung an die Bauern, Brot für die Massen – auf der einen Seite, die wachsende, am Ende überwältigende Unterstützung der Massen für diese Politik der Bolschewiki auf der anderen Seite sicherten den Sieg der Oktoberrevolution.“
Prof. Rabinowitch stellte dann die wichtigsten Themen und Thesen seines neuesten, nun auch auf Deutsch veröffentlichten Buches „Die Sowjetmacht – Das erste Jahr“ vor: die Auseinandersetzungen um die Zusammensetzung der revolutionären Regierung, um den demütigenden Friedensvertrag von Brest-Litowsk mit der deutschen imperialistischen Regierung und seine schrecklichen Folgen, die Konflikte um die Konstituierende Versammlung und schließlich den Anfang des Roten Terrors nach den zahlreichen, insbesondere auch von der britischen und französischen Regierung gesteuerten Mordanschlägen und Verschwörungen gegen die Regierung und Partei der Bolschewiki.
„Die Wahrheit zu erforschen bemühen die meisten sich nicht, übernehmen stattdessen die erstbeste herkömmliche Meinung“, zitierte Wolfgang Weber zur Einleitung der Podiumsdiskussion den Urvater der quellenkritischen Geschichtsschreibung, Thukydides von Athen (454 bis ca. 399 v. Chr.).
„Alexander Rabinowitch gehört zu den von Thukydides gerühmten Wenigen, die sich auch dann der Erforschung der Wahrheit verpflichtet fühlen, wenn sie sich dabei – wie er selbst in seinem Vortrag schilderte – gezwungen sehen, mit den Anschauungen ihrer Jugend, ihrer Familie und Freunde zu brechen und über viele Jahre heftigen Angriffen aus der akademischen Welt in Ost und West zu trotzen. Als ab 1991 die Archive in der ehemaligen Sowjetunion geöffnet wurden, haben dort viele Historiker auch aus dem Westen zu den verschiedensten Themen zu arbeiten begonnen. Doch die Wahrheit über die Oktoberrevolution, ihren Verlauf, ihr Programm herauszufinden und alle bisherigen Ansichten dazu kritisch zu überprüfen – kein anderer Historiker hat sich mit so viel Energie, Wahrheitsliebe und ganz offensichtlich auch Freude dieser Aufgabe gewidmet wie Alexander Rabinowitch.“
„Den Mehring Verlag“, fuhr Wolfgang Weber fort, „erfüllt es mit Stolz, die Werke dieses Historikers zu veröffentlichen, mehr noch, er betrachtet es als seine programmatische Aufgabe.“
„Die Niederlagen der Weltrevolution in den 20er und 30er Jahren waren begleitet von zunehmenden ideologischen Angriffen auf die Prinzipien und Ziele der Aufklärung. Der Aufstieg der ‚Frankfurter Schule‘ in Deutschland und ihre systematischen Angriffe auf den Historischen Materialismus haben darin ihre Wurzeln. Der Mehring Verlag hat es sich zur Aufgabe gemacht, zu Beginn und zur Vorbereitung einer neuen Periode weltweiter revolutionärer Klassenkämpfe eine neue Offensive für die Ziele der Aufklärung, allen voran für die Erforschung der historischen Wahrheit über das 20. Jahrhundert zu führen.“
„Diese Offensive ist ein integraler Bestandteil unserer Arbeit“, erklärte Wolfgang Weber, „eine Renaissance marxistischer, das bedeutet heute trotzkistischer Kultur zu schaffen. Im Zentrum der Angriffe auf Wissenschaft, Aufklärung, jedes unabhängige kritische Denken stand die Unterdrückung aller Dokumente zur Geschichte der bolschewistischen Partei und der Oktoberrevolution von 1917 durch die stalinistische Bürokratie, die antikommunistischen Lügen und Fälschungen über ihren Verlauf, ihre Führer und ihre politisches Programm. Schließlich wurde alle ihre marxistischen Führer, ja alle unabhängig und kritisch denkenden Menschen im Zuge der Moskauer Prozesse und des Großen Terrors physisch ausgerottet. Der dadurch verursachte theoretische und politische Niedergang der Arbeiterbewegung und weiter Kreise der Intelligenz in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts weltweit muss und kann jetzt überwunden werden. Die Rekonstruktion der historischen Wahrheit über die Oktoberrevolution und der ersten Jahre der Sowjetmacht ist dazu ein wichtiger Beitrag.“
Sowohl während der Podiumsdiskussion als auch bei den Fragen und Beiträgen von Zuhörern wurden sehr wichtige und interessante Fragen aufgeworfen, so zum Beispiel nach dem Zusammenhang zwischen der inneren wirtschaftlichen, sozialen und politischen Entwicklung des jungen Sowjetstaates und dem Verlauf der revolutionären Kämpfe außerhalb Russlands in Europa.
Professor Rabinowitch berichtete in diesem Zusammenhang von Ergebnissen seiner jüngsten Forschungsarbeit, die er während der vorangegangenen vier Wochen in den Archiven von St. Petersburg durchgeführt habe. So sei er selbst überrascht gewesen, dass in der Tageszeitung für die Matrosen von Kronstadt zum Beispiel, aber auch in anderen, bisher nicht zugänglichen und ausgewerteten Lokalzeitungen im Jahr 1918 täglich zahlreiche Berichte und Analysen über die Entwicklungen und Kämpfe in Ungarn, in Deutschland, Italien, Frankreich, Polen zu finden sind. Jeder auch noch so kleine Streik, jeder politische Kampf in fernen Ländern wurde aufmerksam verfolgt. Nicht nur Lenin und Trotzki, sondern die einfachen Arbeiter, Soldaten und Matrosen ganz unten waren durchdrungen von der Überzeugung, dass ihr Schicksal von der Entwicklung der Revolution in den anderen Ländern Europas, vor allem in Deutschland abhing. „Das habe ich selbst so nicht erwartet“, betonte Rabinowitch.
Noch viele andere Fragen zum Verlauf des Bürgerkriegs, den konterrevolutionäre Truppen mit Unterstützung Großbritanniens, Frankreichs, der USA und Japans gegen die Sowjetmacht führten, zur Entwicklung der Bolschewistischen Partei und den verheerenden Folgen der blutigen Niederschlagung der Revolution in Deutschland durch die SPD-Regierung wurden erörtert. Viele blieben, um im Anschluss der Veranstaltung bei einem kleinen Buffet im alten Hof der Universität die Diskussion fortzuführen.
Mehrere Teilnehmer kamen am Ende auf Alexander Rabinowitch und Wolfgang Weber zu, um persönlich ihre Begeisterung über die Veranstaltung auszudrücken, dem amerikanischen Historiker für seine Arbeit zur Oktoberrevolution und dem Mehring Verlag für seine Publikationen zu danken. Auch Subskriptionen für das Buch von Alexander Rabinowitch, „Die Revolution der Bolschewiki – Petrograd im Jahr 1917“, das der Mehring Verlag als nächstes herausbringt, wurden gezeichnet.
Bereits am Mittag desselben Tages war Alexander Rabinowitch von der American International High-School (AIS) eingeladen worden, mit Schülern der Abschlussklassen und eines Geschichtskurses über seinen Werdegang als Historiker und sein Werk zu diskutieren. Ungefähr 50 Schüler waren – allein aus Interesse am Thema – zu dieser freiwilligen Veranstaltung gekommen und stellten Rabinowitch in einer frischen und offenen Diskussion interessante und wichtige Fragen. Etliche wollten sich dann sein Buch kaufen und signieren lassen.
Der Besuch des amerikanischen Historikers in Wien wurde am nächsten Tag mit einem Vortrag, einer Lesung aus dem Buch und einer lebhaften Diskussion in „Lhotzkys Literaturbuffet“ abgeschlossen. Dieser Wiener Buchladen im 2. Bezirk Leopoldstadt, dem ehemaligen jüdischen Viertel, fühlt sich ebenfalls der Aufklärung und ihren Zielen verpflichtet und hat durch seine Vorbereitung und Unterstützung sehr viel dazu beitragen, die Veranstaltungen mit Alexander Rabinowitch zum Erfolg werden zu lassen.
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