Leserzuschriften zum Amoklauf in Erfurt
4. Mai 2002
Folgende Zuschriften erreichten die Redaktion zu Ulrich Ripperts Beitrag vom 29. April 2002, Jugendlicher Amokläufer tötet 17 Menschen.
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Egal, was Ihre Redaktion veröffentlicht... die Beiträge würde ich alle als "Note 1 mit Stern-fähig" bezeichnen. Besonders spricht mir die offene und ehrliche Anklage aus dem Herzen, wenn Sie dem pastoralen Geschwätz ein Ende bereiten wollen und auf die tatsächlichen Hintergründe analytisch eingehen.
Eine Lösung weiß ich im Moment zwar auch nicht, aber der analytische Ansatz stimmt. Mein Sohn (9 Jahre) wurde neulich in der 3. Klasse "maffiaartig" zusammengeschlagen. Einer hielt ihn fest, der zweite schlug ihn in den Bauch...dann ließ man ihn los... als er sich wehrte und wegrannte, stellte man ihm ein Bein und er flog auf die Nase. Das sind keine "Schulbubenrangeleien" mehr, das ist nicht die völlig normale Rauferei, die richtige "Jungs" durchleben, auch durchleben sollen. In den Köpfen dieser Kids sind die Helden unserer beschissenen Gewalt-Film-Konsumgesellschaft. Es ist cool, einem Wehrlosen noch Mal eins draufzugeben. UND GENAU HIER, hier ist die Wiege der Gewalt.
Wenn diese Rotzbuben 16 sind, sinds nicht mehr Fäuste, dann ists das Springmesser des Anführers, der die Zigarette wegschnickt und wie der Filmheld auftrumpft, "Na, brauchst Du noch was"? Ich stand wie der Donnergott vor den kleinen Knirpsen und hielt denen eine Predigt, dass das gesamte Lehrerkollegium zusammenlief. Und die reagierten blitzschnell. 1.) 14 Tage jeweils 15 Minuten nachsitzen 2.) Brief an die Eltern und Einladung zu einem Gespräch...und dann ergab sich die cleverste Lösung für "soziales Lernen". Meine Frau managt die Schülermittagsbetreuung und ermöglichte es, dass exakt diese Raufbolde, die eben "Straßenkinder" sind, unter ihre Obhut kommen. Heute sitzen sich die "ehemaligen Feinde" gegenüber und lernen unter Aufsicht "gemeinsam". Sie haben gelernt, dass man sich nicht verprügelt, sondern argumentiert. In dieser "Minizelle" haben wir den Konflikt entschärft. Jetzt müsste man das nur noch auf die Erwachsenenwelt übertragen können -))). Dies nur am Rande....machen Sie weiter so!!! Auch als (...) bekannter Fan Ihrer Beiträge wünsche ich mir, dass wesentlich mehr Leute Ihre Site lesen!!! Ciao
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Hallo Ulrich,
Für deinen Beitrag zum Thema "Massenmord in Erfurt" möchte ich mich bedanken. Er hebt sich sehr positiv von einigen anderen ab, die auf dieser Mailingliste und an anderen Stellen zu diesem Thema zu lesen sind. Er ist zwar lang, aber mir tat die Zeit nicht Leid, ihn von Anfang bis Ende zu lesen. Mir würde es auch schwer fallen, den einen oder anderen Satz zu streichen, wenn ich die Aufgabe hätte, den Artikel etwas zu kürzen. Ja, auch der Täter war ein Opfer, was ihn allerdings von seiner großen Schuld nicht freispricht, denn die Opfer seiner Wut und Verzweiflung waren so wenig "systemtragend" wie er selbst. Und dass die gewaltverherrlichenden Videos und Filme aus dem Land der unbegrenzten Gewalt Teil des Ursachengefüges für seine Tat sind, wird nur noch von wenigen ernst zu nehmenden Menschen bestritten, zu denen leider auch Rüdiger H. zählt, denn er schreibt: "Ich selber fliege gerne F18 Hornet [das mit dem weißen Stern] und ballere auf Missionen in Korea eine MIG [das sind die Bösen mit dem roten Stern] nach der anderen ab. Werde ich nun ein potentieller Kriegsbefürworter?" und bringt die Frage quasi als Beweis dafür an, dass die Theorie nicht stimmt.
Zu Rüdigers Hobby, den virtuellen Himmel für die virtuelle Demokratie virtuell frei zu halten von den bösen Kommunisten, und zu dessen Unbedenklichkeit für seine weitere Entwicklung fällt mir nur ein, dass das, was nicht ist, noch werden kann und daher nicht als Argument gilt, und zum anderen, dass wir alle hin und wieder mal Dinge tun, die nicht weiter schlimm sind, die jedoch nicht unbedingt für die breite Öffentlichkeit von Interesse sind. Dazu zählen eben solche und andere Spiele und Spielchen...
RT
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Guten Tag. [Der Artikel] bringt im Wesentlichen auch meine Gedanken dazu zum Ausdruck. Es ist einfach widerlich, dieses hilflose Geschwätz der Politiker, die eigentlich genau wissen, wo die Ursachen liegen. Ganz sicherlich nicht in den diffamierten Taktik-Spiel Counterstrike. Leider liest man solche Artikel zu wenig. Man hört auch nichts von dem Protest der 1000 Schüler aus Erfurter Gymnasien, die dem thüringischen Kultusministerium schwere Vorwürfe machen, Kritik am Thüringer Bildungssystem nicht mal zur Kenntnis zu nehmen. Doch wer kann der Masse die Augen öffnen? Alle Medien sind in der Hand des Establishments (mal vom Glücksfall Internet abgesehen). Es wird wieder geschehen, und wieder und wieder... Die Antwort wird vielleicht irgendwann ein Polizeistaat mit Orwell'schen Ausmaßen sein. Ein Umdenken ist nicht in Sicht, nicht mit dieser Regierung, diesen s.g. "Volks"parteien oder dem Gesellschaftssystem an sich. Ich möchte um Gottes willen keine DDR-Verhältnisse zurück haben, aber die Gesellschaft muss sich doch weiterentwickeln, oder sollte der Ellenbogen- Kapitalismus die höchste und für alle Zeit festgeschriebene Endform der menschlichen Gesellschaft sein?
Echt trostlos, das Thema...
BT
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Den folgenden Brief haben wir aus dem Englischen übersetzt:
Eine hervorragende Analyse eines wirklich bestürzenden Ereignisses. Der historische Hintergrund zeigte, durch welche gesellschaftliche Versteinerung dieser erbärmliche junge Mann geprägt wurde, dem wahrhaftig "jede Perspektive fehlte". Die Fragstellung, welche Folgen das Fehlen einer Perspektive haben kann, taucht in den etablierten Medien überhaupt nicht auf, weil sie selbst jede solche Perspektive von sich fernhalten.
Die WSWS hat mir die Augen geöffnet, wie wichtig es ist, langfristig zu denken, wenn man solche sozialen Ausbrüche verstehen will. In Wirklichkeit sind sie Bestandteil der reaktionären Entwicklung und der sozialen Verknöcherung und fallen nicht aus deren Rahmen. Sie sind untrennbar mit der Furcht und Verachtung verbunden, die in den Aufbau der deutschen Gesellschaft einfließen. Die vom Kapital bestimmte Politik zeichnet sich durch Profitgier aus, und der Schüler, der sich von einem Meer kalter Gleichgültigkeit umgeben sah, hatte offenbar das Bedürfnis, einige seiner Folterer (seine Lehrer) mit sich zu nehmen, bevor die Wellen über seiner Zukunft zusammenschlugen.
Es war vorhersehbar, dass er sich schwere Waffen besorgen würde. Das ist das Ergebnis dieser Kälte einer Gesellschaft, die sich nicht um Menschen schert, die politisch und ökonomisch schlecht weggekommen sind. Das Vakuum der persönlichen Kompetenz wird mit Waffengewalt aufgefüllt, und so wird der Versuch umgelenkt, die Hindernisse zu zerstören, die den Weg zu jeglichem Glück versperren. Es ist bedrückend, aber dennoch eine willkommene Chance, zu verstehen, was passiert, wenn einem jede Perspektive geraubt wird. Ihr Artikel hat mir eine klare Vorstellung von Problemen vermittelt, die es auch in meinem Land gibt. Ich greife auf Ihre Site zu, um mir ein unverfälschtes Bild von den heutigen und gestrigen Ereignissen zu verschaffen.
Mit freundlichen Grüßen
SC