Massaker an Schule in Erfurt
Jugendlicher Amokläufer tötet 17 Menschen
Von Ulrich Rippert
29. April 2002
Als am vergangenen Freitag das volle Ausmaß der Tragödie bekannt wurde, die sich an einem Gymnasium der Thüringischen Landeshauptstadt Erfurt abgespielt hatte, verfolgten viele Menschen fassungslos die Nachrichten. Ein 19-jähriger Schüler, der vor einigen Monaten von dem Erfurter Gutenberg-Gymnasium verwiesen worden war, tötete 12 Lehrkräfte, eine Sekretärin, eine 14-jährige Schülerin, einen 15-jährigen Schüler und einen Polizisten, bevor er sich selbst erschoss.
In Sondersendungen aller Nachrichtenprogramme wurden die schrecklichen Ereignisse immer wieder geschildert. Vor laufenden Kameras berichteten Schüler, wie der schwarz maskierte und mit einer Pumpgun und einer Pistole bewaffnete Täter von Klassenraum zu Klassenraum ging und gezielt seine ehemaligen Lehrerinnen und Lehrer erschoss. Offenbar wollte der ehemalige Schüler des Gymnasiums ein noch größeres Blutbad anrichten. Darauf deuten weitere 500 Schuss Munition hin, die in der Schule gefunden wurden.
In vielen Städten wurden Kultur- und Sportveranstaltungen am Wochenende abgesagt, auch eine groß angekündigte SPD-Bundesfunktionärskonferenz in der Vorbereitung der Bundestagswahl wurde verschoben. Für den heutigen Montag wurde an allen deutschen Schulen ein "Tag der Trauer und der Besinnung" organisiert, mit dem Ziel "das schreckliche Erfurter Ereignis zu verarbeiten".
Als einer der ersten Politiker gab Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) eine Erklärung ab. Es sei ein "schreckliches, unfassbares Verbrechen", sagte der Kanzler und fügte hinzu, es handele sich um ein "singuläres Ereignis, das alle Vorstellungskraft übertrifft und sich jedem schnellen Erklärungsversuch widersetzt".
Genau das stimmt nicht. Während viele Einzelheiten erst nach und nach bekannt werden, steht bereits jetzt fest, dass die entsetzliche Bluttat vom Freitag keineswegs als ein "singuläres Ereignis" betrachtet werden kann. In immer kürzeren Abständen häufen sich die Gewaltausbrüche, in denen sich die tiefe Frustration und Ausweglosigkeit von jungen Menschen, meist Schülern oder Lehrlingen, in brutaler Weise entlädt.
Erst vor zwei Monaten, am 19. Februar dieses Jahres, tötete ein 22-Jähriger den Direktor einer Berufsschule und verletzte einen Lehrer schwer, bevor er sich selbst erschoss. Vor zwei Jahren erschoss ein sechzehnjähriger Schüler den Schulleiter eines Realschulinternats in Bayern. Anschließend schoss er sich selbst in den Kopf und liegt seitdem im Koma. Im Herbst 1999 drang ein 15 Jahre alter Gymnasiast maskiert in ein Klassenzimmer ein und erstach vor den Augen seiner entsetzten Mitschüler seine 44-jährige Lehrerin mit mehreren Messerstichen. Nur drei Wochen später wurden in Bayern drei Jugendliche festgenommen, nachdem sie Mordpläne gegen ihre Schulleiterin und eine Lehrerin geschmiedet hatten.
Trotz dieser Tatsachen wurden bisher Amokläufe von Schülern als vorwiegend amerikanisches Phänomen betrachtet und oft mit deutlich überheblichem Unterton als Ergebnis "typisch amerikanischer Gewaltverherrlichung" und sträflich leichten Zugangs zu Waffen erklärt. Jetzt, nachdem "amerikanische Verhältnisse" auch hier existieren, wird versucht, sie als unerklärbare Einzeltaten von Geisteskranken und Psychopathen abzutun.
Auch Bundespräsident Johannes Rau (SPD) argumentiert in seinem bekannten pastoralen Ton in diese Richtung. "Wir haben keine Antwort und trauern über ein unfassbares Geschehen", erklärte er im Berliner Schloss Bellevue. Immer wieder wird der Vorsitzende des Rats der evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) Präses Manfred Kock mit den Worten zitiert, die Tat lasse "in Abgründe der Grausamkeit und des Hasses blicken. Aber genauso in Abgründe der Trauer und des Nicht-Verstehen-Könnens".
Die Sprachregelung vom singulären, nicht erklär- und verstehbaren Ereignis wird in den Medien aufgegriffen und beherrscht die Kommentarspalten vieler Zeitungen. Im Berliner Tagesspiegel schreibt der Leitartikler Gerd Appenzeller: "Wir sind so klug, so vernünftig. Fast alles können wir erklären... Aber wie klein, wie hilflos sind wir, und wie verzweifelt und ratlos, wenn wir einer Katastrophe gegenüberstehen wie gestern dem Amoklauf in einem Gymnasium in Erfurt."
Dieses selbstgefällige Gerede vom "Nicht-Verstehen-Können" dient dazu, alle weiter gehenden Fragen über die Bedeutung der Gewalttat und ihren Zusammenhang mit dem Zustand der Gesellschaft zu unterbinden. Die politische Elite versucht den Schock und die Trauer über die Opfer zu nutzen, um jedes ernste Nachdenken über die Hintergründe und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen der Tat zu unterdrücken, um von ihrer eigenen politischen und sozialen Verantwortung abzulenken. Denn das Massaker von Erfurt ist vor allem eine unübersehbare Anklage gegen die sozialen und politischen Verhältnisse in diesem Land.
Ohne Zweifel ist der kaltblütige Mord an 16 unschuldigen Menschen ein verabscheuungswürdiges Verbrechen. Aber wie ist es zu erklären, dass ein junger Mensch von noch nicht zwanzig Jahren durch einen Schulverweis und eine zweimalige Verweigerung der Zulassung zur Abiturprüfung zum Massenmörder wird und nicht nur systematisch seine ehemaligen Lehrer ermordet, sondern auch seinem eigenen Leben ein Ende setzt, bevor es noch richtig begonnen hat?
Welches Maß an Verzweiflung, Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit ist nötig, um einen solchen Schritt zu tun? Wie krank ist eine Gesellschaft, die in ihrer jungen Generation derartige Wut, Lebensverdruss und zerstörerische Energie erzeugt?
Lässt man das gegenwärtig weit verbreitete Moralisieren über die "Abgründe menschlicher Grausamkeit", die sich angeblich rationeller Bewertung entzieht, beiseite und betrachtet die Wechselwirkung zwischen gesellschaftlicher Entwicklung und dem Handeln eines Einzelnen, dann entsteht ein deutliches Bild.
Bei dem Täter handelt es sich nicht um einen völlig verschrobenen Sonderling. Er wird als durchschnittlich begabter Schüler bezeichnet. Zwar habe er einen gewissen Hang zu allerlei Kapriolen im Unterricht gehabt, mit denen er offenbar versuchte, die Aufmerksamkeit seiner Mitschüler auf sich zu ziehen, doch sei er freundlich und insgesamt eher zurückhaltend gewesen. Auch kam er nicht aus zerrütteten Verhältnissen. Beide Eltern arbeiteten, die Mutter als Krankenschwester, der Vater bei Siemens. Sie lebten zwar getrennt, aber nicht im Streit, und Robert hatte eine eigene Wohnung im Dachgeschoss eines Mietshauses, das seinem Großvater gehört, nur wenige Minuten von der Schule entfernt, mitten in der Erfurter Altstadt.
In seiner Freizeit habe Robert Steinhäuser Gewaltvideos konsumiert und Gewalt verherrlichende Musik gehört. Außerdem sei er Mitglied in zwei Schützenvereinen gewesen und seine Waffen seien ordnungsgemäß angemeldet gewesen, heißt es in Presseberichten. Angesichts dieser Situation kommen gegenwärtig ständig Psychologen zu Wort, die vor derartigen Videos oder Kinofilmen warnen. Konservative Politiker, wie der Unions-Kanzlerkandidat Edmund Stoiber und sein bayerischer Innenminister Beckstein (beide CSU), die bei jeder Gelegenheit nach mehr staatlicher Kontrolle und Zensur rufen, fordern jetzt ein sofortiges Verbot solcher Gewaltvideos.
Aber niemand wirft die Frage auf, woher das große Interesse an derartigen Videos kommt und welche gesellschaftlichen Bedingungen dazu führen, dass aus den Betrachtern solcher Filme Massenmörder werden. Um das zu beantworten, muss man einen Blick auf die politischen und sozialen Entwicklungen der vergangenen Jahre werfen.
Robert Steinhäuser wurde gerade eingeschult, als vor gut 12 Jahren die DDR zusammenbrach und die deutsche Wiedervereinigung stattfand. Die prägenden Jahre seines Heranwachsens zeichneten sich dadurch aus, dass das Gesetz des Dschungels in die gesellschaftlichen Verhältnisse einbrach. Die verlogene Moral des stalinistischen DDR-Regimes wurde über Bord geworfen, ohne dass etwas Aufrichtiges, Zukunftsweisendes an ihre Stelle getreten wäre. Stattdessen ersetzten unzählige "Wendehälse" im öffentlichen Leben die bisherigen Phrasen über Sozialismus und Solidarität durch den Kniefall vor Konkurrenz und Marktwirtschaft. Erfolg und gesellschaftlicher Aufstieg winkten denjenigen, die am wenigsten Skrupel kannten.
Der soziale Niedergang in allen ostdeutschen Bundesländern, der auch in vielen Regionen Thüringens verheerende Formen annimmt, war mit der Verbreitung äußerst reaktionärer gesellschaftlicher Standpunkte verbunden.
Persönliche Leistung wurde gesellschaftlicher Verantwortung entgegen gestellt und mit Egoismus, persönlichem Vorteil, hemmungsloser Bereicherung und Ellenbogengesellschaft gleichgesetzt. Jede Form von sozialem Verhalten wurde verpönt und zum Schimpfwort gemacht. Auf allen Ebenen der Gesellschaft findet eine rigorose Auslese und ein Verdrängungskampf statt. Immer mehr Menschen werden in Arbeitslosigkeit oder Billiglohnjobs und damit in Armut und Elend getrieben.
Diese Entwicklung ist überall in Deutschland, vor allem in den ostdeutschen Bundesländern unübersehbar. In Thüringen lag die offizielle Zahl der Arbeitslosen im vergangenen Jahr bei 16, 5 Prozent. Dazu kommen aber noch viele Tausend, die die hoffnungslose Suche nach Arbeit längst aufgegeben haben und auf die Sozialhilfe abgesunken sind. Auch die vielen Tausend Arbeits-Pendler, die täglich oder jede Woche Hunderte von Kilometern fahren, um in den Nachbarbundesländern Bayern und Hessen zu arbeiten, tauchen in dieser Statistik nicht auf.
Dazu kommen noch Tausende, die Jahr für Jahr dieses Bundesland verlassen. In den letzten zehn Jahren hat sich die Zahl der Beschäftigten in Thüringen mehr als halbiert. Die Arbeitslosigkeit wird auch gezielt eingesetzt um die Löhne zu senken. Im Jahr 2000 betrug der durchschnittliche Bruttostundenlohn eines Arbeiters in Thüringen nur 62,7 Prozent des Durchschnittseinkommens eines Beschäftigten in den alten Bundesländern. Besonders hoffnungslos sind die Lebens- und Arbeitsbedingungen für Jugendliche. Verglichen mit dem Jahr 1995 ist die Zahl der arbeitslosen Jugendlichen unter 25 Jahren um 25,5 Prozent gestiegen. In vielen Regionen ist weit mehr als die Hälfte aller jungen Menschen arbeitslos und ohne Aussicht je vernünftige Arbeit zu finden.
Rücksichtslos setzt sich die konservative Landesregierung unter Ministerpräsident Bernhard Vogel (CDU) über die elementaren Interessen der Bevölkerung hinweg. Sie kürzt in allen Sozialbereichen - gerade auch bei Bildungs-, Jugend-, Sport- und Freizeiteinrichtungen - während sie gleichzeitig Großbetriebe und eine kleine Schicht von Aufsteigern großzügig unterstützt.
Längst sind die illusionären Hoffnungen auf mehr Demokratie und bessere Lebensbedingungen, soweit sie in den Wendejahren verbreitet waren, in Verbitterung und Wut umgeschlagen. Im Nachbarland Sachsen-Anhalt hat diese Entwicklung bei den Landtagswahlen am vergangenen Sonntag zu einer Rekord-Stimmenthaltung und zu den bisher größten Stimmenverlusten der regierenden SPD geführt.
An den Schulen führt diese Entwicklung dazu, dass der Schulabschluss nicht den Beginn von Studium oder Berufsleben einleitet, sondern als Anfang vom Ende gesehen wird. Für viele verbindet sich mit dem Ende der Schulzeit die Angst vor einer völlig unsicheren Zukunft mit möglicherweise jahrelanger Arbeitslosigkeit. Seit längerem stellen Lehrer wachsende Aggressionen in den letzten Klassen fest.
Auch bei Robert Steinhäuser nahm die Aggression immer mehr zu, ohne dass sie von Lehrern und Mitschülern wahrgenommen wurde. Aus Angst vor Prüfungen fälschte er mehrmals Krankschreibungen und ärztliche Atteste, und als er daraufhin von der Schule verwiesen wurde, sprach er Presseberichten zufolge weder mit seinem Vater noch seiner Mutter oder anderen Verwandten darüber. In einer Gesellschaft, die alles auf Karriere und persönlichen Aufstieg konzentriert, betrachtete er sein Leben offenbar als sinnlos und gescheitert und nahm furchtbare Rache.
Es ist nicht nur dem individuellen Versagen dieses Jugendlichen zuzuschreiben, dass er zum brutalen Verbrecher wurde. Ein großer Teil der Verantwortung liegt bei den politischen Kräften, die bisher verhindert haben, dass die in der Bevölkerung durchaus in breitem Umfang vorhandene Opposition gegen die soziale Krise zu einer vorwärts gewandten, progressiven gesellschaftlichen Bewegung wird. Dies gilt für die SPD und die Grünen, die vor vier Jahren gerade in den ostdeutschen Bundesländern gewählt wurden, weil sie eine Politik des Frieden und der sozialen Gerechtigkeit versprachen. Es gilt aber auch für die PDS, die ihren Einfluss im Osten nutzt, um die Bundesregierung zu stützen.
Die rot-grüne Bundesregierung setzte die Politik der Bereicherung der Reichen und Umverteilung von unten nach oben nicht nur fort, sondern zerschlug in knapp vier Regierungsjahren einen Großteil der sozialen Sicherungssysteme und predigt Eigenverantwortung, während sie gleichzeitig die Möglichkeiten einer zukunftsfähigen Eigeninitiative systematisch verschlechtert.
Das furchtbare Massaker von Erfurt hält einer Gesellschaft den Spiegel vor, die vollständig auf Gewalt aufgebaut ist: Sozialer Gewalt, die Millionen zwingt in Armut und Elend zu leben, staatliche Gewalt, die jede Art von Bürgerrechten einschränkt und militärischer Gewalt, die sich das Recht nimmt mit Regierungen zusammenzuarbeiten, die überall auf der Welt Massaker organisieren, ob im Nahen Osten oder in Afghanistan, und sich aktiv darauf vorbereitet in Zukunft selbst daran teilzunehmen.
Es ist höchste Zeit dem pastoralen Geschwätz von der "Unerklärbarkeit" des Erfurter Amoklaufs Einhalt zu gebieten und die tiefer liegenden gesellschaftlichen Ursachen aufzudecken, die dazu führen, dass aus verzweifelten Jugendlichen Massenmörder werden. Sonst droht die Gefahr, dass die Fäulnis der Gesellschaft noch schlimmere Formen annimmt.