Die Eröffnung der Ausstellung “Baumeister der Revolution“ in Berlin
Von Wolfgang Weber
7. April 2012
„Eine neue Gesellschaft schaffen! Daran als Künstler teilnehmen, Gebäude konstruieren, die eine neue Lebensweise, neue, bessere Lebensbedingungen für die Bevölkerung ermöglichen – das war es, was die Baumeister des Konstruktivismus in den jungen Jahren der Sowjetunion beseelte!“
Mit diesen Worten wurde am 5. April 2012 im Martin-Gropius-Bau zu Berlin die Ausstellung „Baumeister der Revolution. Sowjetische Kunst und Architektur 1915 – 1935“ eröffnet. Fast alle Redner hoben auf der außergewöhnlich gut besuchten und lebhaften Pressekonferenz am Morgen und auf der Eröffnungsveranstaltung am Abend dieses Phänomen hervor.
Gereon Sievernich, Direktor des Martin-Gropius-Baus, betonte in seiner Begrüßung, dass diese für die russische Architektur nach der Oktoberrevolution charakteristische Zielsetzung mit einem intensiven und befruchtenden Austausch von Ideen und Konzepten zwischen Architekten und Malern auf der ganzen Welt verbunden war: „Die gegenwärtige Ausstellung ist dieser einzigartigen Kunstperiode gewidmet und dokumentiert mit den hervorragenden Fotografien von Richard Pare auf eindringliche Weise, wie sehr der Fortbestand ihrer Werke heute von Verfall, Zweckentfremdung oder sträflicher Vernachlässigung gefährdet sind. Ihre Botschaft ist eindeutig: diese Kunstwerke gehören nicht nur zum Erbe der russischen Kultur, sie sind ein Bestandteil des Weltkulturerbes. Es wird höchste Zeit, dass sie als solche anerkannt werden!“
Die Ausstellung selbst, betonte Gereon Sievernich, sei ebenso durch ein wahrlich internationales Projekt zustande gekommen: Aus der Sammlung Kostakis des Staatlichen Museums für Zeitgenössische Kunst in Thessaloniki wurden Gemälde der russischen Avantgarde zur Verfügung gestellt, aus dem Schtschussew Staatsmuseum für Architektur in Moskau (MUAR) höchst aufschlussreiches Archivmaterial; der britisch-kanadische Architekturfotograph Richard Pare beteiligte sich mit seinen Fotografien und bei der Konzeption, die britische Royal Academy of Arts (RAA) als Veranstalter und schließlich der Martin-Gropius-Bau in Berlin als Gastgeber.
Mary Ann Stevens, Direktorin an der RAA erklärte: „Der Bau einer besseren, einer sozialistischen Welt, dieses Ziel inspirierte in jenen Jahren Millionen, nicht nur in Russland. Man mag heute dazu stehen wie man will, aber damals war es die Quelle schier unerschöpflicher Energien und Ideen von Künstlern, die an seiner Verwirklichung mitarbeiten wollten und in der Tat Meisterwerke der Baukultur der Menschheit schufen.“
Sie erläuterte, wie sich die Architekten nicht nur von den traditionellen Konstruktionskonzepten abwandten: „Auch auf dem Gebiet der Kunst bemühte man sich um einen radikalen Bruch mit der alten zaristischen und bürgerlichen Gesellschaft. Malerei und Architektur wurden integriert, zu Gestaltungsprinzip beider nicht die äußere, vorgegebene und zu überwindende Wirklichkeit, sondern die idealen Formen der Geometrie erhoben. Das traditionelle Ornament, alles Bombastische, was nach der Verherrlichung bestehender Verhältnisse roch, wurde verworfen. In die Zukunft weisend, hoch in die Luft ragend, visionär sollten die Bauten sein – und das Leben darin.“
Doch nicht nur die Vermittlung der Ziele und Visionen jener Kunstepoche und ihrer Gesellschaft ist das Thema der Ausstellung, sondern auch die Bedrohung ihrer Werke in der heutigen Gesellschaft und Kultur Russlands.
Einen leidenschaftlichen Appell richtete daher Irina Korobina, Direktorin des MUAR, an das Publikum: „Tragt dazu bei, diese Werke der Menschheit zu erhalten! Diese Werke gehören uns allen, gehören der Menschheit!“
Auf die Frage eines Besuchers der Pressekonferenz, ob nicht die Oligarchen in Russland, die doch über unbegrenzte Geldmittel verfügten, die erforderlichen Restaurierungs- und Sanierungsarbeiten finanzieren könnten, antwortete sie:
„Allein die Vorstellung davon ist schon völlig absurd! Ich weiß nur von einem Fall, dass ein Oligarch ein konstruktivistisches Haus gekauft hat. Aber er hatte kein Interesse daran, es als solches zu erhalten. Oligarchen wollen vielleicht eine Sauna in solch einem Gebäude einrichten oder sonst irgendwie damit prunken und angeben. Aber sie haben kein Interesse daran, Kunstwerke zu erhalten, dafür haben sie überhaupt keinen Sinn. Die kapitalistische Gesellschaft, die in Russland seit der Perestroika wieder Einzug gehalten hat, hat andere Ideale als die sowjetische Gesellschaft und Kunst der Zwanziger Jahre. Mitzuwirken an der Realisierung einer neuen, menschlichen Gesellschaft, dazu eine neue Architektur zu entwickeln, in der die Gebäude, ihre Gestaltung und Struktur, jeder einzelne Raum eine soziale Funktion zu erfüllen hat – das war die Seele der Avantgarde, des Konstruktivismus! Davon kann ja heute nicht mehr die Rede sein.“
In einem Gespräch mit der WSWS erläuterte sie diesen Gedanken etwas ausführlicher und wies darauf hin, wie bereits unter Stalin mit der Kunstdoktrin des „Sozialistischen Realismus“ sich nicht nur die Zielsetzungen der Architektur radikal änderten, sondern auch die schöpferischen Werke des Konstruktivismus dem Verfall preisgegeben wurden.
„In der Architektur des Konstruktivismus waren Transparenz und die Gestaltung von Gebäuden als Dome des Lichts ein Grundprinzip“, erklärte Irina Korobina und fuhr fort: „Ausgangspunkt der Architektur für ein Gebäude waren seine Gesamtfunktion und die Funktionen seiner einzelnen Teile. Unter Stalin wurden dagegen Wohn- und Verwaltungsgebäude gebaut, die äußerlich Eindruck machen, mit ihrer bombastischen Fassade den ‚Sieg des Sozialismus‘ verkünden sollten – doch im Inneren war nichts durchdacht, nichts entsprach den täglichen Bedürfnissen des Lebens und der Arbeit.
Ihre Architekten waren – im Gegensatz zu den Konstruktivisten – wirklich ‚formalistisch‘. Bevor sie sich Gedanken über die Funktion eines Gebäudes machten, wurde die Form bestimmt. Oft wurde erst nach dem Bau entschieden, wozu er verwendet wurde. Das Ergebnis war, dass die Räume zum Leben und Arbeiten zu dunkel, die Flure zu eng und verwinkelt, die Gebäude einfach unpraktisch waren.
Bei den Konstruktivisten stand im Vordergrund, den vielen Bewohnern die Kommunikation und Interaktion zu erleichtern, auch sportliche, physische Betätigung zu fördern. Dazu dienten bei den Arbeiter-Clubs die freien Flächen, die offene Konstruktion der Gebäude, ihre nach oben in die Höhe strebende Form, und natürlich die vielfältigen Sport- und Freizeitanlagen.
Ab der Stalin-Ära war es den Regierenden hingegen wichtig, größere Menschenmengen in geschlossenen Räumen als passive Zuhörer von Film-, Theater- und Propagandaveranstaltungen zu versammeln. Da waren die Gebäude der Konstruktivisten nicht mehr zu gebrauchen. Schon damals begann deshalb vielfach ihre Zweckentfremdung und damit auch ihre Zerstörung, ihr Verfall durch völlige Vernachlässigung. Alle diese Prozesse wurden mit der Perestroika und der Einführung des Kapitalismus beschleunigt. Das Ergebnis davon ist in den Fotografien von Richard Pare festgehalten!“
Diese Fotografien sind der optische und thematische Schwerpunkt der Ausstellung, sie sind auch das vermittelnde und gleichzeitig kontrastierende Bindeglied zwischen Archivfotos, Gemälden, visionären Plänen und Zeichnungen von damals und der Realität von heute. Das Erstaunliche an ihnen ist, dass sie trotz des bedrückenden Zustandes ihrer Objekte dennoch dem Betrachter den Optimismus vermitteln können, der die Künstler der 20er Jahre anfeuerte. Ausschlaggebend war hier wohl das künstlerische Gespür des Fotografen für die besondere Ästhetik eines jeden Kunstwerkes und sein Können, diese durch die Komposition der Aufnahme, durch eine durchdachte Beleuchtung und einen gut gewählten Blickwinkel zum Ausdruck zu bringen.
Richard Pare sagte der WSWS an diesem Abend: „Ja, ich spürte den Optimismus der damaligen Künstler bei meiner Arbeit und ich wollte ihn zum Ausdruck bringen! Ich wollte der ganzen künstlerischen Haltung und Weltanschauung Tribut zollen, welche die Architekten jener Zeit bewegte: sie sahen es als Aufgabe eines Künstlers an, an der Schaffung einer neuen Gesellschaft teilzunehmen, sich einzubringen mit eigenen Ideen, innovativen Einfällen und kühnen Zielen.
Das ganze steht natürlich im völligen Gegensatz zu den vorherrschenden Kulturtrend in Russland: die Reichen und Superreichen dort haben keine Ahnung von Kunst und Kultur, sie haben auch kein Interesse daran. Man sieht das ja auch schon allein daran, dass das Architekturmuseum völlig unterfinanziert ist und um sein Überleben kämpfen muss.“
WSWS: Was wäre die Lösung, wie könnten diese Kunstwerke erhalten werden?
Richard Pare: „Die Ideallösung wäre natürlich, wenn sie von jemandem aus philanthropischen Gründen gekauft und dann Universitäten oder Kunstinstituten zur Verwendung und Pflege übergeben würden. Aber das ist ja so weit von der heutigen Realität entfernt!“
WSWS: Der Schluss liegt nahe, dass für den Erhalt dieser Kunstwerke ein gewaltiger revolutionärer Umschwung und kultureller Aufschwung notwendig ist, so wie damals auch für ihre Konzipierung und ihren Bau.
Richard Pare: „Ja, das ist wahr. Aber daran müssen wir jetzt schon arbeiten. Wir müssen alles Erdenkliche unternehmen, um den Wert und die Bedeutung dieser Werke klar zu machen, die Gefahr vor Augen zu führen, in der sie schweben. Und natürlich wäre es schön, wenn sich möglichst viele Menschen durch Ausstellungen wie diese von den Ideen und Zielen der damaligen Künstler angesprochen fühlen und inspirieren lassen.“
Die Chancen dafür stehen nicht schlecht, bereits an den ersten Tagen strömten viele Besucher in den Martin-Gropius-Bau. Die Ausstellung ist auch für einen zum Thema Architektur ungewöhnlich langen Zeitraum zu sehen, nämlich über drei Monate lang bis zum 9. Juli 2012.
Auch die Macher der Ausstellung haben sich offensichtlich von den Prinzipien des Konstruktivismus inspirieren lassen: Fünf riesige Räume mit großen Flächen und hohen Wänden ermöglichen, dass viel Licht, Transparenz und eine klare funktionale Gliederung dem Besucher die Auseinandersetzung mit den sehr zahlreichen Exponaten und ihren mannigfaltigen künstlerischen, sozialen und historischen Aspekten erleichtern.
In jedem der jeweils einem bestimmten Thema gewidmeten Räume sind auf der einen Längswand Gemälde russischer Avantgarde-Maler ausgestellt, welche wie Ljubow Popowa oder Alexander Rodtschenko die Architekten beeinflussten oder mit ihnen direkt zusammenarbeiteten. Auf der Wand gegenüber zeigen die großflächigen Fotografien von Richard Pare die Gebäude in ihrer heutigen Umgebung und Verfassung. Und in der Mitte des Raums schließlich sind in Glasvitrinen die dazu gehörigen historische Fotos, Pläne, Zeichnungen und andere Archivstücke aus den 20er Jahren ausgestellt, welche das MUAR zur Verfügung gestellt hat. Sie dokumentieren die ursprünglichen Konzepte, Pläne und ihr damaliges Aussehen unmittelbar nach der Fertigstellung.
Man hätte sich als Besucher der Ausstellung Tafeln mit ausführlicheren Erklärungen zum Leben und Werdegang der verschiedenen Künstler, zu gesellschaftlichem Hintergrund, Konzeption und Einfluss ihrer verschiedenen Zirkel und Tendenzen gewünscht. Doch all dies haben die Veranstalter und Gastgeber wohl in den opulenten Katalog und in ein umfangreiches Vermittlungsprogramm gepackt, das eine intensive Auseinandersetzung mit der Kunst des Konstruktivismus, mit ihren Vorbildern in der Malerei und gesellschaftlichen Wurzeln ermöglicht. So gibt es Audio-Guides und insbesondere für Kinder und Jugendliche zahlreiche Workshops zur Einführung in die Architekturfotografie, in die Atelierarbeit mit geometrischen Formen und in Grundkonzepte der russischen Avantgarde. Ein Workshop soll sogar dazu anregen, Ideen für eine Bebauung Berlins nach konstruktivistischen Visionen zu entwickeln.
Der vom Mehring Verlag herausgebrachte Katalog, der in besonders guter Qualität auch als Hardcover-Buch erhältlich ist und alle Exponate zusammen mit erläuternden Texten enthält, wird für alle Besucher die Ausstellung zu einem bleibenden und auch später noch zu vertiefenden Erlebnis machen. Für alle, die keine Gelegenheit zu einem Besuch haben, ist er ein idealer Ersatz.