Schweizer Regierung entscheidet sich gegen Auslieferung von Roman Polanski
Von David Walsh
16. Juli 2010
aus dem Englischen (13. Juli 2010)
Die Schweizer Regierung erklärte am Montag, dass der 76 Jahre alte Regisseur Roman Polanski nicht an die USA ausgeliefert werde. Polanski wurde auf dem Weg zu einem Filmfestival am 26. September 2009 in Zürich verhaftet. Er stand in seinem Gstaader Chalet seit dem 4. Dezember 2009 unter Hausarrest, nachdem er eine Kaution in Höhe von 4.5 Millionen Schweizer Franken (3.4 Millionen Euro) hinterlegt hatte.
Die Entscheidung ist ein herber Schlag für die Staatsanwaltschaft von Los Angeles und das Justizministerium der Obama-Administration, deren rachsüchtige und politisch motivierte Kampagne gegen Polanski nun zusammenbricht.
Die amerikanischen Behörden erstrebten eine Ausweisung Polanskis im Zusammenhang mit seinem Schuldgeständnis, 1977 in Los Angeles Sex mit einer Minderjährigen gehabt zu haben. Der Regisseur verbrachte 42 Tage in Haft in der psychiatrischen Abteilung des Kalifornischen Staatsgefängnisses. Als jedoch der zuständige Richter damit drohte, eine Strafprozess-Vereinbarung platzen zu lassen und den Filmemacher so hart wie nur möglich zu bestrafen, verließ Polanski die USA und flüchtete nach Europa ins Exil.
Schäbige politische Motive waren die Ursache für die plötzliche Verhaftung 2009 und die drohende Auslieferung Polanskis, der die Schweiz seit Jahrzehnten ungehindert besuchte und dort auch ein Chalet besitzt.
Letztes Jahr waren die Schweizer Behörden sehr darauf bedacht sich bei der US-Regierung einzuschmeicheln. Letztere verlangte Informationen über mehr als 4.000 Bankkonten der Großbank UBS, welche angeblich im Zusammenhang mit Steuerhinterziehung standen. Es mag reiner Zufall sein, dass das Schweizer Parlament letzten Monat einem Staatsvertrag zustimmte, der die Diskussion um die Offenlegung beendete und, wie die Bloomberg Businessweek schrieb, einen "zwei Jahre dauernden Rechtsstreit beilegte, der die US-Geschäfte der größten Schweizer Bank gefährdete".
Die Entscheidung, Polanski nicht auszuliefern, wurde mit Sicherheit auf höchster Ebene des Schweizer Staates getroffen. Die Entscheidung vom Montag wurde von Eveline Widmer-Schlumpf bekanntgegeben. Die Schweizer Justizministerin, Mitglied des siebenköpfigen Schweizer Bundesrates, war bis zu ihrer Wahl Mitglied der Schweizerischen Volkspartei (SVP).
Die US-Behörden hatten rechtlich einen schweren Stand, gegen Polanski vorzugehen. Eine zentrale Frage im Auslieferungsverfahren war, ob Polanski seine Strafe wegen Sex mit einer Minderjährigen bereits 1977 abgesessen hatte. Laut dem amerikanisch-schweizerischen Auslieferungsabkommen darf ein Individuum nur ausgeliefert werden, wenn ihm mindestens sechs Monate Haft drohen.
Widmer-Schlumpf erklärte, die Schweizer Behörden hätten die Abschrift der Zeugenaussage von Januar 2010 von Roger Gunson verlangt, dem zuständigen Staatsanwalt im Fall Polanski von 1977. Gunson bezeugte demzufolge, dass der Richter Laurence Rittenband im September 1977 der Anklage und der Verteidigung versicherte, die 42 Tage, die Polanski bereits in Haft verbracht habe, entsprächen "der gesamten Dauer der Inhaftierung, zu der er verurteilt worden war". (Presseerklärung des Schweizer Bundesrates.)
Die US-Justizbehörde wies die Schweizer Anfrage für das Dokument zurück und beharrte darauf, Gunsons Aussagen geheim zu halten. "Unter diesen Umständen" so die Presseerklärung der Schweizer Regierung, "kann nicht mit der notwendigen Bestimmtheit ausgeschlossen werden, dass Roman Polanski die ihm damals auferlegte Strafe bereits verbüßt hat und dass das Auslieferungsersuchen an einem gravierenden Mangel leidet. In Anbetracht der nicht ausgeräumten Zweifel bezüglich der Sachverhaltsdarstellung ist das Ersuchen abzulehnen."
Widmer-Schlumpf wies auch auf die offenkundige Tatsache hin, dass Polanski die Schweiz seit Jahren immer wieder besuchte und dass die USA keinen Versuch anstellten, ihn ausliefern zu lassen, und legte damit nahe, dass das Handeln der Amerikaner 2009 dem "Grundsatz von Treu und Glauben" zuwiderlief. Die Justizministerin nahm keinen Bezug auf die Berichte, wonach es die Schweizer Behörden selber waren, die die US-Behörden auf die Anwesenheit Polanskis in Zürich im September hingewiesen hatten.
Die Schweizer Justizministerin führte auch den Wunsch des Opfers, Samantha Geimer, an, den Fall gegen Polanski nicht weiter zu verfolgen.
Die Schweizer Regierung wird schwerlich Unkenntnis gehabt haben von den beachtlichen und gut dokumentierten Verfahrensfehlern von Richter Rittenband, auch wenn die Erklärung keinen Bezug darauf nahm. Die Anwälte Polanskis versuchten erst kürzlich ohne Erfolg, ihren Klienten in Los Angeles in Abwesenheit verurteilen zu lassen. Sie sammelten starke Beweise für Rittenbands skandalöses Verhalten 1977. Vieles davon kam erst 2008 in dem Dokumentarfilm Roman Polanski: Wanted and Desired von Marina Zenovich ans Tageslicht.
Dem Rampenlicht verfallen und von der eigenen Härte überzeugt sandte Rittenband Polanski auf Anraten eines Anwaltes, der in keinerlei Verbindung zu dem Fall stand, ins Chino Staatsgefängnis für eine psychiatrische Untersuchung. Dies war der einzige Weg Polanski einzukerkern ohne ihm die Möglichkeit zu lassen, die Entscheidung anzufechten. Staatsanwalt Gunson und Verteidiger Douglas Dalton argumentierten beide, es sei illegal diagnostische Verwahrung als Strafe für ein Verbrechen anzuwenden. Rittenband ignorierte ihre Argumente.
Weil Dalton einen einjährigen Aufschub für den Arrest forderte, damit Polanski einen Film fertig stellen konnte, schlug der Richter der Anklage und der Verteidigung eine Scharade vor. Rittenband willigte ein, eine Reihe von 90-tägigen Haftaufschüben zu gewähren. Aber er insistierte darauf, dass er selbst, die Verteidigung und die Anklage vor Gericht vorgeben sollten, dass keine solche Absprache hinter geschlossenen Türen gefällt wurde. Der Richter konnte so vorgeben, die Entscheidung selbst gefällt zu haben, und sein Gesicht vor den Medien wahren.
Rittenband verlangte auch, dass der Filmemacher auf sein Recht auf eine Anhörung bei jedwedem eventuellen Ausweisungsverfahren gegen ihn verzichten solle. Wie die WSWS in einer Kritik zu Wanted and Desired schrieb hatte Rittenband "keine rechtliche Kompetenz, was eine Auslieferung betraf, und sein Versuch, Polanski sein Recht auf eine Auslieferungsanhörung zu nehmen, war ein weiteres Beispiel eines Verfahrensfehlers." Allein schon wegen Rittenbands Verhalten hätte der Fall Polanski längst eingestellt werden müssen. Es geht dabei nicht um "rechtliche Formalitäten" sondern um Verletzungen der elementaren demokratischen Rechte, die eng mit dem Fall selber verknüpft waren.
Der Fall Polanski drehte sich nie um "Vergewaltigung von Kindern", Pädophilie oder irgendeines der Themen, die von hysterischen Medien ausgeschlachtet werden. Es ging auch in den letzten zehn Monaten nicht darum "Gerechtigkeit zu üben" oder darum, einen reichen Prominenten zu bestrafen, der glaubt sich alles erlauben zu können.
Die Kampagne gegen Polanski wurde zum Kristallisationspunkt für eine Koalition von liberalen Redakteuren und Kolumnisten, Feministinnen und extremen Rechtsaußen. Diese unheilige Allianz, auch bestehend aus Tageszeitungen wie der New York Times, des Salon und der Nation sowie selbsternannten medialen Moralaposteln wie Rush Limbaugh, Glenn Beck und Pat Buchanan, bediente sich aufrührerischer, betrügerischer populistischer Argumente als Mittel um die rückständigsten Schichten der amerikanischen Bevölkerung mit kontroversen Aufrufen zum "Schutz von Kindern vor Sexualtätern" aufzuwiegeln. Das Ziel dieses Lynchmobs sind "Hollywood-Typen", Künstler, Intellektuelle und Nonkonformisten jeder Art. Die Anti-Polanski-Kampagne hat Untertöne von Fremdenhass und Antisemitismus, gepaart mit altmodischem amerikanischem Puritanismus.
Für Feministinnen und Liberale, die blind sind für die kritischen sozialen und Klassenfragen, war die Aufblähung der Macht des amerikanischen Staates bei der Jagd auf Polanski nichts im Vergleich zur Möglichkeit, an ihm Vergeltung für seine Taten von 1977 üben zu können. Dass die Geschichte sich vor 33 Jahren abgespielt hatte, dass die involvierte Frau nichts zu tun haben wollte mit weiteren gerichtlichen Schritten, dass der Angeklagte 76 Jahre alt ist und in seinem Leben schwere Traumata erlebt hatte - nichts von alledem war von irgendeinem Interesse für das neue Moralkommando.
Ihre Agenda vertrug sich bestens mit der reaktionären Eigenwerbung des Staatsanwaltes von Los Angeles, Steve Cooley, der im Rennen für die diesjährige Republikanische Kandidatur des Kalifornischen Generalstaatsanwaltes ist, sowie den Anstrengungen des Justizministeriums unter Obama, der gewillt ist, die gleiche Indifferenz gegenüber demokratischen Rechten an den Tag zu legen wie sein Vorgänger.
Jedenfalls kam die Schweiz - nach Bereinigung der UBS-Frage - nun offensichtlich zu der Einschätzung, dass jeder Vorteil, der sich durch eine Auslieferung Polanskis an die USA ergäbe, mehr als kompensiert würde. Zum einen konnte dadurch eine öffentliche europaweite Aufregung vermieden werden und zum anderen wurde dadurch verhindert, dass der Fall des Filmemachers in Los Angeles womöglich in einem Debakel endete, was negative Auswirkungen auf die Schweiz hätte. Es ist durchaus auch möglich, dass die Entscheidung ein Zeichen für die fortwährende Schwächung der internationalen Position der USA und der Obama-Regierung seit letztem September ist.
In ihren Erläuterungen erklärte Widmer-Schlumpf kühl: "Die USA haben keinen Grund ihre Beziehungen zu uns zu überdenken. Wo auch immer wir Pflichten hatten, haben wir sie erfüllt."
Anfang Mai gab Polanski seine erste öffentliche Erklärung seit der Verhaftung in Zürich ab. Er betonte wiederholt, er könne "nicht länger schweigen". Der französisch-polnische Filmemacher erklärte weiter: "Ich hatte meine Dramen und Freuden, wie wir alle, und ich bitte sie nicht, mich zu bemitleiden. Ich bitte nur darum, fair behandelt zu werden wie alle anderen."
Er sagte weiter: " Ich kann nicht länger schweigen, weil die Vereinigten Staaten weiterhin meine Auslieferung verlangen, und das mehr um mich den Medien der ganzen Welt zum Fraß vorzuwerfen als um ein Urteil zu vollstrecken, über das schon vor dreiunddreißig Jahren eine Übereinkunft erzielt worden ist."
Polanski sagte, er hoffe "die Schweiz wird einsehen, dass es keinen Grund für eine Auslieferung gibt, so dass ich in Frieden und als freier Mann in mein Land und zu meiner Familie zurückkehren kann." Dies wurde ihm nun offenbar gestattet.