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Kriegserinnerungen im Alter

Ein Gastbeitrag von Werner Siepmann
23. Juli 2010

Der Autor dieses Artikels, Jahrgang 1931, verbrachte selbst einige Zeit des 2. Weltkriegs in Kellern und Bunkern im Ruhrgebiet, in der Kinderlandverschickung in Pommern und in der damaligen Tschechoslowakei.

Beim Erzählen und Forschen in der Erinnerungswerkstatt des Kulturwissenschaftlichen Instituts in Essen traf er sich mit Frauen und Männern, die den Zweiten Weltkrieg als Kinder und Jugendliche erlebt hatten. Seine dortigen Erfahrungen die auch im Juventa-Verlag in einer Dokumentation mit dem Titel "Gemeinsam an der Familiengeschichte arbeiten" erschienen sind, möchte er weitergeben, um zu Diskussionen und Auseinandersetzungen anzuregen.

Der deutsche Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg hat im April dieses Jahres nach über acht Jahren Kriegseinsatz in Afghanistan zugeben müssen, dass es sich bei dem Einsatz der Bundeswehr dort nicht um humanitäre Hilfe, sondern um Krieg handelt.

Derzeit sind in Afghanistan rund 4.500 Bundeswehr-Soldaten im Einsatz. 850 weitere können laut Bundestagsmandat stationiert werden. Die Bundeswehr setzt sechs Tornado-Kampfjets auch zur Aufklärung im heftig umkämpften Süden Afghanistans ein. Das hat dazu geführt, dass die deutsche Armee immer weiter in diesen schmutzigen Krieg in Zentralasien hineingezogen wurde. Inzwischen sind alle Rechtfertigungen für den Krieg - Kampf gegen den Terror, humanitäre Hilfe, Schutz von Frauen und Mädchen usw. - durch die Ereignisse widerlegt worden.

Der Preis des Krieges, finanziell und erst recht an Menschenleben, steigt wöchentlich. Nach offiziellen Angaben hat der Krieg in Afghanistan allein Deutschland bisher über sechs Milliarden Euro gekostet. Mindestens 1.947 azsländische Soldaten sind laut der Website icausualty.org (Iraq Coalition Casualty Count) inzwischen allein in Afghanistan ums Leben gekommen, davon 43 deutsche. Verlässliche Zahlen über die mehrere Zehntausend Toten der afghanischen Bevölkerung gibt es nicht.

Jeder einzelne dieser Kriegstoten ist einer zu viel.

Fernsehbilder von trauernden Ehefrauen und Freundinnen und die um die gefallenen Soldaten trauernden Angehörigen, das bei Gelöbnissen der Bundeswehr bestens bekannte militärische Gehabe und nicht zuletzt die pathetischen Sätze der Bundeskanzlerin: "Ich verneige mich vor Ihnen. Deutschland verneigt sich vor Ihnen" auf einer Trauerfeier für getötete Bundeswehrsoldaten hinterlassen bei mir ein eisiges Erschauern. Dieses Pathos soll die zwei Drittel aller Deutschen, die einen unmittelbaren Abzug der Bundeswehr fordern, darunter auch ich, erschüttern und zu Gunsten eines weiteren militärischen Engagements umstimmen.

Nach dem 2. Weltkrieg und selbst bei der Gründung der Bundeswehr galt es als gesellschaftlicher Grundkonsens, dass vom deutschen Boden nie wieder Krieg auszugehen habe. Selbst der erzkonservative ehemalige bayrische Ministerpräsident Franz-Josef Strauss (CSU) sah sich gezwungen zu sagen: "Wer noch einmal ein Gewehr in die Hand nimmt, dem soll die Hand abfallen."

In dem Buch "Söhne ohne Väter, Erfahrungen der Kriegsgeneration" (Ch. Links Verlag) werden einige Fakten und Forschungsergebnisse detailliert aufgelistet, die ein eminent wichtiges Zeugnis darüber ablegen, welch katastrophale menschliche Verluste Kriege über die Toten hinaus nach sich ziehen. Im 1. Weltkrieg waren bereits ca. zwei Millionen Soldaten gefallen oder galten als vermisst. Dementsprechend wuchs bereits ein großer Teil der damaligen Kinder als (Kriegs-)Halbwaisen auf.

Hartmut Radebold schreibt in seinem Beitrag zum Buch "Söhne ohne Väter", im Zweiten Weltkrieg "kam jeder achte männliche Deutsche (vom Kind bis zum Greis) ums Leben". Das seien 4,71 Millionen Tote gewesen. In den ehemaligen deutschen "Ostgebieten" (heute zu Polen und Russland gehörig) kam jede 5. männliche Person ums Leben. "Von den eingezogenen Männern fielen:

von den 20-25-Jährigen 45 Prozent,

von den 25-30-Jährigen 56 Prozent,

von den 30-35-Jährigen 36Prozent,

von den 35-40-Jährigen 29Prozent."

Von den Rekruten der nach 1920 geborenen Jahrgänge, also Kinder, Jugendliche und junge Männer im Alter von 14 bis 24 Jahren, fielen in der Regel mehr als 30 Prozent.

Inzwischen sind 65 Jahre vergangen, und noch immer leiden ehemalige Kriegskinder weit häufiger als der Bevölkerungsdurchschnitt unter psychischen Störungen wie Ängsten, Depressionen und psychosomatischen Beschwerden. Ständiger Aufenthalt in kalten und feuchten Luftschutzkellern, Flucht und Vertreibung, brennende Städte, Vergewaltigungen und Kriegseinwirkungen unterschiedlichster Art schaffen Erregungszustände, die nicht immer bewusst präsent, jedoch latent vorhanden sind. Eine Verletzung oder ein gebrochenes Bein spürt man. Der Krieg im Kopf schmerzt jedoch nicht, sondern er verändert mitunter langsam aber sicher die Persönlichkeit.

Über lange Zeit hinweg blieb die Geschichte der ehemaligen Kriegskinder weitestgehend unbeachtet von der Öffentlichkeit. Nicht nur die Ärztin und Traumatherapeutin Luise Reddemann glaubt darin "kollektive Geheimnisse" festmachen zu können. Traumatisierungen aus dem Zweiten Weltkrieg könnten sogar an kommende Generationen weiter gegeben werden.

Einige Studien der jüngsten Zeit in Deutschland beschäftigen sich mit der langsam aussterbenden Generation der Kriegskinder. In einem Gespräch mit dem Spiegel (9/2009) berichtete der Münchner Psychoanalytiker Professor Michael Ermann über sein Projekt "Europäische Kriegskindheit im 2. Weltkrieg und ihre Folgen", die bisher größte Erhebung über die Kriegsspuren bei Kindern. Mit dem Projekt "Kriegs-Kindheit" verbindet er seine Begegnungen mit Kriegskindern, die Weitergabe ihrer Traumata an die nächste Generation und die späte Verarbeitung im Alter.

Die zentrale Aussage und Titelüberschrift lautet: "Der Körper vergisst nicht". Mit der "Körpererinnerung", so der fachlich benannte Ausdruck, bezeichnet er zum Beispiel, wenn ältere Menschen an einem sonnigen Septembernachmittag auf das Brummen eines Flugzeugs mit Panik reagieren, oder bei Polizei-, Feuerwehr- oder Warnsirenen an vergangene Kriegs-Szenen erinnert werden. Bei der Frage, wie hoch der Anteil derjenigen Kriegskinder sei, der ein Trauma mit sich herumschleppe, ergab die umfangreiche Untersuchung, dass ein Teil trotz belastender früher Erfahrungen ihre Erlebnisse gut verarbeitet habe. Allerdings sei rund ein Viertel der Befragten in ihrer psychosozialen Lebensqualität eingeschränkt und jeder Zehnte gelte als traumatisiert und zeige deutlich posttraumatische Beschwerden.

Zu den immer wiederkehrenden sich aufdrängenden Kriegserinnerungen zählen unter anderem Angstzustände, Depressionen und psychosomatische Beschwerden, Krämpfe, Herzrasen und chronische Schmerzen. Auch das Gefühl großer Leere, der Eindruck, nicht das eigene Leben zu leben, irgendwie neben sich zu stehen, Fremdheitsgefühle oder Beziehungsstörungen sind Merkmale dieser Generation.

Die Frage, warum die Probleme der Kriegskinder erst so spät aufgetaucht sind, muss unterschiedlich beantwortet werden. Zunächst einmal war man 1945 persönlich froh, dass der Krieg endlich vorbei war. In der Nachkriegszeit wurde das Erlebte dann weitestgehend verdrängt und so gut wie nicht angesprochen. Der Wiederaufbau, die Sorge um das tägliche Brot, die fehlenden Familienangehörigen in der Gefangenschaft oder gar in den Kriegsgräbern boten nicht den Grund, große und komplizierte Fragen zu stellen oder gar lange zu trauern.

Hinzu kam, dass die Kriegskinder mitunter sehr früh in die Rolle eines Erwachsenen hinein gedrängt wurden. Da die Mütter durch den Tod ihrer Männer eine doppelte Last zu tragen hatten, blieb den Kriegskindern für die eigenen Interessen und den eigenen Kummer kaum Raum.

Die Regierenden hatten vor allem kein Interesse an einer breiten Diskussion über Krieg und Nationalsozialismus, weil sie aus den Eliten stammten, die in den vorangegangenen Jahren die Nazis unterstützt hatten. Sie machten zum großen Teil dort weiter, wo sie unter den Nazis aufgehört hatten: an Gerichten, in Polizeiämtern, in Behörden und in den Parlamenten.

Ein Rückblick in die Vergangenheit der "unauffälligen oder vergessenen Generation", es handelt sich hier in etwa um die Jahrgänge von 1930 bis 1945, zeigt einiges über deren verschwiegene Welten, die sie mit sich herumschleppten, und wie die Kriegs- und Nachkriegszeit ihr weiteres Leben beeinträchtigt hat.

Dass jeder imperialistische Krieg eine Zeit des Schreckens ist, war nichts Neues. Dass es aber auch außer den menschlichen Verlusten (mitunter ganzer Familien) traumatische Hinterlassenschaften gab, die sich noch Jahrzehnte später störend oder einschränkend in der psychosozialen Lebensqualität bemerkbar machten, wurde lange Zeit nicht beachtet und nicht erforscht. Erst die Erkenntnisse der modernen Trauma-Forschung zeigen, dass Opfer in der Regel erst Jahrzehnte nach der Traumatisierung in der Lage sind, über ihre Erlebnisse zu reden. Viele haben diese Zeit tief in ihrem Inneren weggeschlossen, verdrängt, um überhaupt weiterleben zu können. Sie haben lange Zeit keinerlei Beschwerden bis alte Wunden, von denen man fast gar nichts wusste, wieder aufreißen.

Trauma-Forscher gehen davon aus, dass ein Drittel der Menschen über 75 Jahre in Altenheimen durch den Weltkrieg oder unmittelbar danach schwere traumatische Erfahrungen erlitten haben. Diese Erfahrungen wurden unbewusst in sich vergraben. Beratungsstellen in den Jahren nach dem Krieg, die sich nach Vergewaltigungen, Bombenangriffen oder sonstigen Kriegsschäden um die Betroffenen und Opfer gekümmert hätten, gab es nicht.

Ein Trauma bedeutet das Erleben einer existenziellen Bedrohung in doppelter Hinsicht: Ursprünglich in der auslösenden Erfahrung mit einem oder mehreren Menschen. Die Opfer und nicht selten auch die Täter erleben das Fehlen von Hilfe und Unterstützung. Sie sind allein gelassen. Das Alleinsein in der traumatischen Situation setzt sich fort im Alleinsein "danach".

Die Traumatisierungen, alte Bedrohungen, werden "wiedererlebt". Etwa wenn alte Menschen den Umzug ins Altenheim als Vertreibung sehen oder erleben. So gab es auch klar erkennbare emotionale Verbindungen zur Kriegs-Vergangenheit beim Aufbrechen des Kosovo-Konflikts, als die Nato-Bomben auf Belgrad fielen sowie etwas später als die Anschläge des 11. September 2001 und die Leiden der unmittelbar betroffenen New Yorker Bevölkerung bei vielen Älteren längst überwunden geglaubte Ängste wieder aufstiegen ließen. Ich spreche da auch aus eigener Erfahrung.

Beim Übergang des Menschen in die Lebensphase des höheren Alters stellen sich häufig mehr oder minder einschneidende körperliche, soziale (der Verlust der Partner, der Geschwister, der Freunde, der Umzug ins Altersheim) wie auch psychische Veränderungen ein, die neu ausbalanciert werden müssen. Um traumatisches Erleben reflektieren zu können, verbleiben oft kaum kognitive Erinnerungen aus der Kindheit. Was jedoch bestehen bleibt, sind Bilder, Gerüche, die Körpererfahrung, Erstarrung, das Bedürfnis zu flüchten oder unerklärliche Aggressionen.

Für die Generation der 80jährigen und Älteren ist es - soweit dies überhaupt noch möglich ist - notwendig, sich mit dem Geschehen des Krieges und seinen Folgen auseinanderzusetzen. Sie benötigen ihre Energie, die sie in die Verdrängung gesteckt haben, um sie in wichtige Aufgaben, die das Alter mit sich bringt, investieren zu können.

Die heutigen Kriege hinterlassen genauso wie der 2. Weltkrieg Hinterbliebene, Waisen, Witwen und Traumatisierte.

So berichtete beispielsweise ein Wissenschaftlerteam in der Zeitschrift New England Journal of Medicine ein Jahr nach der Invasion des Iraks 2003 von vielen ehemaligen Angehörigen der US-Armee, die unter Depressionen und Angstzuständen, unter der so genannten Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS; engl.: Post-traumatic Stress Disorder, PTSD) leiden.

Die Brutalität der US-Kriegseinsätze wurde durch eine anonyme Befragung ehemaliger Irak- und Afghanistan-Kämpfer offenbar. Mehr als die Hälfte der im Irak stationierten Soldaten erklärte, selbst einen Gegner getötet zu haben oder dafür verantwortlich zu sein. Über 90 Prozent gerieten mindestens einmal unter Beschuss. Fast genauso viele Befragte kannten mindestens einen im Irak Getöteten oder schwer verletzten US-Soldaten persönlich.

Bei diesen Soldaten stellten die Forscher Symptome wie "unausweichliche Erinnerungen oder wiederholte Inszenierungen der traumatischen Ereignisse in Gedächtnis oder Träumen" fest. Mitunter käme es auch zu akuten Ausbrüchen von Angst, Panik oder Aggression bis hin zu körperlicher Gewalt gegen Angehörige.

Die Forscher gehen davon aus, dass fast 20 Prozent der Irak- und Afghanistan-Veteranen unter der Posttraumatischen Belastungsstörung leiden. Sie schätzen, dass jeder dritte Heimgekehrte von Depressionen, Angstzuständen oder PTSD betroffen ist.

Die Traumatisierungen der Bevölkerungen des Iraks, Afghanistans und all derjenigen, die heute in Kriegsgebieten leben und aufwachsen, lassen sich nur erahnen.

Rund 65 Jahre nach dem Ende des 2. Weltkriegs steht die Menschheit angesichts unverändert stattfindender Kriege und Katastrophen, steigender sozialer Ungleichheit und wachsenden Konflikten zwischen den führenden Industrienationen erneut vor der Frage "Sozialismus oder Barbarei", die schon Friedrich Engels vor weit über hundert Jahren und später Rosa Luxemburg angesichts des 1. Weltkriegs aufwarfen. Der 1. Weltkrieg und dann erst recht der 2. Weltkrieg waren der "Rückfall in die Barbarei". Die Narben der Vergangenheit sind noch nicht ausgeheilt, wie laufende Studien und Forschungen ergeben. Die kriegführenden Regierungen reißen neue Wunden auf.

Eine sozialistische Perspektive ist notwendig, die die Ursache des Kriegs bekämpft: den Kapitalismus.

Siehe auch:
Der Spiegel verteidigt den Krieg in Afghanistan
(17. Juli 2010)