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Trotzkis "Geschichte der Russischen Revolution"

Einleitung zur Neuausgabe des Mehring Verlags

Von Sybille Fuchs
16. Januar 2010

Wir veröffentlichen hier das Vorwort zur neuen Ausgabe der "Geschichte der Russischen Revolution" von Leo Trotzki, die jetzt in zwei Teilbänden im Mehring Verlag erschienen ist. Weitere Informationen gibt es auf der Website des Mehring-Verlags, wo die Bücher auch bestellt werden können.

Einleitung

Band 1

Leo Trotzkis "Geschichte der russischen Revolution" gehört auch 80 Jahre nach ihrem Erscheinen zu den bedeutendsten Werken der historischen Literatur. Sie behandelt eine Epoche von ungeheurer Dynamik, die der Weltgeschichte innerhalb weniger Monate eine neue Richtung gab, das Leben von Millionen Menschen - nicht nur in dem riesigen Zarenreich, sondern auf der ganzen Welt - grundlegend veränderte und bis heute beeinflusst.

Die Oktoberrevolution stellte, wie der britische Historiker Edward Hallett Carr feststellte, "die erste offene Herausforderung an das kapitalistische System dar, welches im Europa des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts seinen Höhepunkt erreicht hatte. Dass sie sich auf dem Höhepunkt des Ersten Weltkrieges ereignete, teilweise als Folge dieses Krieges, war mehr als ein Zufall. Dieser Krieg hatte der internationalen kapitalistischen Ordnung, wie sie vor 1914 bestanden hatte, einen tödlichen Stoß versetzt und die ihr eigene mangelnde Stabilität bloßgelegt. Man kann in dieser Revolution sowohl eine Folgeerscheinung wie eine Ursache des Niedergangs des Kapitalismus sehen." [1]

Die spätere Degeneration und Auflösung des aus der Oktoberrevolution hervorgegangenen Arbeiterstaats mindert nicht deren historische Bedeutung. Nicht zufällig war Trotzki, derselbe Mann, der die Revolution an Lenins Seite angeführt hatte und sie im vorliegenden Band so meisterhaft beschreibt, auch der erste und beharrlichste Kritiker ihrer stalinistischen Degeneration. Will man den Aufstieg und Niedergang der Sowjetunion verstehen, sind Trotzkis Werke trotz der zahlreichen, seither erschienenen Detailstudien unverzichtbar. Neben der "Geschichte der Russischen Revolution" gilt dies insbesondere für die "Verratene Revolution", seine gründliche Analyse der Ursachen und der Bedeutung des Stalinismus.

Die vielfach geäußerte Behauptung, die Auflösung der Sowjetunion 1991 habe die durch die Oktoberrevolution begonnene historische Epoche beendet, sei gleichbedeutend mit dem historischen Triumph der kapitalistischen Gesellschaftsordnung oder kennzeichne sogar das "Ende der Geschichte", hat sich als grotesker Irrtum erwiesen. Die heutige Weltlage ist durch eine tiefe Krise des globalen Finanzsystems, wachsende soziale Spannungen und zunehmende internationale Konflikte gekennzeichnet und erinnert stark an die Jahre, die der Oktoberrevolution vorausgingen. Das verleiht diesem Buch, das eine der größten revolutionären Erhebungen der Weltgeschichte schildert, heute wieder brennende Aktualität.

Band 2

Trotzkis Schilderung der revolutionären Periode vom Februar bis zum Oktober 1917 ist in vieler Hinsicht einzigartig. Er versteht es, die Ereignisse spannend zu erzählen und sie sowohl in ihrer weltgeschichtlichen Bedeutung als auch aus der besonderen Geschichte Russlands heraus verständlich und geradezu miterlebbar darzustellen. Der historische und literarische Rang dieses Werks - ebenso wie seiner ein Jahr zuvor erschienenen Autobiografie "Mein Leben" - wurde damals von vielen Zeitgenossen anerkannt, selbst wenn sie Trotzkis politische Ansichten nicht teilten. In zahlreichen Artikeln, Büchern oder Briefen finden sich entsprechende Würdigungen.

So schrieb der bekannte amerikanische Literaturkritiker Edmund Wilson 1933 in The New Republic über Trotzki: "In der ‘Geschichte der Russischen Revolution’ stellt er seine Auffassung der Gesellschaft und ihrer Entwicklung meisterhaft dar. Ebenso wie Marx’ ‘Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte’ lässt uns dieses Werk hinter dem Schattenspiel der Politik die Gruppeninteressen, kollektiven Bedürfnisse und Begehrlichkeiten erkennen, in deren Licht sich die Figuren auf der Leinwand abzeichnen, auch wenn sie ihnen selbst bisweilen gar nicht bewusst sind. Wer Trotzkis Darstellung der Geschichte gelesen hat, kann die Sprache, die Konventionen und die Ansprüche der parlamentarischen Politik, falls er sich je Illusionen darüber hingab, nie wieder mit den alten Augen sehen. Ihre Konturen verschwimmen, sie verblassen und lösen sich buchstäblich in Luft auf. Der Kampf um Ämter, das alte Spiel der parlamentarischen Debatte erscheinen müßig und überholt. An ihre Stelle tritt eine neue Wissenschaft der gesellschaftlichen Umgestaltung und Organisation, von deren Genauigkeit wir mit unseren althergebrachten politischen Programmen nur träumen konnten und die so tief in den Kulturbestand eines Volkes eindringen kann, wie dies bisher selbst in Nationen, die unter unseren ‘demokratischen’ Einrichtungen die beste politische Bildung genossen, nicht vorstellbar war." [2]

Der Literaturwissenschaftler Hans Mayer, der in seiner Jugend als "Roter Kämpfer" wie viele Linke der Weimarer Zeit innerhalb und außerhalb der KPD von Trotzkis politischen Ansichten recht wenig hielt, aber seine Schriften verschlang, schrieb in seiner Autobiografie "Ein Deutscher auf Widerruf": "Ich las Trotzkis Bücher voller Bewunderung. Welch ein Schriftsteller!" [3] In seinem Buch "Außenseiter" widmet er Trotzki ein ganzes Kapitel. Darin heißt es: "Man liest ein Buch wie ‘Mein Leben’ oder das Kapitel über Zar und Zarin in Trotzkis ‘Geschichte der Februarevolution’... als authentische Literatur, die sich nahezu von der besonderen Existenz ihres Verfassers unabhängig zu machen vermochte." [4]

Der Dramatiker Bertolt Brecht bezeichnete Trotzki als "größten lebenden Schriftsteller". Das berichtet Walter Benjamin in seiner Schilderung eines Gesprächs, das im Juni 1931 im Café du Centre im südfranzösischen Le Lavandou stattfand. [5] Brecht selbst hat eine Episode aus "Mein Leben" in einem Gedicht verarbeitet. [6]

Im Mai 1932 schrieb Benjamin, der sich eine Fußverletzung zugezogen hatte, seinem Freund Georg Scholem, er verbringe die Zeit mit Trotzkis "Geschichte der Februarrevolution": "Hat man einmal begonnen, so kann man ohnehin kaum aufstehen." [7] An Gretel Karplus (die Frau von Theodor W. Adorno) teilte er im selben Monat mit: "Ich habe erst die Geschichte der Februarrevolution von Trotzki gelesen und bin jetzt im Begriff, seine Autobiografie zu beendigen. Seit Jahren glaube ich nichts mit so atemloser Spannung in mich aufgenommen zu haben. Ohne jede Frage müssen Sie beide Bücher lesen. Wissen Sie, ob der zweite Band der Geschichte der Revolution - Oktober - bereits erschienen ist?" [8] Im April 1933 schrieb er derselben Adressatin, dass er von dem "gewaltigen Bauernroman... nun den Schlussband, den Oktober lese, wo die Meisterschaft von Kritrotz (sic) vielleicht noch größer als im ersten ist." [9] Auch weiteren Empfängern seiner Briefe empfiehlt er die Trotzki-Lektüre.

Der surrealistische Schriftsteller André Breton, der Trotzki 1938 in Mexiko besuchte und mit ihm und dem Maler Diego Rivera ein Manifest für die Freiheit der Kunst verfasste, bewundert Trotzkis Fähigkeit, sich in andere hineinzudenken und zu -fühlen. Seine größte Anziehungskraft bestehe aber in seiner "bedeutenden intellektuellen Begabung, die in Werken wie ‘Mein Leben’ oder ‘Geschichte der Russischen Revolution’ zu Tage tritt." [10]

Der Ökonom Fritz Sternberg, Autor eines umfangreichen Buches über den Imperialismus, führte 1934 lange Diskussionen mit Trotzki. Den Kontakt hatte Trotzkis Sohn Leo Sedow vermittelt, der in Berlin Vorlesungen Sternbergs besucht hatte. Sternberg notierte: "Trotzki war einer der größten Männer unseres Jahrhunderts. Er war ein genialer Mann. Er war ein Mann der Aktion... Trotzki war gleichzeitig ein großer Denker und ein genialer Schriftsteller, und das eigenartige - einzigartige - seiner Persönlichkeit ergab sich gerade daraus, dass er wie kein anderer im zwanzigsten Jahrhundert gleichzeitig ein Revolutionär, ein Feldherr, ein Denker und ein Schriftsteller war." [11]

Der französische Schriftsteller und Nobelpreisträger François Mauriac schrieb 1959 in seinen "Memoires intérieurs" über Trotzkis Autobiografie "Mein Leben": "Ich hatte in die Autobiografie von Trotski reingeschaut mit ein paar Hintergedanken, die, muss ich zugeben, nicht alle unschuldig waren. Die aktuelle Konjunktur in der UDSSR und das Abmontieren von Stalin hatte mich dazu gebracht dieses dicke Buch zu öffnen. Dieser außerordentliche politische Roman (denn nie wurde die Geschichte romanhafter) hat mich einen großen Schriftsteller entdecken lassen und, glaube ich, ein Meisterwerk." An anderer Stelle heißt es: "Bei Trotzki gibt es eine offensichtliche Verführung. Zunächst wundert sich der bürgerliche Leser immer, dass ein Revolutionär gemeinsame Züge mit einem gemeinen Sterblichen aufweist. Von den ersten Seiten an wurde ich gefesselt, wie mich nur Tolstoi und Gorki gefesselt haben. Wäre Trotzki nicht Aktiver in einer marxistischen Revolution geworden, hätte er seinen Platz unter den Meistern der Literatur gefunden." [12]

Historische Objektivität

Die "Geschichte der russischen Revolution" ist kein konventionelles Werk akademischer Historiker. Trotzki schildert Ereignisse, an denen er selbst in führender Position teilgenommen hat. Das macht sein Buch so einmalig. Es atmet die Authentizität und das Engagement des unmittelbar Beteiligten. Dennoch ist es weder ein autobiografisches noch ein Memoirenwerk. Trotzki unterstreicht das, indem er von sich selbst in der dritten Peron spricht. Sein Ziel umreißt er mit den Worten: "Die Geschichte der Revolution muss, wie jede Geschichte, vor allem berichten, was geschah und wie es geschah. Das allein jedoch genügt nicht. Aus dem Bericht selbst muss klar werden, weshalb es so und nicht anders geschah." [13]

Der Umstand, dass Trotzki die Revolutionsgeschichte als unmittelbar Beteiligter schrieb, löste seit Erscheinen des Buches Debatten darüber aus, ob er die nötige Distanz und Objektivität bewahrt habe. Es wurde ihm vorgeworfen, er sei zu nahe an den Ereignissen gewesen, lasse die für einen Historiker notwendige Distanz und Objektivität vermissen, stelle die Fakten falsch oder einseitig dar und ergreife Partei, indem er die Interessen und die Psychologie der herrschenden Klassen so überaus deutlich darstelle und ihnen die historisch fortschrittliche Rolle der Unterdrückten entgegensetze. Trotzki selbst hat sich sowohl im Vorwort als auch später zu diesen Vorwürfen geäußert. Er habe objektiv aber nicht unparteiisch geschrieben, als Beteiligter, der sich der objektiven historischen Bedeutung des Geschehens, seines eigenen Handelns eingeschlossen, bewusst war.

Den Einwand, der Historiker müsse über den kämpfenden Lagern stehen, wies er zurück. Dies sei bei der Darstellung unversöhnlicher gesellschaftlicher Gegensätze nicht möglich und diene lediglich dazu, den wirklichen Standpunkt des Autors zu vertuschen. "Der ernste und kritische Leser bedarf keiner verlogenen Unvoreingenommenheit, ... sondern der methodischen Gewissenhaftigkeit, die für ihre offenen, unverschleierten Sympathien und Antipathien eine Stütze in ehrlicher Erforschung der Tatsachen sucht, in der Feststellung ihres wirklichen Zusammenhanges, in der Aufdeckung der Gesetzmäßigkeit ihrer Folge. Dies ist die einzig mögliche historische Objektivität und dabei eine vollkommen ausreichende, denn sie wird überprüft und bestätigt nicht durch die guten Absichten des Historikers, für die obendrein er selbst einsteht, sondern durch die von ihm aufgedeckte Gesetzmäßigkeit des historischen Prozesses selbst." [14]

Was die ehrliche Erforschung der Tatsachen betrifft, hat Trotzki die Fakten weder verfälscht noch einseitig ausgewählt. Im Gegensatz zu Stalin und seinen "Historiografen", die sogar die Bilddokumente der Oktoberrevolution unterdrückten oder retouchierten, um ihre Herrschaft durch geschichtliche Fälschungen zu legitimieren, stützt sich seine Darstellung auf offizielle Dokumente und auf Erinnerungen, die nicht nur von Weggefährten, sondern auch von politischen Gegnern stammen. Die Zuverlässigkeit der Darstellung erweist sich gerade bei der Heranziehung "feindlicher" Quellen, wie der Erinnerungen von Suchanow oder Miljukow. Sie verleiht dem Text Glaubwürdigkeit und macht gleichzeitig die unterschiedlichen Klassenstandpunkte des Autors und der jeweils Zitierten deutlich.

Der Menschewist Theodor Dan hat zwar in einer langatmigen Rezension den Versuch unternommen, Trotzki Einseitigkeit, willkürliche Auswahl des herangezogenen Materials und einzelne "Fehler" nachzuweisen. Die angeblichen "Fehler" gehen aber im Wesentlichen auf Dans politische Gegnerschaft zu Trotzki und den Bolschewiki zurück. Seine "Richtigstellungen" präsentieren die historischen Ereignisse nicht "objektiver", sondern sind eine ideologische Interpretation der "Fakten" aus Sicht eines Gegners der Oktoberrevolution. [15]

Das entscheidende Kriterium der Objektivität war für Trotzki, wie wir bereits gesehen haben, die Aufdeckung der Gesetzmäßigkeit des historischen Prozesses: "Die Geschehnisse können weder als Kette von Abenteuern betrachtet noch auf den Faden einer vorgefassten Moral aufgezogen werden. Sie müssen ihrer eigenen Gesetzmäßigkeit gehorchen. In der Aufdeckung dieser Gesetzmäßigkeit sieht der Autor seine Aufgabe." [16] Unter historischen Gesetzen verstand er keine Postulate oder theoretischen Axiome, die dem objektiven Gang der Ereignisse übergestülpt werden, wie der Politikwissenschaftler Baruch Knei-Paz meint. [17] Er leitete sie materialistisch aus der Geschichte ab. Seine Rolle als marxistischer Denker, politischer Führer und Historiker ergänzten sich in dieser Frage ideal.

Ein Hauptmerkmal der russischen Revolution war der hohe Bewusstheitsgrad ihrer Führer, allen voran Lenins und Trotzkis. Sie ließen sich nicht von den Ereignissen treiben, sondern hatten die objektiven Triebkräfte und die soziale Dynamik der Revolution in jahrelanger Vorbereitungsarbeit theoretisch durchdacht und verstanden. Trotzki hatte die Klassendynamik der kommenden russischen Revolution seit zehn Jahren vorausgesehen. Gestützt auf die Erfahrungen der Revolution von 1905 war er zum Schluss gelangt, dass die Arbeiterklasse nicht beim demokratischen, bürgerlichen Stadium der Revolution stehen bleiben könne, sondern zur sozialistischen Umgestaltung der Gesellschaft übergehen müsse, um ihre elementaren demokratischen Rechte und Existenzbedingungen zu sichern. Diese Auffassung stand im Mittelpunkt seiner Theorie der permanenten Revolution, die er 1906 im Aufsatz "Ergebnisse und Perspektiven" darlegte. Sie wurde durch die Ereignisse des Jahres 1917 vollauf bestätigt. Nachdem Lenin im April nach Russland zurückgekehrt war, bildete sie die Grundlage der bolschewistischen Politik. Sie dient Trotzki auch als Leitfaden bei der Aufdeckung der Gesetzmäßigkeit der Revolution.

Im Gegensatz zu den Menschewiki, die das Schema der europäischen Revolutionen des 18. und 19. Jahrhunderts einfach mechanisch auf Russland übertrugen, stützte sich Trotzki auf das Gesetzes der ungleichen und kombinierten Entwicklung: "Die Ungleichmäßigkeit, das allgemeinste Gesetz des historischen Prozesses, enthüllt sich am krassesten und am verwickeltsten am Schicksal verspäteter Länder. Unter der Knute äußerer Notwendigkeit ist die Rückständigkeit gezwungen, Sprünge zu machen. Aus dem universellen Gesetz der Ungleichmäßigkeit ergibt sich ein anderes Gesetz, das man mangels passenderer Bezeichnung das Gesetz der kombinierten Entwicklung nennen kann, im Sinne der Annäherung verschiedener Wegetappen, Verquickung einzelner Stadien, des Amalgams archaischer und neuzeitiger Formen. Ohne dieses Gesetz, selbstverständlich in seinem gesamten materiellen Inhalt genommen, vermag man die Geschichte Russlands wie überhaupt aller Länder zweiten, dritten und zehnten Kulturaufgebots nicht zu erfassen." [18]

Die Besonderheit der russischen Revolution lag im Zusammenfallen des Bauernkriegs und des proletarischen Aufstands, die in den fortgeschrittenen europäischen Ländern Jahrhunderte auseinander lagen. "Wäre das Agrarproblem, als Erbe der Barbarei der alten russischen Geschichte, von der Bourgeoisie gelöst worden, hätte sie es zu lösen vermocht, das russische Proletariat hätte im Jahre 1917 keinesfalls an die Macht gelangen können. Um den Sowjetstaat zu verwirklichen, war die Annäherung und gegenseitige Durchdringung zweier Faktoren von ganz verschiedener historischer Natur notwendig: des Bauernkrieges, das heißt einer Bewegung, die für die Morgenröte der bürgerlichen Entwicklung charakteristisch ist, und des proletarischen Aufstandes, das heißt einer Bewegung, die den Untergang der bürgerlichen Gesellschaft bedeutet. Darin eben besteht das Jahr 1917." [19]

Im Vorwort zum zweiten Band fasst Trotzki den besonderen Charakter der russischen Revolution in den Worten zusammen: "Russland hat seine bürgerliche Revolution so spät vollzogen, dass es gezwungen war, sie in die proletarische umzuwandeln. Mit anderen Worten: Russland war hinter den übrigen Ländern so weit zurückgeblieben, dass es, wenigstens auf gewissen Gebieten, diese überholen musste. Das mag widersinnig erscheinen. Indes ist die Geschichte voll von solchen Paradoxen. Das kapitalistische England hatte andere Länder so weit überholt, dass es gezwungen war, hinter diesen zurückzubleiben. Pedanten glauben, die Dialektik sei müßiges Gedankenspiel. In Wirklichkeit reproduziert sie nur den Entwicklungsprozess, der in Widersprüchen lebt und sich bewegt." [20]

Masse und Führung

Viele Historiker denunzieren die Oktoberrevolution bis heute als "Verschwörung" und "Putsch" einer kleinen Gruppe bolschewistischer Revolutionäre. Sie behaupten, ihre Protagonisten hätten eine friedliche, bürgerlich-demokratische Entwicklung Russlands verhindert und damit die Grundlage für die spätere stalinistische Diktatur gelegt.

Trotzkis Buch widerlegt diese Auffassung überzeugend. "Die Geschichte der Revolution ist für uns vor allem die Geschichte des gewaltsamen Einbruchs der Massen in das Gebiet der Bestimmung über ihre eigenen Geschicke", schreibt er und schildert minutiös, wie die Massen, denen die alte Ordnung unerträglich wird, den "Fachmännern" des geschichtlichen Handwerks - den Monarchen, Ministern, Bürokraten, Parlamentariern, Journalisten - das Heft aus der Hand nehmen. [21] Er untersucht den psychologischen Prozess, der sich unter dem Druck des Krieges und der Politik der provisorischen Regierung unter den Arbeitermassen vollzieht. Allmählich durchschauen sie die Machenschaften der ihnen feindlich gesonnenen politischen Kräfte, der Versöhnler und Opportunisten, und überzeugen sich von der Folgerichtigkeit der Politik der Bolschewiki. Sie verstehen, dass sie nur so ihre elementaren Interessen - Brot, Land und Frieden - verwirklichen können. Aus dem spontanen Zorn entwickelt sich nach und nach das Verständnis, dass die Politik der provisorischen Regierung in die Sackgasse führt. Die sozialistische Perspektive der Bolschewiki setzt sich durch und beginnt ihr Handeln anzuleiten.

Trotzkis Verständnis der Sozialpsychologie der Massen unterscheidet sich grundlegend von den Auffassungen der Frankfurter Schule - den Konzeptionen Max Horkheimers, Theodor Adornos und Ludwig Marcuses -, die in den 1960er Jahren weite Verbreitung fanden. Für letztere ist die Massenpsychologie die Psychologie des Mobs, die Quelle reaktionärer Entwicklungen. Für Trotzki hingegen spielen die Massen keine reaktionäre, sondern eine fortschrittliche Rolle. Das heißt nicht, dass er die Probleme und Schwächen verschweigt, mit denen sie aufgrund der nicht selbst verschuldeten Rückständigkeit zu kämpfen haben. Er schildert die Sprünge, die sich im Bewusstsein der Massen vollziehen, gerade als Folge des Widerspruchs zwischen ihrem Konservativismus und der Reife der objektiven Lage.

Für Trotzki war die Oktoberrevolution zwar historisch unvermeidbar, ihr Sieg aber keineswegs vorherbestimmt. Ausschlaggebend für die revolutionäre Situation und letztlich auch des Bewusstseins der Akteure waren die objektiven Bedingungen. Zu einem bestimmten Zeitpunkt war aber das subjektive Handeln der revolutionären Führung entscheidend für den Sieg des Proletariats. Trotzki stellt das Verhältnis der Massen und ihrer Führer und die Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte ebenso meisterhaft dar, wie die Entwicklung der objektiven Bedingungen.

Über Lenin schreibt er: "Die Rolle der Persönlichkeit tritt hier vor uns in wahrhaft gigantischem Maßstabe auf. Nur muss man diese Rolle richtig begreifen und die Persönlichkeit als ein Glied der historischen Kette betrachten. Lenins "plötzliche" Ankunft aus dem Auslande nach langer Abwesenheit, der wilde Lärm der Presse um seinen Namen, der Zusammenstoß Lenins mit allen Führern der eigenen Partei und sein schneller Sieg über sie - kurz die äußere Hülle der Ereignisse hat in diesem Falle stark zur mechanischen Gegenüberstellung von Person, Held, Genie, objektiven Verhältnissen, Masse, Partei beigetragen. In Wirklichkeit ist eine solche Gegenüberstellung völlig einseitig. Lenin war kein zufälliges Element der historischen Entwicklung, sondern Produkt der gesamten vergangenen russischen Geschichte. Er war tief in ihr verwurzelt. Gemeinsam mit den fortgeschrittenen Arbeitern hatte er während des vorangegangenen Vierteljahrhunderts ihren ganzen Kampf mitgemacht." [22]

Was Trotzki hier so treffend beschreibt, gilt zweifellos nicht nur für Lenin, sondern auch für ihn selbst. Vergleicht man seine Darstellung mit der anderer Augenzeugen, wie etwa John Reed, so scheint er seine eigene Rolle bewusst hinter der Lenins zurückzustellen. Reed gibt die folgende begeisterte Darstellung von Trotzkis Wirkung als Redner: "Und dann stand Trotzki auf der Tribüne, selbstsicher, faszinierend, das ihm eigene sarkastische Lächeln um den Mund. Er sprach mit weithin schallender Stimme, die Masse zu sich emporreißend... Und die Massen jubelten ihm zu, zu kühnem Wagen entflammt bei dem Gedanken, dass sie berufen sein sollten, die Vorkämpfer der Menschheit zu sein. Und von dem Augenblick an lebte in den aufständischen Massen, in all ihren Aktionen, etwas Bewusstes und Entschlossenes, was sie nie wieder verließ." [23]

Trotzkis Begabung als Redner und Organisator beruhte auf denselben Fähigkeiten wie seine Meisterschaft in der Kunst des Aufstands, die er als Vorsitzender des Petersburger Sowjets und Leiter des militärischen Revolutionskomitees beherrschte und in ihrer praktischen Entfaltung im Buch höchst spannend beschreibt - auf seiner präzisen Analyse der objektiven Situation einschließlich der Interessen und der Psychologie der jeweiligen Akteure aller Klassen. Beides basierte auf seinem Gespür für die Bedürfnisse und das Bewusstsein der Massen und seiner Fähigkeit, die Absichten der Gegner zu begreifen und vorauszusehen.

Ein Stück Weltliteratur

Trotzkis "Geschichte der Russischen Revolution" ist nicht nur ein geniales historisches Werk, sondern auch ein Stück Weltliteratur, das so manches fiktive Werk in den Schatten stellt. Der Autor beschreibt vom heutigen Standpunkt aus lange zurückliegende Ereignisse und Personen, die - außer Historikern - nur wenige Menschen noch kennen und einordnen können. Aber seine Beschreibungen sind so spannend und kurzweilig, seine Charakteristiken so plastisch, dass sie wieder lebendig werden und erstaunliche Ähnlichkeiten zur heutigen Politprominenz aufweisen. Auch die herrschenden Klassen im alten Russland beschreibt Trotzki nicht in trockenen Abhandlungen. Die Schilderung der Ereignisse und der Personen ist von einer Lebendigkeit und Klarheit, die den Leser mitten ins Geschehen versetzt, ohne dass er den Kompass verliert, um sie historisch und gesellschaftlich einzuordnen. Sein Buch steht in der Tradition der großen russischen Erzähler, vergleichbar mit Tolstois "Krieg und Frieden".

Wie Juliana Ranc [24] nachweist, hatte Trotzki zeitlebens ein großes Interesse an Literatur. Er setzte sich in seiner Jugend intensiv mit der klassischen und der Gegenwartsliteratur seiner Zeit auseinander und wollte selbst Schriftsteller werden. Er lebte sowohl während der Jahre seines ersten und zweiten Exils vor 1917 als auch nach seiner Verbannung aus der Sowjetunion 1927 fast ausschließlich von seiner Tätigkeit als Journalist und politischer Schriftsteller. So schrieb er glänzende Reportagen über den Balkankrieg und den Ersten Weltkrieg für russische Zeitungen.

Ein Beispiel für Trotzkis meisterhafte Ironie findet sich in seiner Schilderung der Auseinandersetzungen innerhalb der provisorischen Regierung: "Zeretelli, ein unerschöpflicher Born von Gemeinplätzen, entdeckte, dass das Haupthindernis für eine Verständigung ‘bislang im gegenseitigen Misstrauen bestand... Dieses Misstrauen muss beseitigt werden’. Außenminister Tereschtschenko errechnete, dass von den 197 Lebenstagen des Bestehens der revolutionären Regierung 56 auf Krisen verbraucht worden waren. Worauf die übrigen Tage verbraucht wurden, erklärte er nicht." [25]

Wenn Trotzki anekdotenhaft einzelne Episoden erzählt, so illustrieren sie nicht nur die Ereignisse, sondern haben immer auch eine präzise Funktion für die Deutung der soeben dargestellten historischen Situation. Das macht seine Geschichte zu einem kaleidoskopartigen historischen Gemälde, wie sie in der Malerei der Renaissance üblich waren. Ein Beispiel dafür ist die Schilderung des Ausbruchs der Februarrevolution.

Obwohl die Arbeiterkomitees einschließlich der bolschewistischen in St. Petersburg beschlossen hatten, von einem Streik zurückzuhalten, kam es am internationalen Frauentag ganz anders: "Am andern Morgen jedoch traten den Direktiven zuwider die Textilarbeiterinnen einiger Fabriken in den Ausstand und entsandten Delegierte zu den Metallarbeitern mit der Aufforderung, den Streik zu unterstützen. ‘Schweren Herzens’, schreibt Kajurow, gingen die Bolschewiki darauf ein, denen sich die menschewistischen und sozialrevolutionären Arbeiter anschlossen. Wenn aber Massenstreik, dann müsse man alle auf die Straße rufen und sich selbst an die Spitze stellen: Diesen Beschluss setzte Kajurow durch, und das Wyborger Komitee musste ihm beistimmen. ‘Der Gedanke an eine Aktion reifte unter den Arbeitern schon längst, nur ahnte in diesem Augenblick niemand, welche Formen sie annehmen würde.’ Merken wir uns dieses Zeugnis eines Teilnehmers, das für das Verständnis der Mechanik der Ereignisse sehr wichtig ist... Die Tatsache bleibt also bestehen, dass die Februarrevolution von unten begann nach Überwindung der Widerstände der eigenen revolutionären Organisationen, wobei die Initiative von dem am meisten unterdrückten und unterjochten Teil des Proletariats, den Textilarbeiterinnen, unter denen, wie man sich denken kann, nicht wenig Soldatenfrauen waren, spontan ergriffen wurde. Den letzten Anstoß gaben die immer länger werdenden Brotschlangen. Ungefähr 90 000 Arbeiterinnen und Arbeiter streikten an diesem Tage. Die Kampfstimmung entlud sich in Demonstrationen, Versammlungen und Zusammenstößen mit der Polizei." [26]

Ein weiteres Beispiel ist das Zusammentreffen einer Arbeiterdemonstration mit einem Kosakenregiment zu Beginn des Aufstands. [27] Auch die Beschreibung der armseligen konterrevolutionären Belegschaft des Winterpalais vor der Eroberung durch die Revolutionäre oder die Schilderung der Verhandlungen des Sowjetkongresses vom 3. Juni zeigen Trotzkis Fähigkeit, historisch herausragende Ereignisse ebenso witzig wie dramatisch und einprägsam zu beschreiben oder sie ironisch in ihrer Erbärmlichkeit zu karikieren.

Hervorzuheben ist auch sein Vergleich des Kongresses der Sowjetdiktatur vom 25. Oktober, des "demokratischsten aller Parlamente der Weltgeschichte", mit dem Sowjetkongress nach der Februarrevolution: "Das Äußere des Kongresses gab ein Bild von seiner Zusammensetzung. Offizierachselstücke, Intellektuellenbrillen und Krawatten des ersten Kongresses waren fast völlig verschwunden. Ungeteilt herrschte die graue Farbe, in der Kleidung wie auf den Gesichtern. Alles war durch die Dauer des Krieges abgetragen. Viele städtische Arbeiter hatten sich Soldatenmäntel zugelegt. Die Schützengrabendelegierten sahen gar nicht malerisch aus: seit langem unrasiert, in alten, zerrissenen Mänteln, in schweren Pelzmützen, aus denen nicht selten Watte herausquoll über zerzaustem Haar. Grobe verwitterte Gesichter, schwere, rissige Hände, von Tabak gelbe Finger, abgerissene Knöpfe, herabhängende Mantelgurte, verschrumpfte, rotgelbe, längst nicht mehr geschmierte Stiefel. Die plebejische Nation hatte zum ersten Mal eine ehrliche, ungeschminkte Vertretung nach ihrem eigenen Ebenbild entsandt." [28]

Unvergleichlich sind seine Charakterdarstellungen des Zaren und der Zarin wie ihres Anhangs, der Vertreter des Adels, der Großgrundbesitzer, der Geistlichkeit, der Beamten, der Offiziere, der Großbourgeoisie und der politischen Führer der "Liberalen" wie Miljutin, Rodsjanko und Gutschkow. Er beschreibt, wie all diese Leute eng mit dem imperialistischen Krieg verknüpft und davon abhängig sind, dass er weiter geführt wird. So enthalten seine Charakterdarstellungen der einzelnen Personen zugleich die historische Einschätzung ihres Wirkens.

Die Vertreter der Bourgeoisie befürworteten zwar Reformen und parlamentarische Demokratie, waren aber jederzeit zur Unterordnung unter den Zaren bereit, wenn es darum ging, die Ansprüche der Arbeiterklasse abzuwehren. Gleichzeitig machte ein beträchtlicher Teil der Bourgeoisie ungeheure Gewinne mit dem Krieg, während sich die Versorgung in den Städten immer mehr verschlechtert. "Dutzende und Hunderte von Millionen, die zu Milliarden anwuchsen, durch weitverzweigte Kanäle geleitet, berieselten reichlich die Industrie und stillten unterwegs noch eine Menge Appetite. In der Reichsduma und in der Presse wurden einige Kriegsgewinne für das Jahr 1915 bis 1916 bekannt gegeben: Die Gesellschaft des Moskauer liberalen Textilfabrikanten Rjabuschinski wies 75 Prozent Reingewinn aus; die Twerer Manufaktur sogar 111 Prozent; das Kupferwalzwerk Koljtschugin warf bei einem Grundkapital von 10 Millionen 12 Millionen Gewinn ab. Die Tugend des Patriotismus wurde in diesem Sektor im Überfluss und dabei unverzüglich belohnt." [29] Als sich die Klassenauseinandersetzungen in den Monaten nach der Februarrevolution zuspitzten, waren diese Leute bereit, die demokratische Fassade fallen zu lassen, und verbündeten sich mit Kornilow, der das Ziel hatte, eine Militärdiktatur zu errichten.

Wunderbar ist auch die Darstellung Kerenskis, des letzten Chefs der Provisorischen Regierung, die haargenau mit dem Bild übereinstimmt, das man von Kerenski aus den Dokumentaraufnahmen der damaligen Zeit kennt. Den Charakter der Militärs trifft Trotzki mit den Worten: "Das Einzige, was die russischen Generale mit Schwung taten, war das Herausholen von Menschenfleisch aus dem Lande. Mit Rind- und Schweinefleisch ging man unvergleichlich sparsamer um." [30]

Nicht unbeteiligt am Erfolg der "Geschichte der Russischen Revolution" ist die Übersetzung von Alexandra Ramm-Pfemfert. Durch ihre enge Zusammenarbeit mit dem Autor, der ihre Arbeit sehr schätzte und voll autorisiert hat, ist es offensichtlich gelungen, den Text so stimmig aus dem Russischen ins Deutsche zu übertragen, wie es bei solchen Werken nur selten gelingt. Das ging nicht ohne Konflikte ab. Der Briefwechsel zwischen Autor und Übersetzerin zeugt davon, wie um die präzise Übertragung so manchen Wortes oder Satzes gerungen wurde. [31] Nicht unterschätzt werden dürfen auch der Beitrag, den sie durch die Beschaffung von Quellenmaterial zu diesem Werk leistete, wobei sie große Findigkeit und Mut bewies, sowie ihre hartnäckigen Verhandlungen mit Verlagen und die vielfältige Unterstützung Trotzkis und seiner Familie. Dies war umso bedeutender, als Trotzki diese Zeit der schlimmsten Wirtschaftskrise mit den wenigen Angehörigen, die Stalins Verfolgung entkommen konnten, im erzwungenen Exil auf der türkischen Insel Prinkipo ohne Zugang zu Bibliotheken oder Archiven verbringen musste.

Marxistisches Erbe

Lenin und Trotzki hatten 1917 fest damit gerechnet, dass der sowjetische Arbeiterstaat bald Unterstützung durch das siegreiche Proletariat fortgeschrittener Länder erhalten werde. Doch die revolutionären Aufstände, die nach Kriegsende in Deutschland, Ungarn und anderen europäischen Ländern ausbrachen, wurden niedergeschlagen. Das forderte von der Sowjetunion einen schweren Tribut. Sie blieb isoliert. Die durch Krieg und Bürgerkrieg verschärfte ökonomische Rückständigkeit zwang die Bolschewiki zu marktwirtschaftlichen Zugeständnissen und ließ die Bürokratie in Staat und Partei anwachsen. Die konservative Bürokratie fand in Stalin ihren Führer und vertrieb nach und nach alle oppositionellen Strömungen aus der Partei, allen voran die Linke Opposition, die sich 1923 unter Trotzkis Führung gebildet hatte.

1929 gelangte die stalinistische Bürokratie zum Schluss, dass ihre Herrschaft sicherer sei, wenn sie ihren schärfsten Kritiker außer Landes bringe. Trotzki wurde deportiert. Stalin errichtete in der Sowjetunion ein Terrorregime, dem nach und nach fast die gesamte Führungsschicht der Oktoberrevolution sowie Hunderttausende revolutionäre Arbeiter, Intellektuelle, Ingenieure und Offiziere zum Opfer fielen. Trotzki selbst wurde am 20. August 1940 im mexikanischen Exil von einem stalinistischen Agenten ermordet. Die Kommunistische Internationale verwandelte sich unter stalinistischer Führung in ein Werkzeug der sowjetischen Außenpolitik, die weltweit jede revolutionäre Initiative abwürgte. In Deutschland hatte sie der Kommunistischen Partei einen Kurs aufgezwungen, der die Arbeiterklasse spaltete und den Nationalsozialisten die Machtübernahme ermöglichte.

Trotzki konzentrierte seine letzten elf Lebensjahre im Exil darauf, das marxistische Erbe gegen die stalinistische Konterrevolution zu verteidigen und eine neue Internationale aufzubauen. Am 21. März 1935 bemerkte er in seinem Tagebuch: "... der Zusammenbruch zweier Internationalen hat ein Problem entstehen lassen, zu dessen Lösung kein einziger Führer dieser Internationalen auch nur im Geringsten geeignet ist. Im Vollbesitz schwerwiegender Erfahrungen, bin ich durch die besonderen Umstände meines persönlichen Schicksals mit diesem Problem konfrontiert. Gegenwärtig gibt es niemanden außer mir, der die Aufgabe erfüllen könnte, die neue Generation mit der Kenntnis der Methode der Revolution über die Köpfe der Führer der Zweiten und Dritten Internationale hinweg auszurüsten." [32]

Die "Geschichte der russischen Revolution" fügt sich nahtlos in diese Arbeit ein. Angesichts der Flut von Geschichtsfälschungen, die mit offizieller Rückendeckung des sowjetischen Staatsapparats produziert wurden und in antikommunistischen Kreisen des Westens ein willkommenes Echo fanden, hielt es Trotzki für unverzichtbar, den wirklichen Verlauf und die Bedeutung der Oktoberrevolution auch kommenden Generationen zu überliefern. Trotz der schweren Schläge, die er selbst, seine Familie und die Vierte Internationale unter der doppelten Verfolgung durch Stalinismus und Faschismus erlitten, hielt er Zeit seines Lebens an seinem revolutionären Optimismus fest. Er war überzeugt, dass "die Gesetze der Geschichte stärker sind als die bürokratischen Apparate". [33]

Die gegenwärtige Krise ruft ein wachsendes Interesse an Fragen der Geschichte hervor. Die sozialen Gegensätze haben wieder ein Ausmaß erreicht, das an die schlimmsten Zeiten des zaristischen Selbstherrschertums erinnert. Die Neuauflage von Trotzkis "Geschichte der russischen Revolution" führt einer Generation, die keine sozialen Kämpfe erlebt hat, die Klassendynamik einer Volkserhebung vor Augen. Sie zeigt die verschiedenen Phasen ihrer Entwicklung und den Lernprozess der Massen, die sich vom unterdrückten, ausgebeuteten Kanonenfutter zum selbstständig handelnden historischen Subjekt erheben. Sie ist ein Handbuch der sozialen Revolution.

Um es mit Trotzkis eigenen Worten zu sagen: "Die Geschichte hätte keinen Wert, wenn sie uns nichts lehren würde. Die machtvolle Planmäßigkeit der russischen Revolution, die Kontinuierlichkeit ihrer Etappen, die Unüberwindlichkeit des Massenvorstoßes, die Vollendung der politischen Gruppierungen, die Prägnanz der Parolen, all das erleichtert aufs Äußerste das Verständnis für die Revolution im Allgemeinen und damit auch für die menschliche Gesellschaft. Denn man darf durch den gesamten Verlauf der Geschichte als erwiesen betrachten, dass eine von inneren Widersprüchen zerrissene Gesellschaft nicht nur ihre Anatomie, sondern auch ihre ‘Seele’ gerade in der Revolution restlos enthüllt." [34]

Essen, den 5. Oktober 2009

Sybille Fuchs

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Anmerkungen

1) E. H. Carr: Die Russische Revolution, Lenin und Stalin 1917-1929, Stuttgart, 1980

2) Edmund Wilson: Trotsky, in The new Republic, 4. und 11. Januar 1933, S. 237

3) Hans Mayer. Ein Deutscher auf Widerruf, Erinnerungen. Bd. 1, Franfurt am Main 1982, S. 157

4) Hans Mayer. Außenseiter, Frankfurt am Main, 1975, S. 434

5) Zitiert nach Werner Hecht. Brecht Chronik 1898 -1956, Frankfurt 1997, S. 308

6) Bertolt Brecht . Die Bolschewiki entdecken im Sommer 1917 im Smolny, wo das Volk vertreten war: In der Küche. In: Gesammelte Werke, Bd. 8, Frankfurt 1967, S. 392

7) Walter Benjamin: Gesammelte Briefe, Bd. 4, Frankfurt, 1998, S. 97

8) ebd. S. 97

9) ders. Gesammelte Briefe, Bd. 4, Frankfurt, 1998, S. S. 187

10) Leo Trotzki 1897-1940. In den Augen von Zeitgenossen. Hamburg 1979, S. 168

11) Fritz Sternberg: Erinnerungen an Trotzki. In: Gewerkschaftliche Monatshefte. - 14. 1963, S. 711-722

12) François Mauriac, Memoires intérieurs, Paris 2006, S. 133

13) Band "Februarrevolution" S. 1

14) Band "Februarrevolution" S. 5

15) Theodor Dan. Zur Geschichte der Russischen Revolution. In: Die Gesellschaft. Internationale Revue für Sozialismus und Politik, Bd. 1. 1931. S. 440-455

16) Band "Februarrevolution" S. 1

17) Baruch Knei-Paz: The social and political thought of Leon Trotsky, Oxford 1978

18) Band "Februarrevolution" S. 9

19) Band "Februarrevolution" S. 47

20) Band "Oktoberrevolution" S. 7

21) Band "Februarrevolution" S. 1

22) Band "Februarrevolution" S. 279 f.

23) John Reed: 10 Tage, die die Welt erschütterten. Berlin 1977, S. 199; 201

24) Juliana Ranc. in ihrem Buch Trotzki und die Literaten, Stuttgart 1997

25) Band "Oktoberrevolution" S. 295

26) Band "Februarrevolution" S. 90 f.

27) Band "Februarrevolution" S. 92 f.

28) Band "Oktoberrevolution" S. 555

29) Band "Februarrevolution" S. 25

30) Band "Februarrevolution" S. 20

31) Der Briefwechsel ist enthalten in: Juliana Ranc : Alexandra Ramm-Pfemfert. Ein Gegenleben, Hamburg 2003

32) Leo Trotzki. Tagebuch im Exil, München 1962, S. 53

33) Leo Trotzki, Das Übergangsprogramm, Essen 1997, S. 86

34) Band "Oktoberrevolution" S. 7

Siehe auch:
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