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Ein Jahr nach dem Zusammenbruch von Lehman Brothers

Von Nick Beams
16. September 2009
aus dem Englischen (15. September 2009)

Heute vor einem Jahr brach die 158 Jahre alte Investmentbank Lehman Brothers, die viertgrößte Bank der USA, zusammen. Sie trat eine Lawine los, die das gesamte globale Finanzsystem in den Abgrund zu reißen drohte.

Zwei Tage später stellte die US-Regierung 85 Milliarden Dollar Rettungsgelder für den Versicherungsriesen American International Group (AIG) zur Verfügung, und in den darauf folgenden Wochen kam es zu einer Panik an den internationalen Geldmärkten, die zusammen einen Umfang von 3,6 Billionen Dollar hatten. Der Markt für kurzfristige Anleihen erstarrte. Normalerweise liefert er den Schmierstoff für die globale kapitalistische Wirtschaft. Auf allen Märkten kamen Finanztransaktionen fast völlig zum Stillstand. Banken und Finanzhäuser hielten ihr Geld zurück, weil sie fürchteten, es selbst zu benötigen, oder aus Angst, dass ihre Kunden, die sich Geld leihen wollten, zusammenbrechen könnten.

Die unmittelbare Ursache der Krise war der Niedergang des amerikanischen Hypothekenmarkts Anfang 2007. Dieser war durch die Wohnungsbau-Blase des vorausgegangenen Jahrzehnts mit billigen Krediten angeheizt worden. Der Handel mit Hypotheken gestützten Wertpapieren erlangte für die Wall Street Banken und Investmenthäuser immer größere Bedeutung. Die Folge war eine enorme Ausweitung des so genannten Subprime-Marktes, an dem immer riskantere Investitionen getätigt wurden.

Das Ende des Wohnungsbau-Booms bewirkte im August 2007 einen steilen Einbruch der Börsenkurse an der Wall Street. Es gab Voraussagen, dass der Index an einem einzigen Tag um 1.000 Punkte einbrechen könnte. Gleichzeitig breitete sich die Krise über die ganze Welt aus. Zwei deutsche Banken, die stark in den Sog des amerikanischen Hypothekenmarktes geraten waren, mussten gerettet werden.

Die amerikanische Zentralbank Federal Reserve Board intervenierte, wie sie schon häufig in finanziell stürmischen Zeiten interveniert hatte. So beim Wall Street Crash vom Oktober 1987 und bei der Asienkrise von 1997. Sie hatte auch 1997 interveniert, als der Hedge Fonds Long Term Capital Management zusammengebrochen war, und 2001, beim Platzen der dot.com-Blase. Auch diesmal senkte die Fed die Zinsen und erleichterte die Kreditkonditionen. Aber dieses Mal versagten die Mechanismen der Krisenbewältigung.

In den folgenden Monaten nahmen die Probleme auf den Finanzmärkten immer mehr zu, und im März 2008 kam es zur Explosion. Jetzt organisierte die US-Regierung unter Einsatz von dreißig Milliarden Dollar die Übernahme der Investmentbank Bear Sterns durch JPMorgan Chase. Bear Sterns, der zweitgrößte amerikanische Hypothekengeber, war von dem Zusammenbruch von zweien seiner Hedge Fonds im vorhergehenden Juli schwer getroffen. Es gab Befürchtungen, dass die Bank nicht genügend flüssige Mittel haben könnte, um die Ansprüche ihrer Gläubiger zu befriedigen.

In einer Erklärung der World Socialist Web Site vom 18. März wurde die Bedeutung des Zusammenbruchs von Bear Sterns dargestellt: "Wie sich die Ereignisse an der Wall Street in den nächsten Wochen auch genau entwickeln werden, eines steht jetzt schon fest: Es entfaltet sich eine Krise von historischen Ausmaßen. Nach jahrzehntelanger unablässiger Medienpropaganda, die uns von der Unfehlbarkeit des kapitalistischen Marktes und der Genialität der Finanzgenies an der Wall Street überzeugen wollte, steht die Wirtschaft der Vereinigten Staaten nun am Rande eines Zusammenbruchs wie zuletzt während der Großen Depression in den 1930er Jahren."

Nur sechs Monate später wurde diese Warnung bestätigt.

Die Krise vom September und Oktober 2008 löste Rettungsprogramme aller Regierungen aus. In den USA und auf der ganzen Welt stellten Regierungen Gelder in beispielloser Höhe bereit. Allein in den USA standen 23,7 Billionen Dollar auf dem Spiel, falls alle Garantien fällig würden. Es wurde behauptet, dass die massive Zufuhr von Geldern in das Finanzsystem notwendig war, um eine wirtschaftliche Katastrophe abzuwenden. Aber die Art und Weise, wie die Operation von Anfang an organisiert wurde, entlarvt ihren wesentlichen Inhalt: Die mächtigsten Finanzinteressen mussten mit allen Mitteln geschützt werden.

Die ersten Pläne wurden von einer kleinen Gruppe von Experten unter Führung des damaligen Finanzministers und vormaligen Vorstandschefs von Goldman Sachs, Henry Paulson, ausgearbeitet, die sich in den Büros der New York Federal Reserve trafen. Zu ihnen gehörten auch Timothy Geithner, der jetzige Finanzminister und damalige Präsident der New York Federal Reserve, und Lloyd Blankfein, der Vorstandschef von Goldman Sachs.

Später wurde oft die Frage gestellt: Warum wurden Lehman Brothers nicht gerettet, aber zwei Tage später AIG mit 85 Milliarden Dollar? Nicht alle wussten, dass Goldman Sachs AIGs größter Handelspartner war, und Goldman Sachs hätte mindestens zwanzig Milliarden Dollar verloren, wenn der Versicherungsgigant untergegangen wäre.

Die ersten Treffen gaben das Prozedere vor, nach dem auch die folgenden Rettungsaktionen abliefen: Sie wurden von Banken für Banken ausgearbeitet. Die Regierungsvertreter hatten die Aufgabe, das notwendige Geld zu beschaffen und für die entsprechenden Gesetze zu sorgen.

Die globale Finanzkrise leitete die tiefste Rezession seit den 1930er Jahren ein. Die Industrieproduktion, der Welthandel und die globalen Aktienkurse brachen bis Juni diesen Jahres stärker ein als im vergleichbaren Zeitraum von 1929-30. Die Bankenrettungsmaßnahmen und Konjunkturprogramme, die die Regierungen großer Staaten schnürten, umfassten viele Billionen Dollar und beliefen sich auf bis zu achtzehn Prozent des globalen Bruttosozialprodukts.

Diese massiven Ausgabenprogramme haben Anzeichen einer "Erholung" gebracht. Die Aktienkurse steigen wieder, das Finanzsystem erlebt eine gewisse Stabilisierung, und vor allem die Profite der Banken haben sich wieder erholt. Aber die Lage der Arbeiterklasse verschlechtert sich ständig. Die Arbeitslosigkeit hat in den USA und in Europa fast zehn Prozent erreicht.

Die Billionen Dollar wurden nicht ausgegeben, um die tiefer liegenden Probleme zu lösen, die in die Krise geführt haben. Keiner der Verantwortlichen wurde zur Rechenschaft gezogen, und die gleichen Methoden der Finanzwirtschaft, die zu dem Crash beigetragen haben, werden weiter praktiziert.

Die Krise ist nicht gelöst. Die riesigen Schulden und "vergifteten Wertpapiere" der Banken und Finanzinstitute sind lediglich in die Hände des kapitalistischen Staates ausgelagert worden, der als Exekutivkomitee der Finanzaristokratie auftritt. Jetzt sollen diese Schulden durch massive Angriffe auf die soziale Lage der Arbeiterklasse eingetrieben werden.

Vor kurzem hielt der Exekutivdirektor des Internationalen Währungsfonds, Dominique Strauss-Kahn, eine Rede, in der er die Notwendigkeit einer "Exit-Strategie" betonte. Er erklärte, welche Maßnahmen er für notwendig hält: "Der wichtigste Schritt ist, die Kosten für die Renten und die Gesundheitsversorgung unter Kontrolle zu halten... Auf diesen Feldern mögen Kostensenkungsprogramme zwar politisch schwer durchzusetzen sein, aber sie sind für eine Stabilisierung der Haushalte entscheidend."

Dieses Programm ist schon im Gange. In den USA hat sich die Obama-Regierung nach der "Umstrukturierung" der Auto-Industrie jetzt der "Reform" der Gesundheitssystems zugewandt. In Großbritannien wird jede Regierung, die bei den nächsten Wahlen ins Amt gewählt wird, massive Ausgabenkürzungen durchsetzen. Ein Artikel in der Londoner Financial Times betonte vor wenigen Tagen, dass die privaten Ausgaben in Großbritannien gegenüber 2006-2007 um zwanzig Prozent reduziert werden müssten. In Australien, das sich nicht einmal offiziell in der Rezession befindet, bereitet die Labor-Regierung unter Rudd die Bevölkerung auf einen "schmerzlichen Aufschwung" vor. Sie hat sich verpflichtet, das Haushaltsdefizit zu senken.

Offiziell wird zwar viel über "Erholung" und die "Wende" gesprochen, aber die etwas weiter blickenden Kommentatoren erklären, es sei nichts gelöst; die Gefahr eines erneuten Zusammenbruchs nehme noch zu.

Dem ehemaligen Chefökonomen des IWF, Simon Johnson, zufolge, ist kaum eine "Reform" des Finanzsystems in Sicht, geschweige denn auf dem Tisch. Die "Fakten", sagt er, sind klar: "Unseren Banken und ihren ’innovativen Finanzprodukten’ sind die Zähne nicht gezogen worden. Sie sind in Wirklichkeit noch gefährlicher geworden... Wir sind durch eine ungeheure Krise gegangen - und haben gesehen, wie nah wir einer zweiten Großen Depression waren. Aber nichts geschieht, um eine ähnliche Entwicklung in der Zukunft zu verhindern."

Ein Jahr danach muss die Arbeiterklasse die notwendigen Lehren aus dieser Krise ziehen. Gleich, wie die unmittelbare wirtschaftliche Entwicklung weitergeht, sie muss die Dinge selbst in die Hand nehmen und die drohende Katastrophe, die über ihrem Haupt schwebt, abwenden.

Es gibt für diese historische Krise im Rahmen des Kapitalismus keine rationale Lösung. Nur wenn das Profitsystem beseitigt und die Finanzoligarchie entmachtet wird, die die politische Macht praktisch usurpiert hat, ist es möglich, die Zukunft zu sichern und eine geplante sozialistische Wirtschaft aufzubauen. Das ist die Perspektive des Internationalen Komitees der Vierten Internationale und der World Socialist Web Site.

Siehe auch:
Europa: Was steckt hinter der Aufschwungseuphorie?
(20. August 2009)
Obama verkündet Wirtschafts-"Aufschwung"
( 4. August 2009)