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US-Kommandeur will noch 60.000 Soldaten mehr nach Afghanistan schicken

Von Tom Eley
15. Oktober 2009
aus dem Englischen (10. Oktober 2009)

Die Maximalforderung für die Erhöhung der US-Truppenstärke, die Gen. Stanley McChrystal Barack Obama vorgelegt hat, ist laut anonymen Regierungsquellen erheblich höher als die 40.000, von denen bisher berichtet wurde. McChrystal ist US- und NATO-Oberbefehlshaber in Afghanistan.

McChrystal hat Obama drei Szenarien für die Truppenstationierung in Afghanistan präsentiert. Im ersten setzen die USA 60.000 weitere Soldaten ein. Im zweiten - das ist die Version, für die McChrystal in der Öffentlichkeit eintritt - stationieren die USA 40.000 weitere Soldaten. Im dritten Szenario schickt Obama nur geringfügig mehr Soldaten als die 68.000, die Afghanistan am 1. Januar besetzt halten. McChrystal erklärt jedoch, diese Alternative würde zum "Scheitern der Mission" - d.h. zur Niederlage - führen.

Obama ist dabei, mehrere Treffen auf Ministerebene abzuhalten, bei denen die Forderung von McChrystal diskutiert wird. Außerdem geht es um einen konkurrierenden Vorschlag, der die gegenwärtige Truppenstärke beibehalten würde, aber gleichzeitig mehr auf Bombardierungen aus der Luft, gezielte Ermordungen und eine erweiterte Intervention im benachbarten Pakistan setzt. Berichten zufolge befürwortet Vizepräsident Joe Biden diese Alternative.

Anonym durchgesickerte Informationen, McChrystal habe nicht weniger als 60.000 weitere Soldaten angefordert, zielen offenbar darauf ab, die öffentliche Meinung auf eine Stationierung von weit mehr als den 21.000 Soldaten vorzubereiten, die Obama kurz nach seinem Amtsantritt nach Afghanistan beordert hat.

Es war geplant, dass McChrystal sich mit Obama am Freitag in Washington trifft. Das Weiße Haus hat sein Eintreffen jedoch verschoben, um die Beratungen fortzusetzen. Er hat per Telekonferenz an den "Strategiebesprechungen" teilgenommen.

Die Diskussion innerhalb der Obama-Regierung über die Höhe des Truppenkontingents wurde Berichten zufolge mit einer grundsätzlichen Diskussion darüber verbunden, ob man die Mission in Afghanistan nicht neu ausrichten sollte und als Ziel nicht den Sieg über die Taliban, sondern stattdessen die Verhinderung einer Rückkehr von Al Qaida ausgeben sollte.

"Die Obama-Regierung ist zum Schluss gekommen, dass die Taliban als politische oder militärische Bewegung nicht zerstört werden können, gleichgültig wie viele Truppen in den Kampf geschickt werden", berichtet die Washington Post am Freitag.

"Die Taliban sind eine in Afghanistan tief verwurzelte politische Bewegung, was eine andere Vorgehensweise erfordert als bei Al Qaida", erklärte ein hoher Regierungsbeamter. Die Post berichtet, dass Vertreter der Regierung die Taliban mit der Hisbollah verglichen hätten, der im Volk verankerten schiitischen Bewegung im Libanon, die "politische Unterstützung genießt [und] keine Bedrohung für die Vereinigten Staaten darstellt".

Am Donnerstag trat der Sprecher des Weißen Hauses, Robert Gibbs, vor die Presse und bekräftigte diese Einschätzung. "Ich denke die Taliban sind offensichtlich äußerst schlechte Menschen, die schreckliche Dinge getan haben", erklärte er. "Ihr Potential, was den Gesamtzusammenhang der transnationalen Bedrohungen angeht, ist jedoch etwas anders einzuschätzen."

An anderer Stelle in diesem Artikel beschreibt die Post die Taliban wie folgt: Sie sei "aus einer Vielzahl von Gruppen zusammengesetzt, die ihren Widerstand gegen die internationale militärische Präsenz gemeinsam haben". Sie fügt hinzu, dass Washingtons Ziel, "die Taliban politisch zu schwächen,... durch weit verbreitete Vorwürfe wegen Wahlbetrugs untergraben wurde, der offensichtlich Präsident Hamid Karzai begünstigte".

Das sind ganz außergewöhnliche Eingeständnisse, die die Begründung für die Invasion in Afghanistan 2001 und für die fortgesetzte Besatzung für nichtig erklären.

Lange Zeit hat Washington die Taliban als gefährliche Terrororganisation dargestellt, die entschlossen sei, zusammen mit ihren Al Qaida-Verbündeten die USA anzugreifen. Jetzt geben hohe Beamte des Weißen Hauses zu, dass die "Taliban-Aufstandsbewegung" der militärische Flügel einer politischen Volksbewegung gegen die von den USA geführte Besatzung ist - die außerdem nichts mit den Terrorangriffen auf die USA vom 11. September 2001 zu tun hat.

Trotz dieser Eingeständnisse sehen die zwei Optionen, die in Obamas "Strategiebesprechungen" diskutiert werden, nicht vor, dass die Militäraktionen gegen den Aufstand zurückgeschraubt werden. Zur Debatte steht nur, ob die nächste Phase des Kriegs sich auf eine riesige Aufstockung von "Manpower" stützt, um den Aufstand in den bevölkerungsreichen Zentren niederzuschlagen, oder auf den Vorschlag von Biden, sich auf Angriffe aus der Luft und grenzüberschreitende Mordeinsätze von Spezialkommandos zu verlassen. Beide Vorgehensweisen haben das Ziel, die Taliban "soweit zu schwächen, dass sie die afghanische Regierung nicht herausfordern und al-Qaida nicht erneut Zuflucht gewähren können", erklärt die Post.

Die Post berichtet jedoch, es habe sich in der Obama-Regierung ein Konsens herausgeschält, der beinhaltet, große Teile von Afghanistan den antiamerikanischen Kräften zu überlassen und die Streitkräfte in die dicht bevölkerten Zentren zu verlagern. Diese Vorgehensweise steht im Einklang mit der Strategie von McChrystal und wird tatsächlich schon jetzt verfolgt.

Eine erhebliche Aufstockung der US-amerikanischen Besatzungskräfte erscheint wahrscheinlich; die Fragen, die dabei noch offen sind, lauten: wie viele und wie bald. Auf die Frage der Post : "Wie viele Soldaten wären notwendig, um die Taliban ausreichend zu schwächen?", antwortete ein hoher Regierungsbeamter: "Genau das ist die Frage. Darauf suchen wir die Antwort."

Dennoch gibt es auch weiterhin bedeutende Hindernisse für eine neue Angriffswelle in Afghanistan - zusätzlich zu dem wachsenden Widerstand in der Bevölkerung in den USA und in den NATO-Staaten.

Laut einer neuen Studie des Institute for the Study of War (Institut für Kriegsstudien), einem nationalen Beraterstab für Sicherheitsfragen, stehen den USA nur drei Brigaden zur Verfügung, die 11.000 bis 15.000 Soldaten umfassen, und die bis Ende 2009 in Afghanistan stationiert werden können. Bis zum Sommer wären maximal 20.000 einsatzfähig, folgert sie. Diese und andere Berechnungen zur Verfügbarkeit von Truppen basieren auf der Voraussetzung, dass die Gewalt im Irak auf niedrigem Niveau bleibt. Die USA halten im Irak auch weiterhin eine viel größere Militärpräsenz aufrecht als in Afghanistan.

Militäroperationen werden obendrein durch die Beschaffenheiten der afghanischen Geographie und Topographie und Infrastruktur behindert. Weil das Land keinen Zugang zum Meer hat, muss Material von Pakistan aus über den Khyber-Pass transportiert werden. Diese Versorgungsroute ist den Angriffen und Störmanövern der Aufständischen ausgesetzt. Die Alternative dazu ist eine mühselige Nordroute durch Russland und die zentralasiatischen Staaten, die an Afghanistan grenzen.

Die Überland-Fahrzeuge, die der Armee zurzeit zur Verfügung stehen, sind nicht besonders gut für die primitiven Straßen Afghanistans geeignet. Weite Gebiete des großteils gebirgigen Landes sind in den Wintermonaten unpassierbar. Aus diesen Gründen ist die Beweglichkeit der US- und NATO-Truppen in einem Gebiet, das etwa so groß ist wie Texas, von Hubschraubern abhängig. Aber an Hubschraubern gibt es einen akuten Mangel, erklärten Militärquellen gegenüber dem Wall Street Journal.

Zudem wird befürchtet, dass das Militär durch eine beträchtliche Verstärkung seiner Afghanistan-Mission stark geschädigt werden könnte. Diese Position vertritt angeblich Generalstabschef George Casey. Casey hat McChrystal am Montag indirekt getadelt, als er gegenüber Reportern erklärte, er würde keine öffentlichen Kommentare zu Truppenplänen abgeben, sondern "direkt mit dem Präsidenten sprechen, und zwar nicht in der Öffentlichkeit".

Anthony Cordesman, ein Stratege mit engen Verbindungen zum Militär, wies Befürchtungen über ein Ausbluten der Armee kühl zurück. "Man behält ja in Friedenszeiten gerade deswegen Reserven zurück, um sie im Krieg zu verbrauchen", erklärte er gegenüber dem Journal.

Die Vereinten Nationen bekräftigten am Donnerstag ihre Unterstützung für den Krieg. Der fünfzehnköpfige Sicherheitsrat verlängerte das Mandat für die NATO-Besatzung einstimmig um ein Jahr und rief die Mitgliedsstaaten auf, mehr Hilfe zur Verfügung zu stellen.

Unterdessen deuten Angriffe in Afghanistan drauf hin, dass die Position der USA immer weiter untergraben wird.

Die NATO verkündete am Freitag, dass die USA ihren Stützpunkt in Kamdesh aufgegeben haben, den Hunderte von Taliban-Kämpfern letzte Woche angegriffen hatten. Bei dem Angriff wurden acht amerikanische und drei afghanische Soldaten getötet. Die Taliban nahmen den Sieg für sich in Anspruch und hissten ihre Flagge über der Stadt. Die NATO behauptete, der Stützpunkt sei geschlossen worden, weil das Teil von McChrystals Verlagerungsstrategie in dicht besiedelte Gebiete sei.

Weil die USA den Stützpunkt zerstörten, bevor sie ihn verließen, erklärte ein Sprecher der Taliban: "Das bedeutet, dass sie nicht zurückkommen. Dies ist ein weiterer Sieg für die Taliban. Wir kontrollieren einen weiteren Bezirk in Ost- Afghanistan."

Die Nato erklärte, am Freitag sei ein Soldat der Koalition getötet worden, gab aber keine weiteren Details bekannt. Bislang wurden in diesem Monat 24 Soldaten der Koalition getötet.

Ebenfalls am Freitag griffen hundert Aufständische eine Reihe von Kontrollpunkten und Polizeistationen in der Provinz Kunar an, die an Pakistan grenzt. Bei den Kämpfen wurden sieben Aufständische getötet und mehrere Polizisten verwundet.

In der Provinz Paktia in Ost-Afghanistan, ebenfalls an der pakistanischen Grenze, griff ein Selbstmordattentäter eine Kolonne von Bauarbeitern an, wobei fünf von ihnen getötet wurden.

Und in Pakistan explodierte am Freitag auf einem Markt ein Auto mit Sprengstoff. 49 Menschen kamen dabei ums Leben und Dutzende wurden verletzt. Islamabad griff die Tragödie sofort auf, um eine schon längst geplante Militäraktion in der Provinz Südwasiristan zu rechtfertigen, die von Washington verlangt wird.

Siehe auch:
Obamas Krieg
(18. Juli 2009)