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EU-Gipfel weist amerikanische Forderung nach größeren Konjunkturprogrammen zurück

Von Stefan Steinberg
25. März 2009
aus dem Englischen (23. März 2009)

Nach einem zweitägigen Gipfel in der vergangenen Woche gaben die 27 EU Staats- und Regierungschefs bekannt, dass sie sich auf eine Reihe von Maßnahmen gegen die internationale Finanz- und Wirtschaftskrise geeinigt hätten.

Der Gipfel wies Forderungen der USA nach weiteren Konjunkturprogrammen zurück und setzte den Schwerpunkt auf die Erarbeitung neuer Finanzmarktregeln. Er folgte damit der deutschen Delegation unter der Führung von Kanzlerin Angela Merkel.

Bei einem vorhergehenden Treffen der G-20 Finanzminister in England am 14. und 15. März waren zunehmende Spannungen zwischen Europa und Amerika zu Tage getreten. Das Treffen der EU-Führer in Brüssel, das den G-20 Gipfel der Regierungschefs Anfang April in London vorbereiten sollte, brachte eine weitere Verhärtung der Standpunkte. Besonders Deutschland will erreichen, dass die EU auf dem G-20 Gipfel eine gemeinsame Front aufrechterhält und dem Druck der USA widersteht, mehr Geld in die Weltwirtschaft zu pumpen.

Mehrere Ereignisse der vergangenen Woche bestärkten die EU-Führer, die Reihen hinter der deutschen Delegation und ihren Vorschlägen zu schließen.

Anfang letzter Woche tauchten neue Zahlen auf, die das Ausmaß und die Geschwindigkeit des wirtschaftlichen Abschwungs in Europa beleuchteten. HSBC Global Research zufolge wird das gemeinsame Haushaltsdefizit der vier größten Länder der Eurozone - Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien - 2010 auf 6,4 Prozent des BIP ansteigen, gegenüber 5,8 Prozent in diesem Jahr und nur 2,0 Prozent in 2008. Die Staatsverschuldung in den vier Ländern wird auf fast 83 Prozent des BIP steigen, gegenüber 79 Prozent in diesem Jahr und 71 Prozent in 2008.

Die deutsche Wirtschaft, die größte der EU, ist besonders stark betroffen. Ihre Exportindustrie befindet sich im freien Fall, und es wird ein schneller Anstieg der Arbeitslosigkeit erwartet. Die Financial Times Deutschland schrieb vergangene Woche: "Die Wirtschaftskrise übertrifft inzwischen die schlimmsten Erwartungen, und die Abwärtsspirale ist noch nicht zur Ruhe gekommen. Deutsche Firmen haben 37 Prozent niedrigere Auftragsbestände als Mitte 2007. Firmen, die mit dieser Kapazitätsauslastung arbeiten, benötigen nicht ihre gesamte Belegschaft."

Die Zeitung endet mit der Warnung, dass ein schnelles Ansteigen der Arbeitslosigkeit zu "einer sozialen und psychologischen Katastrophe führen" könnte.

Die Berichte über den Rückgang der Industrieproduktion und eine zunehmende Bedrohung der Arbeitsplätze in Deutschland wurden von neuesten Zahlen aus Großbritannien ergänzt. Dort hat die Arbeitslosenzahl die Zwei-Millionen-Marke überschritten, und bis 2010 wird erwartet, dass sie drei Millionen erreicht.

Führende europäische Politiker warnen immer häufiger vor den explosiven sozialen Folgen einer Massenarbeitslosigkeit. Ihre Befürchtungen wurden von den riesigen Demonstrationen bestärkt, die vergangenen Mittwoch in Frankreich stattgefunden haben. Zwei bis drei Millionen Arbeiter haben daran teilgenommen.

Die zweite wichtige Entwicklung der vergangenen Woche war die Entscheidung der amerikanischen Notenbank Federal Reserve Board, für bis zu 300 Milliarden Dollar Schatzbriefe plus weitere Schuldverschreibungen im Wert von 850 Milliarden Dollar aufzukaufen, um die lahmende amerikanische Wirtschaft wieder in Gang zu bringen. Die Entscheidung der Federal Reserve, im Grunde genommen Geld zu drucken, um es in den Bankenkreislauf und in die Wirtschaft zu pumpen ähnelt kürzlichen Entscheidungen der Bank von England und der Bank von Japan.

Die Initiative der amerikanischen Notenbank ließ den Euro unmittelbar um vier Prozent gegenüber dem Dollar steigen - der größte jemals verzeichnete Tagesanstieg. Das schuf für wichtige europäische Exportnationen wie Deutschland zusätzliche Probleme und setzte die Europäische Zentralbank weiter unter Druck, ebenfalls Geld in die Wirtschaft zu pumpen. Die EZB ist die einzige wichtige Zentralbank, die bisher darauf verzichtet hat, riesige Geldsummen in die kränkelnden Finanz- und Wirtschaftsmärkte zu pumpen.

Führende Zeitungen reagierten zurückhaltend auf die Schritte der Federal Reserve und warnten vor den Gefahren einer Hyperinflation, wenn die Regierungen mit dem Anwerfen der Gelddruckmaschinen auf die Krise reagieren sollten.

Einen Tag vor dem EU-Gipfel in Brüssel erklärte der luxemburgische Ministerpräsident und Präsident der Eurogruppe: "Ich bin dagegen, dass wir Europäer dem amerikanischen Wunsch nach größeren Konjunkturpaketen nachkommen."

Am gleichen Tag sagte Kanzlerin Merkel vor dem Bundestag, es sei nicht die Zeit für größere Programme. Damit sei sie überhaupt nicht einverstanden. Die beschlossenen Maßnahmen müssten erst einmal Zeit bekommen zu wirken.

Indirekt griff Merkel die jüngsten Maßnahmen der Fed an und warnte vor einem internationalen Wettlauf um immer neue Konjunkturprogramme. Dies werde nicht zu Beruhigung beitragen. Sie nannte die Vorschläge von jenseits des Atlantik "sehr gefährlich".

Merkel erklärte, die deutsche Regierung habe mit ihren Konjunkturprogrammen genug getan: "Wir brauchen psychologisch gute Signale von London und nicht einen Wettbewerb um nicht realisierbare Konjunkturpakete."... "Wir haben unseren Beitrag geleistet."

Das gleiche Argument brachte ein Sprecher der Europäischen Kommission im Guardian noch deutlicher auf den Punkt: "Die Amerikaner sagen uns, dass sie viel mehr tun als wir. Wir sagen den USA, sie brauchen uns keine Ratschläge zu erteilen."

Auf dem Gipfel selbst brachte der österreichische Finanzminister die Opposition der führenden europäischen Länder gegen den Druck der amerikanischen Seite, der als unpassend empfunden wird, in der Frage zum Ausdruck: "Wohin wird uns das führen, wenn wir die Märkte mit Geld überfluten?"

Trotz Reibungen mit mehreren Ländern und intensivem Kuhhandel auf dem Gipfel konnte die deutsche Delegation ihre Forderungen im Wesentlichen durchsetzen, obwohl besonders Großbritannien versuchte, die Forderungen nach einer Regulierung der Finanzmärkte zu verwässern. Das einzige unmittelbare Anreizprogramm umfasst die relativ kleine Summe von fünf Milliarden Euro für Investitionen in Internettechnologie und Energieprojekte.

Gleichzeitig kamen die versammelten EU-Führer darin überein, den EU-Krisenfond von 25 Milliarden Euro auf fünfzig Milliarden Euro zu verdoppeln. Dieser Fond ist für die Unterstützung vom Bankrott bedrohter europäischer Länder außerhalb der Eurozone bestimmt. Weiter beschlossen die EU-Länder, ihre Zahlungen an den IWF um 75 Milliarden Dollar zu erhöhen, und zwar unter der Bedingung, dass das Geld nur an kriselnde europäische Länder ausgezahlt wird.

Eine weitere wichtige Entscheidung war der Beschluss, die so genannte Ostpartnerschaft ins Leben zu rufen. Diese umfasst die Entwicklung engerer politischer und wirtschaftlicher Beziehungen zu sechs Ländern der ehemaligen Sowjetunion, und zwar mit Armenien, Aserbeidschan, Weißrussland, Georgien, Moldawien und der Ukraine. Aserbeidschan und Georgien sind wichtig für die EU, um alternative Pipeline-Routen für Gas und Öl aus der kaspischen Region nach Europa zu eröffnen. Auch Weißrussland verfügt über ein verzweigtes System von Gaspipelines. Der russische Außenminister reagierte verärgert auf die Entscheidungen der EU und beschuldigte die EU-Führer der "Erpressung".

Teile der deutschen Medien reagierten auf die Ergebnisse des Gipfels mit unverhülltem Jubel. Spiegel Online zufolge "diktierte Merkel die EU-Krisenagenda... Das von den EU-Führern in Brüssel verabschiedete Abschlussdokument liest sich wie eine deutsche Wunschliste. Kanzlerin Merkel überzeugte die EU, sich auf die Finanzmarktregulierung zu konzentrieren - und neuen Anschubprogrammen zu widerstehen."

Die weitergehenden politischen Implikationen des Gipfels wurden in einem Leitartikel der Süddeutschen Zeitung erläutert. Der Artikel stellte fest, dass zwanzig Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer ein Axiom aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg von der Realität überholt worden sei - "dass nämlich Amerika stets den Weg aus der Krise zeige. Lange Jahre haben die (West-)Europäer über den Atlantik geschaut und sich am amerikanischen Vorbild orientiert. Jetzt gibt es dieses Vorbild nicht mehr. Die neue US-Regierung agiert in der Krise so mutlos, dass sich die Europäer plötzlich gezwungen sehen, zu tun, was sie sich bislang nicht zugetraut haben: selbst voranzugehen."

Die Einheit, die die EU-Führer am vergangenen Wochenende in Brüssel an den Tag legten, ist aber sehr zerbrechlich. Die Instabilität der politischen Beziehungen in Europa wurde von dem Rücktritt des ungarischen Ministerpräsidenten Ferenc Gyurcsany nur einen Tag nach dem Ende des Gipfels unterstrichen. Ungarn ist eines der osteuropäischen Länder, die als Folge der Weltkrise vor dem Staatsbankrott stehen.

Dennoch reagieren die europäischen Staaten mit Deutschland an der Spitze auf den wachsenden politischen Druck der USA damit, dass sie ihren eigenen Anspruch auf die Führung der Weltgeschicke erheben. Während die USA mit ihrer politischen Macht und ihrem Einfluss Europa zwingen wollen, seinen Teil der Last der Krise zu schultern, gehen Deutschland und Frankreich mit ihrer eignen Agenda und ihren eigenen Forderungen zu der G-20 Gipfelkonferenz in London.

Gleichzeitig machte die deutsche Kanzlerin klar, dass ihre Regierung nicht nur Washington die Stirn zu bieten gedenke, sondern dass sie auch kompromisslos die europäische Arbeiterklasse den Preis für Krise zahlen lassen werde.

Am Ende des Gipfels warnte Jean-Claude Juncker vor der Gefahr einer "sozialen Krise" infolge von steigender Arbeitslosigkeit, die in Frankreich schon zu Massenprotesten geführt hat. Kanzlerin Merkel tat Junckers Warnung mit der Bemerkung ab, dass die europäischen Führer nicht in einen Wettbewerb eintreten sollten, wer das trübeste Bild male, und schloss abschätzig. "Das war nicht der erste Streik in Frankreich."

Siehe auch:
Wachsender Protektionismus in Europa
(13. Februar 2009)
Nationale Interessen dominieren EU-Gipfel in Brüssel
( 13. Dezember 2008)