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Die SPD in der Zerreißprobe

Von Ulrich Rippert
16. August 2008

Die Flügelkämpfe in der SPD nehmen fast täglich heftigere Formen an. Vordergründig dreht sich die Auseinandersetzung um die Haltung gegenüber der Linkspartei. Doch dahinter verbirgt sich die weitaus grundlegendere Frage: Wie umgehen mit dem wachsenden Widerstand gegen die unsoziale Politik der Agenda 2010?

Seit die SPD im Bündnis mit den Grünen vor zehn Jahren die Regierung übernommen und mit den Hartz-Gesetzen weitreichende Sozialkürzungen durchgesetzt hat, ist sie mit zunehmender Opposition in der Bevölkerung konfrontiert. Als klar wurde, dass die anfänglichen Großdemonstrationen gegen die Agenda 2010 nichts bewirkten und von den Gewerkschaften lediglich benutzt wurden, um Dampf abzulassen, nutzten viele den Stimmzettel, um ihren Unmut deutlich zu machen.

Die SPD musste bei elf Landtagswahlen in Folge drastische Stimmeneinbußen hinnehmen. Darauf organisierte Ex-Kanzler Gerhard Schröder vorzeitige Neuwahlen und übergab die Leitung der Regierungsgeschäfte der Union. Doch die SPD blieb auch in der Großen Koalition für die Sozialpolitik verantwortlich und hielt an der Agenda-Linie fest. Inzwischen äußert sich der Widerstand dagegen in Form massiver Lohnstreiks. Die Gewerkschaften haben große Mühe, die Tarifkämpfe voneinander zu isolieren und eine breite politische Bewegung gegen die Regierung zu verhindern.

Die Mehrheit im SPD-Parteivorstand ist entschlossen, die unsoziale Politik ohne Rücksicht auf Verluste fortzusetzen und nimmt dabei die weitgehende Zerstörung der eigenen Partei in Kauf. Außenminister Steinmeier und Ex-Wirtschaftsminister Clement folgen der Tradition von Gerhard Schröder und Franz Müntefering, die mit ihrer "Basta-Politik" jede parteiinterne Opposition und Kritik unterdrückten. Sie betrachten die Partei als Instrument der Staatsräson zur Disziplinierung der Bevölkerung.

Andere warnen vor den Konsequenzen. Sie machen auf den rapiden Niedergang der Partei aufmerksam. Seit den Tagen Willy Brandts, als die SPD noch eine Million Mitglieder zählte, hat jeder zweite die Partei verlassen, und die Abstimmung mit den Füßen setzt sich fort. Jüngsten Angaben zufolge verliert die Partei gegenwärtig jährlich zwischen fünf und sechs Prozent ihrer Mitglieder. Viele Ortsvereine und sogar ganze Unterbezirke mussten bereits mangels Mitglieder aufgelöst, beziehungsweise zusammengelegt werden. Der politische Exitus ist vorprogrammiert.

Angesichts dieser Situation sind Teile des Parteiestablishment tief besorgt, dass die wachsende soziale Opposition Kanäle außerhalb der SPD finden, sich radikalisieren und revolutionäre Formen annehmen könnte. Der Schreck der 1960er Jahre, als als Reaktion auf die Große Koalition unter Kurt Georg Kiesinger die Außerparlamentarische Opposition (APO) entstand und in eine Jugendrevolte sowie in Massenstreiks mündete, die die Grundlagen der Bundesrepublik erschütterten, sitzt vielen SPD-Funktionären heute noch in den Knochen. Nur die Perspektivlosigkeit der Studentenführer und ein politischer Schwenk der SPD unter Willy Brandt konnte damals die Lage stabilisieren.

Aus diesem Grund fordern die so genannten Linken in der Partei "Nachbesserungen" an der Agenda 2010 und streben eine Zusammenarbeit mit der Linkspartei an. Wohlgemerkt - diesen "Linken" geht es nur darum, die schlimmsten sozialen Härten der Hartz-Gesetze abzumildern und den Sozialabbau so zu gestalten, dass der Widerstand dagegen unter Kontrolle gehalten werden kann, nicht aber um einen grundlegenden Kurswechsel.

Obwohl die Flügelkämpfe an Heftigkeit zunehmen und sogar zum Auseinanderbrechen der Partei führen könnten, sind die Differenzen rein taktischer Natur. Keiner der "Linken" war in der Vergangenheit oder ist gegenwärtig bereit, ernsthaft und grundsätzlich gegen die drastischen Sozialkürzungen der Agenda 2010 anzukämpfen. Es geht nicht um die Frage: ‚Für oder gegen die Agenda-Politik?’, sondern nur darum, wie und in welcher politischen Konstellation diese Politik gegen den Widerstand der Bevölkerung durchgesetzt werden kann.

Parteichef Kurt Beck versucht verzweifelt, die gegensätzlichen Positionen zusammenzuhalten. Doch der Riss, der durch die Partei geht, wird zusehends größer.

Rot-Grün-Rot am Main

In diesem Zusammenhang müssen die jüngsten Ereignisse in Hessen gesehen werden. Nachdem die rechte CDU-Regierung unter Roland Koch im Januar abgewählt wurde, ohne dass SPD und Grüne eine Mehrheit erhielten, versuchte Hessens SPD-Chefin Andrea Ypsilanti die Tolerierung einer rot-grünen Minderheitsregierung durch die Linkspartei zu erreichen. Ein erster derartiger Versuch scheiterte im Frühjahr am vehementen Widerstand der SPD-Rechten.

Mit der Feststellung, "Entscheidungen über Koalitionen werden in den Ländern getroffen", hat Parteichef Beck grünes Licht für einen zweiten Versuch von Ypsilanti gegeben, sich mit den Stimmen der Linkspartei zur Ministerpräsidentin wählen zu lassen. Am vergangenen Mittwoch beschloss der SPD-Landesvorstands in Hessen einen Fahrplan für einen Machtwechsel in Wiesbaden, der mehrere Mitgliederversammlungen und einen Landesparteitag vorsieht.

Einen Tag später gab die engere Parteiführung der Bundespartei eine Erklärung ab, in der sie ihre "ernsthaften Bedenken" gegenüber jeder Zusammenarbeit mit der Linkspartei deutlich machte. Sie mahnte, bei den Entscheidungen in Hessen gehe es "auch um das Gesamtinteresse der SPD". Die hessischen Genossen trügen "eine Gesamtverantwortung für die SPD". Erneut erinnerten SPD-Rechte daran, dass Andrea Ypsilanti im Wahlkampf jede Zusammenarbeit mit der Linkspartei ausgeschlossen habe, und warfen ihr Wortbruch vor.

Es ist gegenwärtig völlig offen, ob Ypsilanti sich mit ihrer Annäherung an die Linkspartei durchsetzen kann, oder ob das Sperrfeuer der Rechten Erfolg hat. Sicher ist nur, dass die hessischen Ereignisse Auswirkungen auf die künftige Orientierung der SPD haben werden.

Die Linkspartei in Hessen bietet sich derweil als verlässlicher Partner der SPD an und signalisiert beinahe täglich ihre Unterstützung für die SPD-Landeschefin. Auf einem Parteitag Ende August sollen die Mitglieder auf eine weitgehend bedingungslose Unterstützung der SPD eingeschworen werden. Selbst die Forderung einiger Mitglieder, dass sich die SPD auf "Eckpunkte linker Politik" verpflichten müsse und SPD-Rechte, wie der stellvertretende SPD-Landesvorsitzende Jürgen Walter, einem von der Linkspartei tolerierten Landeskabinett nicht angehören dürften, wurden von der Parteiführung zurückgewiesen.

Im Leitantrag des Linkspartei-Landesvorstands heißt es lapidar: "Die Linke wird einer Landesregierung aus SPD und Grünen mit der Wahl der Ministerpräsidentin ins Amt verhelfen." Wie umfassend der Blankoscheck ist, den die Linkspartei der SPD ausstellt, machte deren hessischer Abgeordneter Hermann Schaus deutlich. Spiegel-Online zitiert ihn mit den Worten: "Wenn die Linkspartei Ypsilanti zur Ministerpräsidentin wählen sollte, ist es für mich auch logisch, dass wir ihr Kabinett bestätigen - wer A sagt, muss auch B sagen."

Diese Standardformulierung aller Opportunisten ist überall dort, wo die Linkspartei Regierungsverantwortung ausübt, sattsam bekannt. In Berlin, wo die Linkspartei seit sieben Jahren in der Landesregierung sitzt, rechtfertigt sie mit dem Hinweis auf Sachzwänge eine unsoziale Maßnahme nach der anderen. Nicht anders war es im Mecklenburg-Vorpommern, wo die Linkspartei zwei Legislaturperioden als Juniorpartner der SPD in der Regierung saß und eine soziale Wüste hinterlassen hat.

Lafontaines sozialdemokratische Hilfstruppe

Wie sehr die Linkspartei Fleisch vom Fleisch der SPD ist, wurde auf dem Landesparteitag der Linken im saarländischen Neunkirchen am vergangenen Wochenende deutlich. Oskar Lafontaine, der in diesem Bundesland von 1985 bis 1998 SPD-Ministerpräsident war, begrüßte zu Beginn des Parteitags "viele alte Weggefährten" (Süddeutsche Zeitung).

Die meisten Mitglieder der Linkspartei an der Saar waren früher in der SPD und betrachten sich auch nach ihrem Parteiwechsel als Sozialdemokraten. So der Landesvorsitzende Rolf Linsler. Er war 35 Jahre SPD-Funktionär und Landeschef der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi. Im August vergangenen Jahres trat er von der SPD in die Linkspartei über und wurde bereits im Monat darauf deren Landeschef.

Noch bevor Lafontaine ans Mikrophon trat und in seiner eineinhalbstündigen Parteitagsrede die Linkspartei als konsequente Sozialdemokratie bezeichnete, machte er Journalisten auf eine Vielzahl "sozialdemokratischer Gäste und Freunde" aufmerksam. "Da vorn sitzt Eugen Roth, der saarländische DGB-Chef und stellvertretende SPD-Landesvorsitzende", zitiert ihn Spiegel-Online und berichtet: "Weiter hinten erkennt er den Neunkirchener Oberbürgermeister Fritz Decker - selbstverständlich ein Sozialdemokrat. Die Vorstellungsrunde bereitet ihm sichtlich Vergnügen."

Die Delegierten wählen Lafontaine mit 92,4 Prozent zum Spitzenkandidaten für die kommende Landtagswahl im nächsten Jahr. In Meinungsumfragen liegen SPD und Linkspartei an der Saar etwa gleich auf. Lafontaine bot der SPD in seiner Rede immer wieder die Zusammenarbeit an, betonte aber, dass diese "auf gleicher Augenhöhe" stattfinden müsse. Falls die Linkspartei die SPD überrunde - was keineswegs ausgeschlossen ist -, müsse die SPD auch einen Ministerpräsidenten Lafontaine unterstützen. Wie vor dreißig Jahren in der SPD versucht Lafontaine auch in der Linkspartei, über das Saarland an die Spitze der Bundespolitik aufzusteigen.

Der ehemalige SPD-Chef lässt keinen Zweifel daran, dass die Linkspartei ein bürokratisches Konstrukt ist, um die Sozialdemokratie am Leben zu erhalten. Er betrachtet den Niedergang der SPD als zentrales Problem der bürgerlichen Herrschaft. Denn in allen wichtigen Krisen der Vergangenheit spielte diese Partei eine Schlüsselrolle bei der Aufrechterhaltung der bürgerlichen Ordnung. Während die SPD immer schneller auseinander bricht, versucht Lafontaine die sozialdemokratischen Reste zu sammeln und als staatliche Ordnungskraft zu erhalten.

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