Neunzig Jahre Russische Revolution: Die Aussichten des Sozialismus im 21. Jahrhundert
Teil 1
Von Nick Beams
1. Dezember 2007
aus dem Englischen (25. November 2007)
Im Folgenden veröffentlichen wir den ersten Teil eines Vortrags von Nick Beams. Beams ist der Vorsitzende der Socialist Equality Party in Australien und hielt den Vortrag im Rahmen von Wahlveranstaltungen der Partei in Sydney, Perth und Melbourne (18.-21.November). Den zweiten und dritten Teil veröffentlichen wir zum Wochenbeginn.
Vor 90 Jahren, am 7. November 1917 (am 25. Oktober nach dem alten russischen Kalender), fand das größte Ereignis des zwanzigsten Jahrhunderts statt. Die Russische Revolution erschütterte nicht nur die Welt, sie beeinflusste alle weiteren politischen Ereignisse und die gesamte folgende Geschichte.
Ihre bis heute andauernde Bedeutung liegt in der Tatsache, dass zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit die arbeitenden Massen, auf deren Arbeit die menschliche Zivilisation in allen Zeitaltern beruht hat, die politische Macht ergriffen. Sie machten sich an die Aufgabe, die russische Gesellschaft und darüber hinaus die Gesellschaft im internationalen Maßstab bewusst neu zu gestalten.
Jetzt, neunzig Jahre später leben wir in vielerlei Hinsicht in einer ganz anderen Gesellschaft als der, aus der heraus sich die Russische Revolution entwickelte. Aber in einem sehr grundsätzlichen Sinn leben wir immer noch in der Epoche der Russischen Revolution.
Vieles hat sich in den vergangenen neun Jahrzehnten verändert. Die Produktivkräfte, die Früchte der menschlichen Arbeit, sind durch die Wissenschaft und ihre Anwendung enorm gewachsen. Aber die sozialen Beziehungen der kapitalistischen Gesellschaft sind die gleichen geblieben. Die Produktion wird noch immer vom Markt diktiert, dessen Triebkraft das Profitinteresse privater Konzerne ist. Trotz des globalen Charakters aller Aspekte des ökonomischen und gesellschaftlichen Lebens ist die Welt bis heute in Nationalstaaten aufgeteilt, was zu Rivalitäten und Konflikten zwischen den Großmächten und zu Kriegsgefahr führt.
Vieles hat sich verändert. Aber die Menschheit ist immer noch mit den gleichen historischen Problemen konfrontiert, die schon die russische Arbeiterklasse auf den Weg der Revolution gestoßen hatten. Dutzende Millionen Arbeiter, Jugendliche und sozialistische Intellektuelle schlugen in den folgenden Jahren den gleichen Weg ein.
Vom ersten Tag an erkannten die herrschenden Klassen in aller Welt die Russische Revolution als Bedrohung und fürchteten die Ausbreitung dessen, was sie die "bolschewistische Seuche" nannten. Es sei nötig, "das bolschewistische Baby noch in seiner Wiege zu erwürgen", erklärte Winston Churchill im Namen aller. Und sie ließen Taten folgen und schickten in den folgenden Monaten vierzehn Armeen, um den ersten Arbeiterstaat zu zerschlagen.
Vom ersten Moment an führten die herrschenden Klassen und ihre Propagandisten einen politischen und ideologischen Krieg gegen die Russische Revolution. Die Revolution sei ein Putsch gewesen, eine Verschwörung, die der fanatische Lenin angezettelt habe, um ein totalitäres Regime zu errichten. Die Demokratie sei in Russland gerade aufgeblüht, als sie von den Bolschewisten zerschlagen wurde.
Von 1917 bis heute war es den Ideologen der herrschenden Klasse nicht möglich, die einfache Wahrheit anzuerkennen: In der Russischen Revolution haben die Massen in den historischen Prozesses eingegriffen und die gewaltige gesellschaftliche Macht der Arbeiterklasse war die Kraft, die hinter dieser Entwicklung stand.
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 wurde diese ideologische Offensive immer heftiger und die historische Wahrheit endgültig beiseite gewischt.
Uns wurde eingeredet, die Isolation der Revolution, das Ausbleiben der Revolution in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern Westeuropas und die schreckliche Degeneration in den Stalinismus infolge dieser Isolation hätten nichts mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion zu tun. Vielmehr sei er das unvermeidliche Ergebnis der Oktoberrevolution selbst. Sie sei ein kriminelles Unterfangen gewesen, das seinen Ursprung in der totalitären Ideologie des Bolschewismus gehabt habe. Und vor allem bedeute das Ende der Sowjetunion das unwiderrufliche Ende des Marxismus, des sozialistischen Projekts und sogar der Geschichte selbst.
Solche Auffassungen unterstellen eine nicht zutreffende Gleichsetzung des Marxismus und seiner Perspektive der sozialistischen Weltrevolution mit der Geschichte und dem Schicksal der Sowjetunion. Die marxistische Bewegung sah die Russische Revolution voraus, bereitete sie vor und führte sie an. Aber die folgende Entwicklung in der Sowjetunion und der Marxismus sind keineswegs identisch. In Wirklichkeit ist der Wendepunkt in der historischen Entwicklung der Sowjetunion gerade mit der Unterdrückung und dann physischen Vernichtung der Vertreter des Marxismus durch den Stalinismus verbunden.
Als die bürgerlichen Liberalen und Akademiker vor mehr als sieben Jahrzehnten die Sowjetunion als vollendete Tatsache anbeteten, da warnte die marxistische Bewegung, die von Leo Trotzki geführte Vierte Internationale, dass die UdSSR liquidiert und der Kapitalismus dort wieder eingeführt würde, wenn die Arbeiterklasse die stalinistische Bürokratie nicht stürze.
Aber keiner der rechten zeitgenössischen Historiker kann es sich erlauben, Trotzkis Analyse ernsthaft zu untersuchen, denn dies würde ihre Theorie zerstören, dass die Degeneration der Revolution bereits in die Wiege gelegt war, weil sie grundlegende Gesetze der gesellschaftlichen Existenzweise des Menschen verletzt habe.
Dem Historiker Richard Pipes zufolge musste der Versuch, das Privateigentum an Produktionsmitteln abzuschaffen, zwangsläufig scheitern - und wird auch in Zukunft immer scheitern - weil Privateigentum "kein vorübergehendes Phänomen, sondern eine dauerhafte Erscheinung des gesellschaftlichen Lebens und als solche unzerstörbar" sei. Deshalb habe der Sozialismus eine diktatorische Form annehmen müssen. Er sei ein Versuch gewesen, grundlegende Eigenschaften der Menschheit zu verletzen, und daher habe er mit Gewalt aufoktroyiert werden müssen. Lenin habe das gewusst und deshalb versucht, seit der Gründung der bolschewistischen Partei 1903 ein diktatorisches Regime zu errichten.
Der Historiker Martin Malia betonte, dass die Unterdrückung des Privateigentums "der Versuch war, die wirkliche Welt zu unterdrücken, und dass so etwas auf lange Sicht nicht gelingen kann."
Mit anderen Worten, soll die Revolution nicht erfolgreich gewesen sein, weil eine nicht-kapitalistische Gesellschaft per se nicht möglich ist. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zog Francis Fukuyama aus dieser Auffassung die logische Schlussfolgerung, dass das "Ende der Geschichte" erreicht sei, womit er meinte, die historische Entwicklung der Menschheit sei mit dem Kapitalismus an ihr Ende gelangt.
Die Gesetze der Geschichte
Eine solche Auffassung beinhaltet auch das "Ende der Geschichte" in einem anderen Sinn. Wenn das Privateigentum an Produktionsmitteln der menschlichen Zivilisation unabdingbar innewohnt, wie kann man dann die geschichtliche Entwicklung der menschlichen Gesellschaft erklären? Wie soll man die Jahrtausende menschlicher Existenz verstehen, in denen es so etwas wie "Eigentum" nicht gab? Und wie kann man die Entwicklung der Eigentumsformen in der Geschichte erklären - von der Sklaverei über den Feudalismus, die verschiedenen Formen des asiatischen Despotismus bis hin zum Aufkommen des Kapitalismus vor etwa 500 Jahren?
Die kapitalistischen Eigentumsformen sind ebenso wenig im Wesen der Menschheit verankert wie es die Eigentumsformen der Sklaverei oder des Feudalismus waren. Die reaktionären Historiker, die die sozialistische Revolution als Verbrechen gegen Natur und Wesen des Menschen verurteilen, entsprechen den Priestern einer früheren Epoche, die die feudale Gesellschaft mit der Behauptung rechtfertigten, sie entspreche dem Willen Gottes.
Aber allen Segnungen der Kirche zum Trotz wurden die feudale Gesellschaft und ihre Eigentumsformen gestürzt und durch den Kapitalismus ersetzt, wie frühere Gesellschaftsformen durch den Feudalismus ersetzt worden waren.
Wie also können wir uns den historischen Prozess erklären? Hier kommen wir zu einer der beiden großen Entdeckungen von Karl Marx - dem Entwicklungsgesetz der menschlichen Geschichte.
Im Jahre 1859, dem gleichen Jahr, in dem Charles Darwin seine Entstehung der Arten veröffentlichte und den Weg für das Studium der biologischen Entstehung des Menschen frei machte, formulierte Marx die Gesetze, die die historische Entwicklung der menschlichen Gesellschaft bestimmen.
"In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewusstseinsformen entsprechen. [...] Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein. Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze ungeheure Überbau langsamer oder rascher um." (Zur Kritik der Politischen Ökonomie, Vorwort, 1859)
Die Russische Revolution schlug nicht den Gesetzen der Geschichte ins Gesicht, wie die reaktionären Historiker behaupten, sondern stand mit ihnen im Einklang. Sie wurde von Marxisten vorhergesagt, vorbereitet und geführt, die ein wissenschaftliches historisches Verständnis der Klassenbeziehung hatten und die sich auf die objektive Logik der Ereignisse stützten.
Mit der Russischen Revolution erreichte die Menschheit ein neues Stadium in ihrer historischen Entwicklung. Zum ersten Mal wurde der Versuch unternommen, Geschichte auf der Grundlage des Verständnisses ihrer Entwicklungsgesetze zu machen. Die aktiven Teilnehmer waren mit einer wissenschaftlichen Analyse der aktuell vor sich gehenden gesellschaftlichen und politischen Prozesse bewaffnet und unternahmen auf der Grundlage dieser Analyse praktische Schritte, um den Gang der Ereignisse zu beeinflussen.
Wir wollen die Prozesse untersuchen, die zu diesem neuen Stadium geführt haben.
Ich habe schon davon gesprochen, dass Marx zwei bahnbrechende Entdeckungen machte. Er entdeckte nicht nur die allgemeinen Gesetze der historischen Entwicklung, sondern zeigte auch die Bewegungsgesetze der kapitalistischen Gesellschaft auf - wie das System des Privateigentums an den Produktionsmitteln und der Lohnarbeit zur größten Entwicklung der Produktivkraft der menschlichen Arbeit in der Geschichte führte und gleichzeitig den Zusammenbruch dieser Produktionsweise und ihre Ersetzung durch den Sozialismus vorbereitet.
Alle früheren industriellen Produktionsweisen waren von Konservatismus geprägt. In der kapitalistischen Gesellschaft ist das Gegenteil der Fall.
"Die fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung zeichnet die Bourgeoisepoche vor allen anderen aus", schrieb Marx 1848 im Kommunistischen Manifest.
Aber es ist gerade diese Dynamik der Entwicklung, von der die kapitalistische Klasse in aller Welt angetrieben wird, die auch den Sturz des Kapitalismus vorbereitet. Das Wachstum der Produktivkräfte, das im Profitsystem mit eherner Logik immer weiter stattfindet, gerät mit den gesellschaftlichen Verhältnissen in Konflikt, die vom Privateigentum an den Produktionsmitteln gekennzeichnet sind. Das Anwachsen der Arbeitsproduktivität führt letztlich zum Zusammenbruch der kapitalistischen Gesellschaft und zur Entstehung revolutionärer Krisen.
In den Jahren unmittelbar nach Marx' Tod 1883 schien sich diese Perspektive in der "großen Depression" von Preisen und Profiten zu bestätigen, die den Kapitalismus in den zwei Jahrzehnten nach der Finanzkrise von 1873 beherrschte. Aber Mitte der 1890er Jahre trat eine deutliche Wende ein. Eine neue Phase kapitalistischer Entwicklung - ein Boom - war nicht zu übersehen.
Diese Entwicklung schlug sich in den Theorien von Eduard Bernstein nieder, einem wichtigen Führer der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, die die führende Partei der internationalen marxistischen Bewegung war. Bernstein zufolge hatten die neuesten Entwicklungen im Kapitalismus das Urteil über die "Zusammenbruchstheorie" von Marx gesprochen.
Es gebe keine unvermeidliche Entwicklung zur Krise und zum Sozialismus werde es deswegen nicht durch die revolutionäre Eroberung der politischen Macht kommen. Vielmehr werde er durch die allmähliche Ausweitung von Sozialreformen und die Errungenschaften der Gewerkschaftsbewegung realisiert.
Bernsteins Perspektive war ein Angriff auf die Grundlagen der marxistischen Perspektive und der revolutionären Partei selbst. Wenn es im Kapitalismus keine unvermeidliche Tendenz zum Zusammenbruch gab, dann folgte daraus, dass es keine historische Notwendigkeit für den Sozialismus gab. Rosa Luxemburg erklärte, dass dann der Sozialismus zu allem werde, was man wollte - eine Art Utopie, ein schönes Ideal - aber jedenfalls nicht das Ergebnis der materiellen Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft.
Wenn das der Fall sei, worauf sollte sich der Kampf für den Sozialismus dann stützen? Luxemburg erklärte: "Da sind wir glücklich bei dem Prinzip der Gerechtigkeit angelangt, bei diesem alten, seit Jahrtausenden von allen Weltverbesserern in Ermangelung sicherer geschichtlicher Beförderungsmittel gerittenen Renner, bei der klapprigen Rosinante, auf der alle Don Quichottes der Geschichte zur großen Weltreform hinausritten, um schließlich nichts andres heimzubringen als ein blaues Auge." (Sozialreform und Revolution, 1899)
Wird fortgesetzt.