Deutschland: Tiefe Kluft zwischen Politik und Bevölkerung
Von Dietmar Henning
16. August 2007
"Reichtum - das habe ich beim Mannesmann-Prozess erlebt - ist für mich Sicherheit. Die Stelle zu verlieren und dennoch nicht ins Bodenlose stürzen." Deutsche-Bank-Vorsitzender Josef Ackermann
Eine Umfrage, die das Meinungsforschungsinstitut Emnid im Auftrag der Wochenzeitung Die Zeit erstellt hat, offenbart eine breite soziale Opposition gegen die Bundesregierung der Großen Koalition. Nur 16 Prozent der Befragten sind der Ansicht, die Regierung tue genug für die soziale Gerechtigkeit. In Ostdeutschland ist nicht einmal jeder Zehnte dieser Meinung. Die Unzufriedenheit erstreckt sich über alle Parteigrenzen hinweg und ist auch unter den Wählern der Regierungsparteien CDU/CSU und SPD weit verbreitet.
"Kann es sein, dass dieses Land unmerklich nach links gerückt ist", fragt Zeit -Autor Jörg Lau in einem Kommentar zur Emnid-Umfrage, "dass es heute schon viel weiter links steht, als es wahrhaben will?" Lau legt diesen Schluss nahe: "Teils satte Mehrheiten in allen politischen Lagern sprechen sich für mehr Staatsintervention und gegen weitere Privatisierungen, gegen Atomkraft, gegen den Afghanistaneinsatz und für eine Rücknahme von Reformzumutungen aus." In vielen Fragen gebe es linke Mehrheiten - "und das in allen Parteien".
In Zeiten, in denen alle politische Parteien nach rechts rücken, die Armut auf der einen Seite und ein unvorstellbarer Reichtum auf der anderen wächst, die Regierung staatliches Eigentum an den Meistbietenden verschleudert und die Armee wieder weltweit in Kriege führt, ist die Umfrage in vielerlei Hinsicht bemerkenswert.
Emnid stellte unter anderem die Frage: "Links und Rechts sind viel gebrauchte Begriffe, um einen politischen Standort zu kennzeichnen. Wie ordnen Sie sich selbst ein?"
In einer Umfrage, die vor mehr als 25 Jahren, im Jahre 1981 erstellt wurde, hatten sich 17 Prozent als links bezeichnet. Heute sind es doppelt so viele, nämlich 34 Prozent. Das Verhältnis zwischen links und rechts hat sich gedreht. Während sich 1981 noch 38 Prozent als rechts bezeichnet hatten, sind es heute nur noch 11 Prozent. Selbst bei der CDU/CSU und der FDP überwiegen die Anhänger, die sich als links betrachten, diejenigen die sich im rechten Lager sehen.
In dieser Entwicklung schlägt sich insbesondere die soziale Frage nieder. 72 Prozent aller Befragten sind der Meinung, dass die Regierung zuwenig für die soziale Gerechtigkeit tue, in Ostdeutschland sogar 82 Prozent. Bei den Wählern der Linken sind es 97 Prozent, bei den Grünen 93 Prozent, bei der SPD 76 Prozent und selbst bei den CDU/CSU-Anhängern immer noch 60 Prozent..
Entsprechend fallen die Werte bei den Fragen aus, welche die soziale Absicherung und Versorgung betreffen. Mehr als zwei Drittel aller Befragten sprechen sich für die Einführung von Mindestlöhnen aus. Bei den SPD-Wählern sind es 76 Prozent und bei den Wählern von CDU/CSU, die vehement gegen die Einführung selbst eines minimalen Mindestlohns auftritt, mehr als die Hälfte.
Die Ablehnung der von Bundesarbeitsminister Franz Müntefering (SPD) eingeführten Erhöhung des Rentenalters auf 67 Jahre ist noch deutlicher. 82 Prozent (im Osten 90 Prozent) sind der Meinung, sie sollte rückgängig gemacht werden. 82 Prozent der SPD-Anhänger und 80 Prozent der CDU-Anhänger sind für eine Rückkehr zum Renteneintritt mit 65.
Zwei Drittel der Befragten lehnen die Privatisierung von Staatseigentum ab. Sie sind der Ansicht, dass "Unternehmen wie Bahn, und Telekom sowie die Energieversorgung in Staatsbesitz sein" sollten. Bei den Wählern der Regierungsparteien CDU und SPD, die für die Privatisierungen der letzten Jahre verantwortlich sind, sind es über 70 Prozent. Offensichtlich verfängt die neoliberale Propaganda, wonach die Privatisierung den Wettbewerb und damit die Leistungen erhöht, nicht. Die Erfahrung ist überzeugender. Die Banken und großen Aktienbesitzer scheffeln sich bei den Privatisierungen die Taschen voll, die Beschäftigten und die Bevölkerung zahlen die Zeche durch Arbeitsplatzverlust und niedrigere Löhne, bzw. höhere Preise sowie schlechtere und nicht selten lebensbedrohliche Bedingungen.
Eine Mehrheit sieht auch bei der Kinderbetreuung den Staat in der Pflicht. Fast drei Viertel - beiderlei Geschlechts - sind der Auffassung, dass der Staat mehr für die Betreuung von Kindern unter drei Jahren tun sollte. Die Forderung aus den Reihen der CDU/CSU nach einer "Herdprämie" für Mütter, die daheim Kinder und Küche hüten, mutet daher weltfremd an. Es ist der verzweifelte Versuch erzkonservativer Teile der Union, das in der Bevölkerung weit verbreitete Bedürfnis nach sozialer Emanzipation zu unterdrücken.
Viele Grüne befürworten Bundeswehreinsatz in Afghanistan
Obwohl sich 76 Prozent der befragten Grünen-Wähler als links bezeichnen, haben sie offenbar eine andere Auffassung von "links" als andere Wähler. In wirtschaftlichen Fragen liegen sie meist nicht weit von den Anhängern der FDP entfernt, die auf der Skala weit rechts liegt. So spricht sich zwar auch bei den Grünen-Anhängern eine überwiegende Mehrheit für die Rücknahme der Rente mit 67 aus, es sind aber deutlich weniger als bei den anderen Parteien. Bei der Privatisierung öffentlicher Unternehmen gibt es bei den Grünen mit 48 Prozent den größten Zuspruch.
Am deutlichsten zeigt sich die Rechtsentwicklung dieser vormals pazifistischen Partei in der Frage des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan. Während 62 Prozent aller Befragten den Einsatz für "eher falsch" und nur 34 Prozent für "eher richtig" halten, unterstützen 47 Prozent der Grünen-Anhänger den Bundeswehreinsatz. "Die Grünen als letzter Rückhalt der Armee im Ausland, das ist eine ziemlich vertrackte Ironie der Geschichte", schreibt Zeit -Kommentator Jörg Lau.
Die soziale Frage rückt in den Mittelpunkt
Die Emnid-Umfrage bestätigt, dass sich zwischen der offiziellen Politik und der breiten Bevölkerung eine tiefe Kluft aufgetan hat. SPD und CDU/CSU, die sich gerne als "Volksparteien" bezeichnen, vertreten in der existenziellen Frage nach sozialer Gerechtigkeit nur noch 16 Prozent der Bevölkerung.
Andere Umfragen unterstützen dieses Ergebnis. Das Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung schreibt in einem Beitrag für die aktuelle Ausgabe der WSI-Mitteilungen, dass die Zufriedenheit mit dem Gesundheitssystem in Deutschland von knapp 64 Prozent im Jahr 1996 auf knapp 31 Prozent 2002 zurückgegangen ist. Mit den Gesundheitsreformen der vergangenen fünf Jahre wird die Unzufriedenheit weiter gewachsen sein.
Das Kampagnen-Trommelfeuer von Politik und Medien über die "Alterung der Gesellschaft", den "Bürokratieabbau", den "Segen des privaten Unternehmertums", gegen "sentimentalen Sozialkonservatismus" und "Rundum-Versorger-Staat" konnte die triste Wirklichkeit nicht überdecken. Seit Jahren sinken Reallöhne und Einkommen normaler Familien.
Die Zahl der Beschäftigten mit einem Einkommen, das einer Familie ein Auskommen garantierten, sinkt stetig. Die Menschen spüren vor Ort die Kürzungen im öffentlichen Bereich. Allein in den vergangenen Jahren sind mehr als 500 Bahnhöfe stillgelegt, mehr als 10.000 Stellen in der Jugendarbeit gestrichen und mehr als 1.500 öffentliche Bäder geschlossen worden. Hinzu kommt die Schließung von Bibliotheken, Jugendzentren, Beratungsstellen, Postämtern usw.
In kurzer Zeit sind 50.000 Pflegestellen in Krankenhäusern weggefallen, bei einer Zunahme der Zahl der Patienten im gleichen Zeitraum um eine Million.
Die größten Einbußen mussten jene hinnehmen, die von der Erwerbstätigkeit ausgeschlossen sind. Mit den Hartz-Gesetzen hat die rot-grüne Bundesregierung unter Gerhard Schröder den Arbeitslosen Kürzungen verordnet, wie es sie seit der Weimarer Republik nicht mehr gab - und damit ein enormes Druckmittel gegen Beschäftigte geschaffen.
Nach einem Jahr hat ein Arbeitsloser nur noch Anspruch auf den Arbeitslosengeld-II-Regelsatz von 347 Euro im Monat. Diese 347 Euro für Langzeitarbeitslose, deren Zahl - trotz Aufschwung - weiterhin auf hohem Niveau verharrt, sind kaum mehr als ein Almosen. Der Satz war relativ willkürlich auf Grundlage des Konsums des untersten Fünftels der Einkommen von Alleinerziehenden festgelegt worden. Mit anderen Worten, auf Grundlage des Konsums der Ärmsten der Armen.
Der Regelsatz wird nicht an die Inflationsrate oder die durchschnittlichen Lohntariferhöhungen angepasst, sondern an die Renten. Diese verbuchten in den letzten Jahren Nullrunden und erst in diesem Jahr eine Steigerung von 0,54 Prozent. Damit ist der Hartz-IV-Regelsatz in den letzten drei Jahren um 2 Euro auf 347 Euro erhöht worden. Derzeit müssen weit über 7 Millionen von Hartz IV leben, fast 1,3 Millionen von ihnen arbeiten in einem Niedriglohn- oder Minijob.
Die Zeit ist sich bewusst, dass das politische Vakuum, das sich zwischen der arbeitenden Bevölkerung und dem politischen Establishment aufgetan hat, zu heftigen Klassenkämpfen führen kann. Jörg Lau warnt: "Wenn das Vertrauen in die Chancengerechtigkeit einer Gesellschaft verloren geht, kann das zu einem Problem für die Demokratie werden." Mit "Demokratie" ist hier nicht die Bestimmung der Politik durch den Willen des Volkes, sondern der Erhalt der bürgerlichen, kapitalistischen Ordnung gemeint.
In diesem Zusammenhang muss auch die Rolle der Partei "Die Linke" gesehen werden. Getragen von langjährigen Sozialdemokraten, Gewerkschaftsbürokraten und ehemaligen SED-Stalinisten versucht sie das entstandene politische Vakuum zu füllen, um die bürgerliche Ordnung zu retten. Ihre linken Phrasen gehen einher mit einer rechten Praxis, die man in Berlin und den ostdeutschen Kommunen, in denen sie Regierungsverantwortung trägt, besichtigen kann. Hier spielt sie den Vorreiter bei Sozialkürzungen, Privatisierung und Arbeitsplatzabbau im öffentlichen Dienst.
Nur der Aufbau einer internationalen sozialistischen Partei, die die gesellschaftlichen Bedürfnisse über die Profitinteressen der Konzerne stellt, kann der Linksentwicklung der Arbeiterklasse eine politische Orientierung geben. Das ist das Ziel der Partei für Soziale Gleichheit und der World Socialist Website.