Zahl der Lehrstellen geht weiter zurück
Von Dietmar Henning
15. September 2006
Es ist jedes Jahr dasselbe. Auch zu Beginn des neuen Lehrjahres werden wieder Hunderttausende Jugendliche ohne Ausbildungsplatz dastehen.
Laut Bundesagentur für Arbeit (BA) hatten im August noch rund 215.000 Lehrstellenbewerber keinen Ausbildungsplatz gefunden, bei 73.100 gemeldeten freien Stellen. Die Zahl der nicht vermittelten Bewerber lag damit um zehn Prozent über dem Vorjahreswert, der damals schon einen traurigen Rekord darstellte.
Insgesamt wurden den örtlichen Arbeitsagenturen in diesem Jahr nur 418.400 Ausbildungsplätze gemeldet, 9.100 weniger als im Vorjahr. Nicht einmal mehr ein Viertel der Betriebe schließt Ausbildungsverträge ab. 2002 hatte die Zahl der gemeldeten Ausbildungsplätze noch bei 570.000 und 1999 sogar bei 631.000 gelegen.
Um die 418.400 gemeldeten Ausbildungsplätze bewarben sich zwischen Oktober 2005 und August 2006 mehr als 700.000 Jugendliche. Dies bedeute nicht, dass Ausbildungsplätze in dieser Größenordnung fehlten, schreibt die BA in ihrem Monatsbericht. Sie geht aber davon aus, dass die Lehrstellenlücke Ende September, am Schluss des laufenden Berufsberatungsjahres, über dem Vorjahreswert von 28.300 liegen wird.
Tatsächlich fehlen weit mehr Lehrstellen. Zahllose so genannte Warteschleifen - berufsvorbereitende Bildungsmaßnahmen (BvB), Qualifizierungsmaßnahmen usw. - verschleiern Jahr für Jahr das wahre Ausmaß des Mangels. Viele Jugendliche gehen auch einfach weiter zur Schule, weil sie keine Aussicht auf einen Ausbildungsplatz haben.
2004 (neuere Zahlen existieren nicht) befanden sich insgesamt 403.200 Schülerinnen und Schüler in Bildungsangeboten beruflicher Schulen, an deren Ende kein Berufsabschluss steht. Weitere rund 120.000 Schülerinnen und Schüler gehen jedes Jahr in BvB-Maßnahmen. Mithin beträgt also die Zahl der Jugendlichen ohne Lehrstelle rund eine halbe Million.
Ein Blick in einzelne Länder und Städte verdeutlicht die dramatische Situation.
In Hamburg wurden von fast 28.000 Jugendlichen, die sich bei der Bundesagentur meldeten, für das laufende Ausbildungsjahr nur 7.187 als Ausbildungsplatzbewerber anerkannt. Mehrere Tausend wurden als "nicht ausbildungsreif" eingestuft und in berufsvorbereitende Maßnahmen oder andere Warteschleifen gesteckt. Von den 7.187 offiziell anerkannten Bewerbern waren 71 Prozent Altbewerber, die in den letzten Jahren keinen Ausbildungsplatz gefunden hatten.
In Nordrhein-Westfalen ergibt sich ein ähnliches Bild. Die Regionaldirektion Nordrhein-Westfalen geht derzeit von mehr als 40.000 Bewerbern aus, die noch keinen Ausbildungsvertrag unterschrieben haben. Im vergangenen Jahr lag die Zahl zur gleichen Zeit bei 35.000. Ende September werden es voraussichtlich noch 10.000 sein - 1.000 mehr als im letzten Jahr.
Besonders dramatisch ist die Situation bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Wegen des schwierigen Zugangs zu einer voll qualifizierenden Ausbildung bleiben sie überproportional häufig ohne einen anerkannten Berufsabschluss. Lediglich 25 Prozent aller ausländischen Jugendlichen befanden sich 2004 in einer dualen Berufsausbildung (1994: 34 Prozent), während die Ausbildungsbeteiligungsquote deutscher Jugendlicher bei 59 Prozent lag.
Warteschleifen
Während in vielen Bundesländern aus Kostengründen die Schulzeit verkürzt und das Einschulungsalter gesenkt wird, verlängert sich die Wartezeit zwischen Schulende und Ausbildung und zwischen Ausbildung und Berufsanfang immer mehr. Warteschleifen - in Form von vorbereitenden Maßnahmen, Praktika oder Volontariaten - machen inzwischen einen großen Teil der Biografie eines jungen Menschen aus. Sie können sich über Jahre hinziehen. Oft mündet eine Warteschleife in die nächste, ohne dass ein Ende abzusehen wäre.
Inzwischen absolvieren nur noch die wenigsten Jugendlichen direkt nach ihrer Schulzeit eine Ausbildung. Obwohl sie in der Regel mit 15 oder 16 Jahren ihre Schulpflicht erfüllt haben, beträgt das Durchschnittsalter bei Beginn der Berufsausbildung laut Berufsbildungsbericht fast 19 Jahre.
Dabei will jeder zweite Hauptschüler unmittelbar nach Schulabschluss eine Ausbildung beginnen, wie aus einer Befragung des Deutschen Jugendinstituts (DJI) vom März 2004 hervorgeht. Die andere Hälfte der Befragten wollte ihre Chancen durch weiteren Schulbesuch oder Berufsvorbereitung verbessern. Bildung und Ausbildung stünden bei den Jugendlichen hoch im Kurs, so das DJI. Nur zwei Prozent wollten als Ungelernte arbeiten.
Tatsächlich war im Herbst 2004 dann nur einem Viertel der Hauptschülerinnen und -schüler der Übergang in die Berufsausbildung gelungen. 35 Prozent gingen weiter zur Schule, ein Viertel begann eine Berufsvorbereitung und 10 Prozent befanden sich weder in der Schule noch in Ausbildung oder Arbeit.
Die Berufsvorbereitung erwies sich in den meisten Fällen als Fehlschlag. Nur ein gutes Drittel schaffte danach den Sprung in die eigentliche Ausbildung, ein weiteres knappes Drittel war ein Jahr später wieder in einer Berufsvorbereitung, und für 15 Prozent der Jugendlichen folgte auf die Berufsvorbereitung sogar die Arbeitslosigkeit.
Laut einer Umfrage der Bertelsmann Stiftung sorgt sich mehr als die Hälfte der deutschen Jugendlichen zwischen 14 und 20 Jahren um einen Arbeitsplatz und blickt skeptisch oder pessimistisch in die berufliche Zukunft. Vor allem Hauptschüler sehen sich als die großen Verlierer im Kampf um Ausbildungs- und Arbeitsplätze.
Soziale Selektion
Fehlende Ausbildung, Arbeitslosigkeit und Armut bilden einen Teufelskreis, der von den Eltern auf die Kinder übergreift und dem nur schwer zu entkommen ist.
Nicht erst seit dem PISA-Test ist bekannt, dass kein Schulsystem so stark nach sozialer Herkunft selektiert wie das deutsche. Kinder von Eltern die arm sind und über einen geringen Bildungsabschluss verfügen, haben es in deutschen Schulen schwer, gefördert zu werden. Selbst bei gleichen Leistungen werden die Ergebnisse der armen Kinder schlechter bewertet bzw. benotet.
Ein schlechter Schulabschluss bedeutet aber heute, in Zeiten des Lehrstellenmangels, dass man keine Ausbildungsstelle bekommt. Keine Ausbildung führt wiederum zu Problemen bei der Jobsuche. Falls man überhaupt einen Arbeitsplatz ergattert, dann einen schlecht bezahlten. Ungelernte fallen auch Rationalisierungsmaßnahmen als erste zum Opfer, sie müssen häufiger als Gelernte den Job wechseln. Ihre Kinder wachsen in Armut auf, was sich wieder auf deren Schulabschlüsse auswirkt. Der Teufelskreis beginnt von neuem.
Doch nicht nur das stark selektierende Bildungssystem trägt zu wachsender Armut bei. Die Kinderarmut in Deutschland ist in den vergangenen Jahren vor allem durch die Hartz-Gesetzgebung stark angewachsen. Nach Schätzungen des Kinderschutzbundes leben heute 2,5 Millionen Kinder und Jugendliche auf Sozialhilfeniveau. In der Hauptstadt Berlin liegt die Quote sogar bei 37 Prozent und ist damit die höchste in ganz Deutschland.
Immer mehr Kinder müssen auf Taschengeld, Klassenfahrten und Sportangebote verzichten. Oft ernähren sie sich mangelhaft und sind bei schlechter Gesundheit. Benachteiligte Kinder bleiben immer häufiger in isolierten Wohnvierteln unter sich, ohne gute Schulen, Ausbildungsmöglichkeiten und ausreichende soziale Unterstützung, klagt der Kinderschutzbund.
Als 2003 der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband (DPWV) davor warnte, dass die "Agenda 2010" und die Hartz-Gesetze dazu führen würden, dass jeder zehnte Minderjährige in Armut lebt, wies die damalige Bundesregierung unter SPD und Grünen dies als Schwarzmalerei zurück. Heute lebt jeder siebte Minderjährige in Armut.