Joschka Fischer wirbt für eine imperialistische Außenpolitik
Von Peter Schwarz
2. September 2006
Eine Woche nach der Entscheidung der europäischen Außenminister, 7.000 Soldaten in den Libanon zu entsenden, hat sich auch der frühere deutsche Außenminister Joschka Fischer zu Wort gemeldet. Sein Beitrag, der am Freitag unter der Überschrift "Willkommen in der Realität" in der Süddeutschen Zeitung erschien, ist sowohl dem Inhalt wie dem Ton nach bemerkenswert.
Der langjährige Wortführer der Grünen unterstützt den bisher größten Militäreinsatz der EU und gibt unverhohlen zu, dass er den strategischen Interessen Europas dient. Von der einstigen Haltung der Grünen, die militärische Auslandseinsätze lange Zeit grundsätzlich abgelehnt und später ihre Zustimmung dazu in eine altruistische Friedensrhetorik verpackt hatten, findet sich bei Fischer keine Spur mehr.
"Im Libanon muss Europa zeigen, ob es die Kraft hat, seine politischen Interessen durchzusetzen", überschreibt Fischer seinen Beitrag. In diesem Ton geht es weiter. Der Libanonkrieg habe die EU-Europäer "unsanft mit der Nase auf die Tatsache gestoßen, dass sie strategische Interessen haben", behauptet Fischer und präzisiert, dass zu "den Interessen der EU und ihrer Mitgliedstaaten in dieser Krisenregion" sowohl "Energie- und Wirtschaftsinteressen" als auch "die alles überragenden europäischen Sicherheitsinteressen" gehören.
Auf die selbst gestellte Frage: "Kann die EU tatsächlich in einer der gefährlichsten Konfliktregionen, die geopolitisch zur unmittelbaren Nachbarschaft Europas gehört, als Stabilitäts- und Machtfaktor auftreten?", antwortet Fischer, der Einsatz sei alternativlos.
Der Einsatz werde sich "auf einem gleichermaßen gefährlichen wie schmalen Grat eines robusten Stabilisierungs-Auftrags bewegen, bei dem die tägliche Absturzgefahr und ein hohes militärisches Risiko zu gewärtigen sein werden". Für Europa, folgert Fischer, werde es "angesichts des Risikos für seine Soldaten deshalb zwingend sein, das politische Umfeld im Nahen Osten positiv zu beeinflussen oder gar strategisch zu verändern".
Das ist meilenweit entfernt von dem Friedens- und Demokratie-Gerede, mit dem die Grünen ihre Zustimmung zu den Bundeswehreinsätzen im Kosovo, in Afghanistan oder jüngst im Kongo bemäntelt haben. Da hatte es stets geheißen, es gehe darum Frieden zu schaffen, einen Völkermord zu unterbinden oder die Demokratie zu sichern. Nun spricht Fischer von strategischen Interessen und der "strategischen Veränderung des politischen Umfelds".
Letzteres bedeutet, ins Amerikanische übersetzt, "regime change" - denn was soll unter einer "strategischen Veränderung des politischen Umfelds" zu verstehen sein, wenn nicht die Einsetzung eines den Europäern genehmen Regimes? Von der Entsendung einer Truppe mit "robustem Mandat", die "zentrale europäische Interessen" verteidigt, ist es dann nur noch ein kleiner Schritt zur Doktrin des Präventivkriegs, mit der die USA den Irakkrieg gerechtfertigt haben.
Fischer beschreibt damit ziemlich genau den wirklichen Charakters des Libanon-Einsatzes, der fälschlicherweise als Friedensmission bezeichnet wird. Nicht zufällig erklärt er, mit der Entscheidung für die Libanon-Mission habe "die EU militärisch einen Rubikon überschritten".
Ginge es tatsächlich um Frieden, dann müsste die Truppe die libanesische Bevölkerung vor dem israelischen Militärapparat schützen, der große Teile der Infrastruktur zerstört, über tausend Zivilisten getötet und das Land mit hochexplosiven Streubomben verseucht hat. Das ist aber nicht ihre Aufgabe. Trotz inständiger Bitten von UN-Generalsekretär Kofi Annan war die israelische Regierung bisher noch nicht einmal bereit, die Blockade des libanesischen Luftraums und der Küste aufzuheben, die verheerende wirtschaftliche Auswirkungen habt.
Die wirkliche Aufgabe der UN-Truppe besteht darin, die weitverbreitete Opposition gegen die USA, gegen Israel und gegen die willfährigen arabischen Regierungen, die der 34-tägige israelische Bombenterror weder einschüchtern noch zerschlagen konnte, in Schach zu halten. Ihre Aufgabe geht zwar nicht so weit, die Entwaffnung zu versuchen, denn das, so Fischer, "hieße Krieg gegen die Hisbollah" und "eine solche Aufgabe kann die UN-Truppe nicht leisten". Mit ihrem robusten Mandat soll die Truppe aber in der Lage sein, Widerstand in der Bevölkerung zu unterdrücken und ein gefügiges Marionettenregime in Beirut zu unterstützen.
Früher bezeichnete man das als Imperialismus, und der größte europäische Militäreinsatz seit Bestehen der EU ist in der Tat Ausdruck des Wiedererwachsens einer aggressiven imperialistischen Außenpolitik Europas.
Den Verantwortlichen in Brüssel, Berlin, Paris und Rom ist nicht entgangen, dass die Autorität der USA im Nahen Osten aufgrund des Debakels im Irak und des Scheiterns der israelischen Offensive gegen die Hisbollah schwer gelitten hat. "Der anhaltende Krieg im Irak zehrt", nach den Worten Fischers, "an den militärischen Fähigkeiten der USA und produzierte zudem eine moralische und politische Legitimationskrise der USA in der islamisch-arabischen Welt."
Daraus leiten die EU-Politiker einerseits die Aufgabe ab, selbst für "Stabilität" und "Sicherheit" im Nahen Osten zu sorgen, indem sie die USA in der Rolle des Weltpolizisten ergänzen oder ablösen. Zum andern sehen sie die Chance, erstmals seit 15 Jahren wieder selbst die politische Initiative im Nahen Osten zu ergreifen. Seit dem ersten Golfkrieg hatten dort die USA den Ton angegeben; die Europäer waren lediglich als Geldgeber und Truppensteller willkommen.
Nicht nur Fischer sieht angesichts der Krise der USA die Möglichkeit, verstärkt eigene Interessen im Nahen Osten wahrzunehmen. Ähnlich hatte sich vor einer Woche der italienische Außenminister Massimo DAlema in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung geäußert. Der einstige Jugendfunktionär der Kommunistischen Partei bezeichnete die militärische Intervention im Libanon als "eine große Gelegenheit für Europa, das im Nahen Osten nie ein großes Gewicht hatte und vor allem bezahlt hat, aber weniger als Mitspieler anerkannt war".
Im Mai 2000 hatte Fischer, damals noch Außenminister, eine vielbeachtete Rede an der Berliner Humboldt-Universität gehalten. Darin beschwor er eine Europäische Föderation, die mittels der schnellstmöglichen Erweiterung der EU, die "gerade für Deutschland im obersten nationalen Interesse" liege, sowie einer grundlegenden Reform der europäischen Institutionen angegangen werden solle. Doch der von Fischer skizzierte Versuch, Europa von oben zu einen, scheiterte am Widerstand gegen die undemokratische und neoliberale europäische Verfassung, die in Frankreich und Holland in Volksabstimmungen abgelehnt wurde.
Nun betrachtet Fischer die europäische Militärintervention im Libanon als Hebel, um die Einigung Europas von oben durch äußeren Druck zu erreichen. Ähnlich wie Bismarck einst Kriege gegen Deutschlands Nachbarn nutzte, um das Reich unter der Herrschaft der reaktionärsten politischen Kräfte zu einen, soll die gemeinsame Militärintervention im Libanon helfen, Europa unter der Vorherrschaft der mächtigsten Länder zusammenzuschweißen.
"Krieg und Chaos im Nahen Osten", schreibt Fischer, "betreffen und erschüttern ganz unmittelbar die Sicherheit der EU und all ihrer Mitgliedstaaten. Europa musste also handeln, auch wenn es ihm sichtlich schwer gefallen ist." Die entscheidende Frage der nächsten Zeit werde sein, "ob es tatsächlich auch die militärisch-politischen Fähigkeiten, das politische Durchhaltevermögen und den gemeinsamen Willen haben wird, um seinen Kerninteressen gemäß im Nahen Osten zu handeln?"
Eine imperialistische Außenpolitik geht stets einher mit einer reaktionären Sozial- und Innenpolitik. Das war schon Rosa Luxemburg klar, die unermüdlich gegen den Imperialismus des wilhelminischen Kaiserreichs, gegen den Erwerb von Kolonien und den Aufbau einer Kriegsflotte kämpfte.
"Eine aggressive Weltpolitik geht Hand in Hand... mit einer reaktionären Sozialpolitik im Innern des Staatslebens," schrieb sie 1899. Zwischen diesen Erscheinungen besteht "ein unzerreißbarer logischer Zusammenhang". "Die deutsche Arbeiterklasse hat es schon zu ihrem Schaden deutlich genug unter dem Regiment Bismarcks, dieser Vereinigung der Blut-und-Eisen-Politik des Militarismus... und des Sozialistengesetzes zu fühlen bekommen." Luxemburg zog daraus den Schluss: "Wer eine moderne, fortschrittliche Sozialpolitik will, muss dem Land- und Wassermilitarismus mit aller Macht Widerstand leisten." [1]
Dieser Zusammenhang besteht auch heute. Man kann die pausenlosen Angriffe auf demokratische Rechte und soziale Errungenschaften, die in allen europäischen Ländern stattfinden, nicht von der zunehmend aggressiven Außenpolitik trennen. Die militärische Intervention im Libanon muss zum einen aus grundsätzlicher Opposition gegen jede imperialistische Außenpolitik abgelehnt werden. Sie muss aber auch zurückgewiesen werden, um die sozialen und politischen Rechte im eigenen Land zu verteidigen.
Noch in einer weiteren Hinsicht bestehen Parallelen zwischen der heutigen Zeit und der wilhelminischen Epoche. Ein typisches Merkmal des Vorabends des Ersten Weltkriegs war der Übergang nahezu aller Parteien ins imperialistische Lager. Die SPD widerstand der Begeisterung für Kolonien, Flottenvermehrung und Militarismus am längsten, bis schließlich auch sie mehrheitlich kapitulierte und im August 1914 den Kriegskrediten für den Ersten Weltkrieg zustimmte.
Der Übergang der Grünen - oder der ehemaligen Kommunisten in der italienischen Regierung - ins Lager des Imperialismus ist ein sicheres Zeichen, dass die internationalen Spannungen und die damit verbundene Kriegsgefahr weit fortgeschritten sind. Dagegen gilt es aufzutreten.
* * *
[1] Rosa Luxemburg, "Flottenvermehrung und Handelspolitik", in Gesammelte Werke, Band 1/1, S. 614