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Britischer Armeechef fordert Rückzug aus dem Irak

Von Chris Marsden
17. Oktober 2006
aus dem Englischen (14. Oktober 2006)

Der britische Generalstabschef General Sir Richard Dannatt hat öffentlich gefordert, die britischen Truppen alsbald aus dem Irak zurückzuziehen. Andernfalls riskiere man katastrophale Konsequenzen für den Irak und für die britische Gesellschaft.

In einem Interview mit der Tageszeitung Daily Mail sagte der Armeechef, die weitere Anwesenheit britischer Truppen verschärfe "nicht nur die Sicherheitsprobleme" im Irak, sondern vergrößere auch "unsere Probleme überall in der Welt". Die Folge sei außerdem "ein moralisches und geistiges Vakuum", das sich in der britischen Gesellschaft auftue. Dies erlaube muslimischen Extremisten, die christlichen Werte zu unterhöhlen, auf denen "unsere Lebensweise" beruhe.

Ausdrücklich verurteilte Dannatt Premierminister Tony Blairs erklärtes Ziel, eine "liberale Demokratie" im Irak zu schaffen, als "naiven" Unsinn.

"Wir befinden uns in einem muslimischen Land, und die Ansichten von Muslimen über Ausländer in ihrem Land sind recht klar", sagte er. Als geladener Gast sei man willkommen, aber "mit unserem militärischen Vorgehen 2003 haben wir praktisch die Tür eingetreten. Die Zustimmung, die wir am Anfang gehabt haben mögen, hätte zu Toleranz führen können, sie hat jedoch vor allem zu Ablehnung geführt. Das ist eine Tatsache. Ich sage nicht, dass unsere Anwesenheit im Irak die Ursache aller Probleme ist, auf die wir weltweit treffen, aber mit Sicherheit werden sie dadurch verschärft."

Über den Krieg und die folgende Besatzung sagte er: "Ich denke, die Geschichte wird zeigen, dass die Planung für die Zeit nach der ersten erfolgreichen Kampfphase unzureichend und eher von Optimismus als von soliden Konzepten geprägt war. Ursprünglich bestand die Absicht, eine für die Region beispielhafte liberale Demokratie einzuführen, eine prowestliche Regierung, die sich möglichst positiv auf das Gleichgewicht im Nahen Osten auswirken sollte. Das war die Hoffnung. Ob das eine begründete oder eine naive Hoffnung war, wird die Geschichte zeigen. Ich glaube nicht, dass wir dieses Ziel erreichen werden. Wir sollten uns bescheidenere Ziele setzen."

Dannatts öffentliche Beschwerde über die Blair-Regierung ist beispiellos. Sie richtet sich sowohl gegen die Rechtfertigung für den Irakkrieg wie gegen die Kriegsführung und ihr Ergebnis. Seine Äußerungen sind der bisherige dramatische Höhepunkt einer schwelenden Unzufriedenheit in der Armee. Ursache ist die Unfähigkeit der britischen Einheiten, den Aufstand im Südirak zu unterdrücken, aber sie zeigt auch die allgemeine Opposition gegen Blairs politische Allianz mit den Vereinigten Staaten.

Dannatts Äußerungen kommen zu einem Zeitpunkt, da die Regierung nicht müde wird zu betonen, die Militärpräsenz müsse noch über Jahre hinweg aufrechterhalten werden. Zudem widerspricht der Armeechef der wiederholt geäußerten Meinung des Premierministers, der Irakkrieg habe die Terrorgefahr keineswegs erhöht.

Ausdrücklich erwähnte Dannatt weder die Bush-Regierung noch die Lage der US-Truppen im Irak. Aber es kann kaum ein Zufall sein, dass er mit der Daily Mail sprach, nachdem Präsident Bush mehrfach betont hatte, dass die USA im Irak "Kurs halten" müssten, und nachdem zahlreiche Berichte erschienen waren, laut denen Washington die konkrete Möglichkeit eines Putsches zur Beseitigung der schiitisch geprägten Regierung von Ministerpräsident Nuri al Maliki in Erwägung zieht.

Für Dannatt könnte ein Beweggrund darin bestehen, dass er seine eigene Haltung vermerkt wissen möchte, um nicht für die zunehmend katastrophalen Folgen der amerikanischen und britischen Regierungspolitik verantwortlich gemacht zu werden.

Seine Entscheidung, an die Presse zu gehen, wird auch kaum ein individueller Entschluss gewesen sein. Sein öffentliches Eingreifen in die politische Debatte kann nur Ausdruck der weit verbreiteten Auffassung unter aktiven Soldaten und in der obersten Armeeführung sein, dass das Ergebnis von Krieg und Besatzung eine Katastrophe darstellt. Auch ist nicht zu übersehen, dass er sich ebenso besorgt über die Lage in Afghanistan äußert. In einem Interview mit dem Guardian warnte er kurz zuvor, die Personaldecke der Truppen in Afghanistan sei bis zum Zerreißen gespannt. Er formulierte in Frageform: "Kommen wir zurecht? Gerade so."

Dannatt rechtfertigte seinen Gang an die Öffentlichkeit mit den Worten: "Ich werde laut sagen, was für die Armee gut ist." Die Times spekulierte, ob er sich "ohne oder mit Zustimmung der anderen Chefs der Teilstreitkräfte, besonders des Air Force Marschalls Sir Jock Stirrup, geäußert hat".

Der Telegraph holte Stellungnahmen von einigen aktiven Offizieren ein. Oberstleutnant David Labouchere, Kommandeur der britischen Truppen in der irakischen Provinz Maysan, sprach über die Feindseligkeit der örtlichen Bevölkerung: "Wenn wir keine positiven Erwartungen erfüllen können, dann sind wir überflüssig. Dass wir die härteste Truppe sind, macht nicht viel Eindruck auf sie."

Dannatt kritisierte nicht nur die Politik der Regierung. Er ließ erkennen, dass das Scheitern von Blairs Außenpolitik große Wut bei den Streitkräften hervorgerufen hat. Er warnte, die Regierung laufe Gefahr, den "Pakt" zwischen der Nation und ihrer Armee zu beschädigen, und forderte die Regierung auf, die "Armee nicht im Stich zu lassen".

Seine Äußerungen haben die volle Tiefe der politischen Krise ans Licht gebracht, in der sich die Blair-Regierung und die gesamte britische Bourgeoisie befinden. Nicht nur Blair persönlich hat sich nie wirklich von der Entscheidung erholt, Großbritannien in den Irakkrieg zu führen - er hat gleichzeitig in den Augen vieler Millionen Menschen auf der ganzen Welt dem britischen Staat die politische Glaubwürdigkeit und Daseinsberechtigung genommen und eine breite oppositionelle Stimmung in der arbeitenden Bevölkerung des eigenen Landes erzeugt.

Die Regierung ist völlig isoliert und verfolgt eine Politik, die von der großen Mehrheit der britischen Bevölkerung abgelehnt wird. Sie hat keine Unterstützung mehr. Als Folge des Debakels im Irak kommen jetzt Unruhe in der Armee sowie zunehmende Konflikte innerhalb der herrschenden Elite hinzu und rufen eine enorme Destabilisierung hervor.

Dannatt spricht für Teile der Bourgeoisie im Umfeld der Konservativen Partei, die zum Schluss gekommen sind, Blair habe die Interessen des britischen Imperialismus der "besonderen Beziehung" zur Bush-Regierung geopfert. Sie fordern, diese eigenen Interessen aggressiv und effektiv in den Vordergrund zu stellen.

Es wäre der schlimmste politische Fehler, die Opposition gegen die Blair-Regierung einem Teil der herrschenden Klasse zu überlassen, noch dazu dem obersten Militär. Deswegen ist die Erklärung von Andrew Burgin, dem Sprecher der "Stop the War Coalition" politisch so gefährlich, der den General wegen "seiner überzeugenden Argumente für einen Abzug der Truppen aus dem Irak" lobte.

Dannatt erläuterte in dem Interview seine eigenen extrem rechten Auffassungen in aller Breite. Er entwarf ein Szenario, dem zufolge sich die britische Armee auf einem weltweiten Kreuzzug zur Verteidigung der christlichen Gesellschaft gegen den Islam befindet und diesen Kampf auch an der Heimatfront führen muss.

"Wenn ich die islamistische Gefahr in diesem Land sehe, dann hoffe ich, dass sie nicht überhand nimmt, weil es in diesem Land ein moralisches und geistiges Vakuum gibt", sagte er. "Wir können die islamistische Bedrohung unserer Gesellschaft nicht hinwegwünschen, und ich glaube, dass die Armee im Irak und in Afghanistan und wahrscheinlich auch da, wohin wir als nächstes gehen werden, die vom Ausland ausgehende Gefahr für unsere Lebensweise bekämpft."

"Wir müssen uns der islamistischen Gefahr stellen", fuhr er fort. "Man sagt, wir leben in einer nachchristlichen Gesellschaft. Ich denke das ist eine große Schande. Die jüdisch-christliche Tradition ist die Basis unserer Gesellschaft. Sie ist die Basis der britischen Armee."

Seit seinem Interview hat Dannatt mehrfach seine Entschlossenheit bekräftigt, den Krieg im Irak zu gewinnen. Er sagte der BBC, dass Großbritannien "Schulter an Schulter mit den Amerikanern steht. Ihr Zeitplan und unser Zeitplan sind der gleiche. [...] Ich habe vor drei Wochen in einer Rede gesagt, dass ich Truppenkontingente für den Irak für 2007 und 2008 plane. Ich bin Soldat - wir geben nicht auf, wir hissen keine weißen Fahnen. Wir werden im Südirak bleiben, bis der Auftrag erfüllt ist - wir werden das durchstehen."

Blair stützte sich auf diese Passagen, als er sagte, er stimme mit jedem Wort Dannatts überein und "vermute", der General habe der Daily Mail ein langes Interview gegeben, von dem ein Teil aus dem Zusammenhang gerissen worden sei.

Die Blair-Regierung profitiert von dem Umstand, dass die weit verbreitete Opposition gegen ihre Kriegspolitik, gegen ihre Angriffe auf demokratische Rechte und gegen ihre unternehmerfreundliche Wirtschafts- und Sozialpolitik keinen politischen Ausdruck findet, dass sie unterdrückt und in die Sackgasse geführt wird, weil die alten Arbeiterorganisationen herunterkommen sind. Dies gibt Blair Spielraum und verschafft ihm die Möglichkeit, seine militaristischen und antidemokratischen Ziele weiter zu verfolgen.

Heute muss der Kampf gegen Militarismus und Krieg direkt gegen die Labour-Regierung und ihre Fürsprecher in der Gewerkschaftsbürokratie geführt werden. Dannatts Geständnis zur Lage im Irak ist kein Grund, sich passiv zurückzulehnen und darauf zu warten, dass die herrschende Klasse eine weniger verrückte Außenpolitik entwickelt. Es muss vielmehr als Signal für einen noch intensiveren, unabhängigen politischen Kampf der Arbeiterklasse gegen die Regierung dienen, der auf der Grundlage eines sozialistischen und internationalistischen Programms zu führen ist.

Siehe auch:
Terrorrazzien im August laut Observer von Washington ausgelöst
(6. Oktober 2006)
Blairs Parteitagsrede: Labour applaudiert dem eigenen Totengräber
( 30. September 2006)