Rasche Ausbreitung der Vogelgrippe in Europa und Afrika
Von Andreas Reiss
28. Februar 2006
"Primär außer Kontrolle" - so könnte man den aktuellen Ausbruch der asiatischen Form der Vogelgrippe in Deutschland und anderen europäischen Staaten beschreiben. Zu keinem Moment konnte die Politik auf Bundes-, Landes- oder Kreisebene den Eindruck vermitteln, als verfüge sie auch nur über den geringsten Plan zum Umgang mit der - immerhin keineswegs unerwartet eingetretenen - Krise.
Als die Seuche Anfang letzter Woche auf Rügen erstmals in Deutschland in den Kadavern einiger Schwäne nachgewiesen wurde, da konnte die Reaktion der zuständigen Behörden nur als nachlässig, wenn nicht gar kriminell bezeichnet werden. Es dauerte Tage, bis die völlig überforderten örtlichen Stellen mit dem Einsammeln der verendeten Tiere zu Rande kamen.
Niemand wusste zu jenem Zeitpunkt, wie viele der toten Vögel der Vogelgrippe bzw. dem auch für Menschen gefährlichen Erreger H5N1 erlegen und wie viele an Kälte, Hunger oder anderen Ursachen verendet waren. Der Eindruck drängte sich auf, als hätte niemand in den leitenden Stellen auf Rügen oder in Mecklenburg-Vorpommern auch nur den Wunsch gehabt, das Ausmaß des Ausbruchs der Seuche korrekt darzulegen. Zu groß war die Sorge, Touristen könnten die Insel meiden und der extrem labilen wirtschaftlichen Situation der Region so ein weiterer empfindlicher Schlag zufügen.
So waren die Höckerschwäne, für die am 14. Februar der Verdacht einer H5N1-Infektion bekannt gegeben wurde, bereits am 8. Februar tot aufgefunden worden. Erst am 19. Februar wurde nach vehementer Kritik aus Politik und Medien für den Landkreis Rügen der Katastrophenfall ausgerufen. Tags zuvor hatte die Landrätin Kerstin Kassner (Linkspartei) noch vor laufenden Kameras auf Nachfrage von Bundeslandwirtschafts- und Verbraucherschutzminister Horst Seehofer verkündet, die Lage unter Kontrolle zu haben. Dass der zuständige Bundesminister so schlecht informiert war, dass er einer so offensichtlich falschen Aussage Glauben schenken konnte, ist eine extrem naive Annahme.
Das Verhalten der offiziellen Stellen ist der tatsächlichen Bedeutung des Ausbruchs von H5N1 in keiner Weise angemessen: Die Fundorte verendeter Vögel wurden tagelang nicht abgesperrt, obwohl die Kadaver laut Aussage des Präsidenten des Friedrich-Loeffler-Instituts, Thomas Mettenleiter, "gigantische Viruslasten" in sich tragen können. Spaziergänger, Hunde und auch Pressevertreter hatten die Möglichkeit, bemerkt oder unbemerkt mit dem Virus in Kontakt zu kommen, sich zu infizieren und ihn weiter zu tragen, z.B. in Geflügelzuchten. Berichten zufolge wurde Kameraleuten, unmittelbar nachdem sie in Plastiksäcke gestopfte tote Schwäne gefilmt hatten, mit Hilfe der Behörden Zugang zu den Ställen von Geflügelzuchtbetrieben gewährt.
Das Ausmaß des aktuellen Ausbruchs in Deutschland ist derweil völlig unklar. Laborchemisch bestätigt ist die Infektion in bislang 124 (Stand Sonntagabend) Fällen, eine Zahl, die jedoch mit Sicherheit zu niedrig angesetzt ist. Sie bezieht sich lediglich auf die getesteten ca. 900 Tiere - insgesamt wurden jedoch weit über 2000 eingesammelt. Die meisten von ihnen wurden ohne jede Überprüfung in Verbrennungsanlagen transportiert, es ist daher insgesamt festzustellen, dass sich mehr Vögel mit H5N1 infiziert haben, als dies offiziell angegeben wird.
Inzwischen ist der Erreger in mindestens vier Bundesländern aufgetreten - neben Mecklenburg-Vorpommern auch in Baden-Württemberg, Schleswig-Holstein und Brandenburg.
Die ständigen Versicherungen, das Virus sei lediglich eine Tierseuche und die Gefahr für Menschen daher ungemein gering, wirkt hierbei bestenfalls befremdlich: Schließlich sind weltweit bereits 170 Menschen an H5N1 erkrankt und 92 von ihnen gestorben - so die gesicherten Zahlen, wobei eine Dunkelziffer nicht auszuschließen ist.
In krassem Gegensatz zu den Beschwichtigungen durch Politik und Medien steht auch das Auftreten der Bundeswehr auf Rügen. Vier Tage nach Bekanntgabe des Verdachts eines Vogelgrippeausbruchs hatte die Armee ABC-Spezialisten auf die Insel geschickt, zunächst ein "Erkundungsteam", sodann auch Einsatzkräfte. Vermummte Spezialkräfte durchkämmten Strände und Schilfgebiete, Tornado-Flugzeuge suchten nach toten Vögeln.
Wenn tatsächlich keinerlei Gefahr für Menschen besteht, so fragt man sich, wozu diese ausgeklügelten Vorsichtsmaßnahmen? Der Diskussion um erweiterte Einsatzmöglichkeiten für die Bundeswehr im Inland wurde in jedem Fall neue Nahrung gegeben - was gewissen Stellen durchaus gelegen kam.
Frankreich und Afrika
In Frankreich ist die Situation unterdessen schon um einen Schritt weiter eskaliert: In einer Geflügelhaltung im Departement Ain nahe Lyon verendeten rund 400 der 11.000 Hühner an einer Infektion mit H5N1. Es wird angenommen, dass sich die Tiere an im Freien aufbewahrtem Stroh infizierten, in dem sich zuvor Wildenten aufgehalten hatten.
Frankreich hat inzwischen angekündigt, binnen kurzem mit der Impfung großer Geflügelbestände zu beginnen. Drei Millionen Impfdosen wurden angeschafft, nachdem am 22. Februar die EU-Kommission grünes Licht für den Beginn der Impfungen gegeben hatte.
Die Impfung von Geflügel ist mit Recht umstritten. Viele Wissenschaftler warnen ausdrücklich vor ihr: Geimpfte Tiere können das Virus H5N1 sehr wohl in sich tragen und weiter verbreiten. Sie erkranken allerdings nicht an der Vogelgrippe, was die Erkennung betroffener Vögel bedeutend erschwert. Nur mit aufwändigsten Methoden kann eine - klinisch "stumme", also symptomlose - Infektion dann noch nachgewiesen werden. Ein geimpfter Bestand kann so geradezu ein Reservoir für H5N1 werden.
Der Fall von Ain stellt das erste Auftreten der Seuche unter Nutztieren in der Europäischen Union dar. Er demonstriert, wie aus einem scheinbar lokal begrenzten Ausbruch innerhalb von nur wenigen Tagen ein Flächenbrand werden kann, der sich über fast den gesamten Kontinent erstreckt - so sind inzwischen auch Österreich, die Schweiz und Italien betroffen. Es kann mit Bestimmtheit angenommen werden, dass weitere Infektionen von Geflügelhaltungen folgen werden: Die Rückkehr der Zugvögel aus ihren afrikanischen Winterquartieren steht bevor, und es ist so gut wie sicher, dass viele von ihnen das Virus mit sich tragen werden.
Auch in Afrika scheint die Lage völlig außer Kontrolle zu sein. Seit Anfang Februar grassiert H5N1 in Nigeria. Inzwischen ist das gesamte Land von der Seuche betroffen und es ist völlig unklar, wie weit das tatsächliche Verbreitungsgebiet bereits reicht.
Einer wirksamen Bekämpfung der Seuche stehen hier die gleichen Hindernisse wie in Ländern Asiens oder der Türkei im Weg: Es ist die Armut der Bevölkerung, der Mangel an Bildung und Verständnis für die Gefahren, sowie das weitgehende Fehlen der zur Seuchenbekämpfung nötigen Infrastruktur. Die meisten afrikanischen Staaten stehen einem Ausbruch der Vogelgrippe dadurch völlig hilflos gegenüber, sei er auch zunächst lokal begrenzt.
Dabei kommt das jetzige Auftreten des Erregers keineswegs unerwartet. So schrieb am 9. Februar 2006 die Onlineausgabe der Zeit : "Tatsächlich warnen Welthungerhilfe und andere Organisationen längst vor einem Übergriff der Seuche auf den afrikanischen Kontinent. Hühnerfleisch stellt vor allem für die Ärmsten vielerorts eine wichtige Handelsware, vor allem aber die einzige Quelle tierischen Eiweißes dar. Fast hinter jedem Haus und jeder Hütte flattert deshalb Federvieh herum. Sollte diese Existenzgrundlage durch eine Vogelgrippeepidemie vernichtet werden, drohe den Afrikanern schlicht eine Katastrophe, das hatte die Deutsche Welthungerhilfe schon im Dezember im Gespräch mit ZEIT online gesagt. Nigeria hat neben seinen Millionen privaten Hühnerhaltern außerdem eine bedeutende kommerzielle Geflügelwirtschaft, die im Zuge einer unkontrollierte Epidemie vermutlich unterginge."
Neben den wirtschaftlichen Folgen, die für Afrika verheerend und auch für einige europäische Staaten bedeutend sein könnten, steht die Menschheit weiter vor der Gefahr einer weltweiten Pandemie durch H5N1. Es müsste hierzu entweder zu einer Art "Kreuzung" des Vogelgrippeerregers mit einem den Menschen befallenden Grippevirus kommen, oder aber zur langsamen, spontanen Mutation des Erregers, die an einem bestimmten Punkt zur Entstehung eines für Menschen krankheitserregenden Virus führen kann.
In beiden Fällen gilt, dass sich die Möglichkeiten des Entstehens eines solchen neuen Virustyps durch die Infektion breiter Bestände von Geflügel drastisch erhöht. Sollte auf zufälligem Wege ein Virus derart mutiert sein, dass es von Mensch zu Mensch übertragbar wäre, so bedürfte es immer noch des engen Kontakts zu einem so genannten "Patienten Null", dessen Infektion dann zum Ausgangspunkt einer sich rapide über den gesamten Erdball verbreitenden Pandemie werden würde - so das beängstigende, aber durchaus realistische Szenario.
Entgegen den Beteuerungen von Politik und Medien, H5N1 sei lediglich der Erreger einer Tierseuche und für den Menschen bislang ungefährlich, stellt der breitflächige Ausbruch in Geflügelbeständen Europas und besonders Afrikas eine ernste potenzielle Gefahr dar. Wenn auch korrekt ist, dass bislang der gefürchtete Übergang auf den Menschen nicht stattgefunden hat, so muss dennoch mit diesem gerechnet werden und die bestmögliche Prävention hiergegen unternommen werden. Der Fall von Rügen hat gezeigt, dass die wirtschaftlichen Interessen einer Branche sowie die politischen Kalküle lokaler Behörden offensichtlich über einem der Bedeutung der Vogelgrippe angemessenen Handeln stehen.