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Bolkestein-Richtlinie

Der Kampf gegen die EU-Institutionen erfordert eine sozialistische Perspektive

Erklärung der Partei für Soziale Gleichheit
10. Februar 2006

Die Partei für Soziale Gleichheit unterstützt den Widerstand gegen die Dienstleistungsrichtlinie für den europäischen Binnenmarkt, genannt Bolkestein-Richtlinie, die ausschließlich dazu dient, den Sozialabbau in Europa zu beschleunigen.

Viele Millionen Menschen sind zu Recht empört darüber, dass die Brüsseler EU-Behörden diese Richtlinie, die schon im vergangenen Jahr im Zentrum der Auseinandersetzung um die EU-Verfassung und deren Ablehnung in Frankreich und den Niederlanden stand, nun weitgehend unverändert durchsetzen wollen.

Die Auseinandersetzung des vergangenen Jahres beinhaltet eine wichtige politische Erfahrung: Protest alleine reicht nicht aus! Die Massendemonstrationen, Großkundgebungen und millionenfachen Nein-Stimmen im letzten Sommer konnten die EU-Bürokratie nicht stoppen. Auch ohne Verfassung setzt die Brüsseler Bürokratie ihre Politik durch. Sie beabsichtigt, sich auch über die heutigen Demonstrationen in Berlin und Straßburg hinwegzusetzen.

Dazu kommt noch, dass viele Organisatoren der heutigen Demonstrationen - allen voran die Sozialdemokraten und Gewerkschaften - die EU-Politik im Großen und Ganzen unterstützen. Sie sind auf verschiedenen Ebenen fest in die Brüsseler Bürokratie eingebunden und haben alle wichtigen Entscheidungen mitgetragen. So hat beispielsweise die sozialdemokratische Berichterstatterin im zuständigen Binnenmarktausschuss, Evelyn Gebhard, auf einer Ausschusssitzung Ende November vergangenen Jahres Änderungsvorschläge zur Dienstleistungsrichtlinie eingebracht. Als diese abgelehnt wurden, stimmte sie nicht etwa gegen die Richtlinie, sondern enthielt sich der Stimme und ließ damit die Dienstleistungsrichtlinie passieren.

Auch Attac, deren Funktionäre nicht selten als wissenschaftliche Mitarbeiter in Abgeordnetenbüros der Sozialdemokraten und Grünen oder gewerkschaftsnahen Stiftungen ihr Geld verdienen, beschränkt den Protest auf Einzelfragen, ohne die Europäische Union als Ganze und ihre kapitalistische Politik in Frage zu stellen.

Die wichtigste Aufgabe, vor der die Demonstranten in Berlin und Straßburg stehen, besteht darin, sich mit einer sozialistischen Perspektive vertraut zu machen. Die Proteste müssen zum Ausgangspunk einer breiten politischen Mobilisierung gemacht werden, in der die europäische Bevölkerung den Brüsseler EU-Behörden und den hinter ihr stehenden Großkonzernen und Regierungen entgegentritt und eine tief greifende Umwälzung der Gesellschaft anstrebt, in der die Bedürfnisse der Bevölkerung höher gestellt werden, als die Profitinteressen der Wirtschaft.

Kernstück der EU-Reformen

Die Bolkestein-Richtlinie ist nicht ein "neoliberaler" Ausreißer eines längst nicht mehr amtierenden holländischen EU-Kommissars. Sie kann auch nicht dadurch verbessert werden, dass dem Text einige "Giftzähne" gezogen werden, wie manche Kommentatoren behaupten. Vielmehr bildet dieses Vertragswerk in vieler Hinsicht das Kernstück der Brüsseler EU-Reformen. Mit dieser Rahmenrichtlinie soll der gesamte Dienstleistungssektor auf einen Schlag dereguliert werden. Eine solche EU-Richtlinie ist ein europäisches Gesetz. Ist sie erst einmal verabschiedet, muss sie von alle Mitgliedstaaten umgesetzt werden.

Der Dienstleistungssektor umfasst in vielen EU-Staaten 70 Prozent der Beschäftigten und macht über zwei Drittel der Wirtschaftstätigkeit aus. Zu ihm gehören so unterschiedliche Branchen wie Pflegedienste, Bau, Handel, Gastronomie, Wasserversorgung oder Müllabfuhr. All diese Bereiche sollen einem ungehinderten Wettbewerbsdruck ausgesetzt werden.

Das bedeutet, dass Anforderungen hinsichtlich Preisen oder Qualität der Dienstleistungen oder Qualifikation der Anbieter abgebaut werden, beziehungsweise ganz entfallen. Der verstärkte Wettbewerbsdruck und die Billigkonkurrenz werden die stark fortgeschrittene Privatisierung des Öffentlichen Sektors weiter beschleunigen und eine Welle von Entlassungen auslösen.

Die Anforderungen an Unternehmen beim Eröffnen einer Niederlassung in einem anderen EU-Staat werden stark abgesenkt. Gleichzeitig wird das so genannte Herkunftslandprinzip eingeführt. Das bedeutet, Unternehmen werden in anderen EU-Staaten unter den Bedingungen aktiv, die im Staat ihrer Herkunft oder Niederlassung gelten. Die Folge davon wäre, dass mehr Unternehmen ihren Sitz in Staaten mit niedrigeren Standards verlegen und der Wettlauf um die niedrigsten Löhne, Steuern und sozialen Absicherungen zwischen den Mitgliedstaaten weiter angeheizt wird.

Wohin eine solche Politik der Wettbewerbsmaximierung führt, kann man in einigen Branchen bereits sehen. Rumänische und polnische Wanderarbeiter, die zu menschenunwürdigen Bedingungen und zu Hungerlöhnen in Schlachthöfen oder auf Baustellen arbeiten, sowie schlecht entlohnte Scheinselbstständige ohne Sozialversicherung sind bereits in vielen westeuropäischen Ländern anzutreffen. Sie werden dazu benutzt, das traditionelle Sozialgefüge aufzubrechen. Mit der geplanten Verabschiedung der Bolkestein-Richtlinie nach der ersten Lesung im Europäischen Parlament am 14. Februar wird diese Entwicklung dramatisch zunehmen.

Systematische Spaltung der Arbeiter

Als vor einigen Jahren der Euro als gemeinsame Währung eingeführt und EU-Maßnahmen zur Öffnung der Grenzen verabschiedet wurden, hofften viele Arbeiter in Europa auf eine engere Verbindung und Zusammenarbeit mit den Beschäftigten der anderen Länder. Doch es kam das genaue Gegenteil. Die Lohnunterschiede zwischen den Ländern der EU wurden benutzt, um die Arbeiter in den einzelnen Ländern gegeneinander auszuspielen.

Das Lohngefälle innerhalb der EU hat mit der Schaffung des gemeinsamen Binnenmarktes nicht ab, sondern zugenommen. Besonders die EU-Osterweiterung hat den sozialen Niedergang stark beschleunigt. Eine Arbeitsstunde in Skandinavien, Deutschland Großbritannien und Frankreich kostet den Arbeitgeber zwischen 25 und 30 Euro, in Polen 5 Euro, in den baltischen Staaten und der Slowakei 4 Euro und in Bulgarien, das demnächst in die EU aufgenommen werden soll, 1,40 Euro.

Die durchschnittlichen Bruttolöhne in Firmen, die mehr als zehn Leute beschäftigen, liegen in den großen westeuropäischen Ländern bei 2.500 bis 3.300 Euro monatlich, in Polen bei 540 Euro, in Litauen bei 345 und in Lettland bei 208 Euro.

Dieses Lohngefälle befindet sich auf engstem Raum. Von der deutschen Hauptstadt Berlin bis zur polnischen Grenze sind es nur 100 km, bis in die lettische Hauptstadt Riga etwas mehr als 1000 km. Auf einer Distanz von 1000 km gibt es also ein Lohngefälle von über 90 Prozent.

Die Löhne in Polen, dem größten osteuropäischen Beitrittsland, sind mit dem EU-Beitritt nicht etwa gestiegen, sondern gesunken. Laut offizieller EU-Statistik sank der polnische Durchschnittslohn von monatlich 625 Euro im Jahr 2001, als die EU-Beitrittsverhandlungen begannen, auf 536 Euro im Jahr 2003. Ein Grund dafür ist, dass viele Firmen in die benachbarte Ukraine abwandern, wo der durchschnittliche Monatslohn 50 Euro beträgt. Das sind weniger als zehn Prozent des polnischen und 1,7 Prozent des westeuropäischen Durchschnittslohns!

Viele Industriebetriebe haben bereits Teile der Produktion in die osteuropäischen Billiglohnländer ausgelagert und eine Welle von Massenentlassungen in Deutschland und anderen westeuropäischen Ländern ausgelöst. Mit der Verabschiedung der Bolkestein-Richtlinie sollen nun die Schleusen geöffnet werden, um alle noch bestehenden Reste an sozialen Absicherungen zu zerschlagen.

Vereinigte Sozialistische Staaten von Europa

Die Bolkestein-Richtlinie offenbart deutlicher als viele andere Maßnahmen den Charakter der EU als Werkzeug der mächtigsten Wirtschaftsverbände zur Durchsetzung von Sozialdumping. Arbeitslosigkeit, Armut und soziale Ungleichheit gehen Hand in Hand mit dem Abbau demokratischer Rechte und systematischer militärischer Aufrüstung.

Im Gegensatz zu den Sozialdemokraten, Gewerkschaften, der Linkspartei und Attac, die in der einen oder anderen Weise behaupten, die kapitalistische Politik der EU könne reformiert und humanisiert werden, vertreten wir eine sozialistische Perspektive. Die Einheit der europäischen Arbeiter muss durch einen gemeinsamen politischen Kampf geschaffen werden, der nicht nur diese oder jene EU-Richtlinie ablehnt, sondern sich kompromisslos gegen die Europäische Union, all ihre Institutionen und das gesamte kapitalistische System richtet.

Die Massendemonstrationen gegen den Irakkrieg vor drei Jahren und das Nein-Votum gegen die europäische Verfassung in Frankreich und den Niederlanden waren der Auftakt zu einer breiten politischen Bewegung. Nun ist es notwendig, eine revolutionäre Partei aufzubauen, die für die Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa kämpft. Wir laden jeden dazu ein, regelmäßig die World Socialist Web Site als revolutionäre Tageszeitung im Internet zu lesen und mit der Redaktion Kontakt aufzunehmen.

Siehe auch:
Nein zur europäischen Verfassung! Für die Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa!
(25. Mai 2005)