1. Mai 2005: 60 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges
Erster Teil | Zweiter Teil
Von David North
4. Mai 2005
aus dem Englischen (2. Mai 2005)
Die folgende Rede hielt David North auf einer Maiversammlung am 30. April in Berlin und am 1. Mai in London. North ist Chefredakteur der World Socialist Web Site und nationaler Sekretär der Socialist Equality Party in den Vereinigten Staaten.
Der heutigen Maifeier kommt eine besondere Bedeutung zu. Wir können nicht in Berlin zusammenkommen, ohne der Ereignisse zu gedenken, die vor exakt 60 Jahren in dieser Stadt stattgefunden haben. Berlin, vor 1933 eines der bedeutendsten Zentren der Kunst und Wissenschaft in der Weltgeschichte, war zu einem furchtbaren Inferno des Todes und der Zerstörung geworden. Während der letzten zehn Tage des April 1945 starben im letzten Gefecht von Hitlers "Tausendjährigem Reich" gegen die sowjetische Armee in Berlin eine Viertelmillion Soldaten und Zivilisten. Am 30. April beging Hitler schließlich Selbstmord und setzte damit einem bestialischen Regime ohne Beispiel ein Ende. Am Morgen des 1. Mai hatten sowjetische Truppen die Stadt unter Kontrolle. Eine Woche später, am 8. Mai 1945, unterzeichneten die Überreste des deutschen Generalstabes die Kapitulationsurkunde. Der Krieg in Europa, der im September 1939 begonnen hatte, war vorüber.
Doch der letzte Akt der Welttragödie stand noch aus. Der Krieg in Asien dauerte weitere drei Monate. Schließlich, am 6. August 1945, warfen die USA eine Atombombe über Hiroshima ab, einer Stadt praktisch ohne militärische Bedeutung. Drei Tage darauf wurde eine zweite Atombombe über Nagasaki abgeworfen. Durch diese beiden atomaren Schläge wurden nahezu eine Viertelmillion Menschen getötet oder schwer verwundet. Es besteht kein Zweifel, dass sich die kaiserliche Regierung Japans monströser Verbrechen an den Völkern Asiens schuldig gemacht hatte. Dennoch war der Abwurf zweier Atombomben - eine Entscheidung, die Präsident Truman, wie er selbst fröhlich zugab, keine Stunde Schlafes kostete - ein Akt der Barbarei. Wie der amerikanische Historiker Gabriel Jackson viele Jahre später schreiben sollte: "Unter den besonderen Umständen des August 1945 zeigte der Einsatz der Atombombe, dass ein psychisch völlig gesunder und demokratisch gewählter Staatschef die Waffe genauso benutzen konnte, wie es ein Nazidiktator getan haben würde. Auf diese Weise verwischten die Vereinigten Staaten für jeden, der den moralischen Unterschieden im Verhalten verschiedener Regierungsformen Wert beimisst, den Unterschied zwischen Faschismus und Demokratie auf." [1]
Noch sechs Jahrzehnte danach ist es fast unmöglich, sich einen Begriff vom Ausmaß der Gewalt und dem Leid zu machen, die der Krieg mit sich gebracht hatte. Die Gesamtzahl von Menschen, die während des Zweiten Weltkrieges starben, liegt vermutlich bei 70 Millionen oder gar mehr. Niemand weiß es genau. Wir wissen, dass das Nazi-Regime und seine Komplizen sechs Millionen europäische Juden ermordeten. Weitere drei Millionen nichtjüdische Polen wurden getötet. Nahezu 25 Millionen sowjetische Soldaten und Zivilisten mussten ihr Leben lassen. Fünfzehn Millionen Chinesen, sechs Millionen Deutsche und ebenso viele Japaner kamen um. Und weitere zwei Millionen Jugoslawen fanden den Tod.
Als das Ende des Zweiten Weltkrieges gekommen war, schwankten die Gefühle der Massen, die die Schlachterei miterlebt hatten, zwischen Wut und Hoffnung. In den Augen von Millionen Arbeitern auf der ganzen Welt war der Kapitalismus zutiefst diskreditiert. Das bloße Wort roch nach Verbrechen. Man war wütend auf die Gesellschaftsordnung, die die Verantwortung für die Schrecken von Imperialismus, Kolonialismus, Faschismus und Krieg trug. Und es gab Hoffnung, die Welt würde im Gefolge dieses Krieges auf einer menschlicheren, demokratischen und von mehr Gleichheit geprägten - mit einem Wort: sozialistischen - Grundlage wiederaufgebaut und neu organisiert.
Präsident Roosevelt war sich dieser verbreiteten Ablehnung des Kapitalismus äußerst bewusst. Er versprach dem amerikanischen Volk, aus dem Krieg würde eine bessere und gerechtere Welt erstehen.
Er erklärte: "Die grundlegenden Dinge, die unser Volk von seinem politischen und wirtschaftlichen System erwartet sind sehr einfach. Es sind dies: Chancengleichheit für Jugendliche und andere; Arbeit für die, die arbeiten können; Sicherheit für die, die sie brauchen; Abschaffung besonderer Privilegien für wenige; Erhaltung bürgerlicher Freiheiten für alle; Genuss der Früchte des wissenschaftlichen Fortschritts durch einen höheren und stetig steigenden Lebensstandard. Das sind die einfachen, die grundlegenden Dinge, die wir trotz des Durcheinanders und der unglaublichen Komplexität unserer modernen Zeiten niemals aus den Augen verlieren dürfen. Die innere, beständige Stärke unserer wirtschaftlichen und politischen Systeme hängt von dem Grad ab, in dem sie diese Erwartungen erfüllen."
Wenn wir diese Versprechen Roosevelts zum Maßstab nehmen, nach dem wir das kapitalistische System von heute beurteilen wollen, welches Urteil soll die Geschichte 60 Jahre nach Kriegsende fällen? Welche dieser "einfachen" und "grundlegenden Dinge" wurden in den Vereinigten Staaten, dem reichsten und mächtigsten kapitalistischen Land der Welt, verwirklicht?
Existiert Chancengleichheit für die Jugend, ganz zu schweigen von anderen? Überall in den USA, mit Ausnahme der reichsten Vorstädte, befindet sich das Bildungssystem im Kollaps. Tausende von Schulen im ganzen Land werden wegen Geldmangels geschlossen. Von den 35 Millionen Amerikanern, die unterhalb der Armutsgrenze leben, sind 40 Prozent Kinder.
Wie steht es mit Arbeit für die, die arbeiten können? Die offizielle Arbeitslosigkeit liegt zwischen 5 und 6 Prozent. Doch diese Statistik schließt nicht die zwei Millionen ein, die geringfügig beschäftigt sind oder es ganz aufgegeben haben, Arbeit zu suchen. Sie beinhaltet auch nicht die zwei Millionen Amerikaner, die im Gefängnis sitzen. Noch berücksichtigt sie die Qualität der Stellen, die amerikanische Arbeiter bekommen können: Millionen von ihnen wurden gezwungen, nach der Vernichtung ihres früheren Arbeitsplatzes zu niedrigerem Gehalt zu arbeiten. Was die "Sicherheit für die, die sie brauchen" anbelangt - die vorherrschende Wirklichkeit des amerikanische Lebens besteht darin, dass die gewaltige Mehrheit der amerikanischen Arbeiter in einem Zustand permanenter Unsicherheit lebt, ökonomischen Kräften ausgeliefert, über die sie keine Kontrolle haben.
Die in den USA bestehenden Klassenbeziehungen sind ein Hohn auf Roosevelts Versprechen, die "besonderen Privilegien für wenige" aufzuheben. In den Vereinigten Staaten herrscht heute die größte Ungleichheit von allen kapitalistischen Ländern, weniger als ein Prozent der Gesellschaft besitzt die faktische Kontrolle über mehr als die Hälfte des landesweiten Reichtums. Eine schmale Konzernaristokratie bezieht Einkommen, die im Durchschnitt fünfhundertmal höher sind als die der in ihren Firmen beschäftigten Arbeiter.
Was die bürgerlichen Freiheiten angeht, so sind diese in den USA in ungekanntem Ausmaß unter Beschuss geraten. Unter Missachtung der Verfassung beansprucht die Bush-Administration für sich das Recht, ihre Bürger festzunehmen und auf unbestimmte Zeit einzusperren, ohne ihnen das Verbrechen mitzuteilen, dessen sie angeklagt werden, und ohne ihnen Beistand durch einen Anwalt zu gewähren. Folter ist als legale Verhörmethode zugelassen worden, unter klarer Missachtung der Bestimmungen des Völkerrechts, eingeschlossen der Genfer Konventionen.
Und schließlich: Der "Genuss der Früchte des wissenschaftlichen Fortschritts durch einen höheren und stetig steigenden Lebensstandard" ist in den USA von 2005 ein Ding der Unmöglichkeit. Der Lebensstandard der großen Mehrheit der Amerikaner ist seit drei Jahrzehnten am sinken. Die Wissenschaft selbst befindet sich in einer Art Belagerungszustand. Ein reaktionäres Bündnis zwischen Staat und neofaschistischen, christlichen Fundamentalistengruppen versucht, das Lehren der Evolutionstheorie zu verbieten. Sie gehen so weit, Forschungszweige zu behindern oder gleich ganz zu verbieten, die in Konflikt mit biblischen Dogmen stehen.
Roosevelt versprach weiter, die Nachkriegswelt würde, wie er es nannte, "Freiheit von Furcht" garantieren. Seinen Worten zufolge bedeutete dies "die weltweite Reduktion der Waffenbestände bis auf ein Niveau und in so gründlicher Weise, dass keine Nation in der Lage sein wird, einen Akt gewaltsamer Aggression gegen ein Nachbarland zu unternehmen - nirgendwo auf der Welt. Das ist keine Zukunftsvision eines fernen Jahrtausends. Es ist die definitive Grundlage für eine Welt, die wir in unserer Zeit, in unserer Generation erreichen können."
Man kann nur feststellen: Dieses Versprechen einer friedlichen und rechtsstaatlichen Weltordnung, gegründet auf die Reduktion von Waffenbeständen und die Ablehnung von Angriffskriegen als Mittel staatlicher Politik, ist noch spektakulärer gescheitert als Roosevelts nationales Programm einer demokratischen Gesellschaft mit mehr Gleichheit auf kapitalistischer Grundlage. Der Angriffskrieg als Mittel zur Durchsetzung internationaler Ziele - das Hauptverbrechen, für das die Naziführer nach dem zweiten Weltkrieg gehängt wurden - ist von den Vereinigten Staaten in Form der Präventivkriegsdoktrin der Bush-Administration wieder aufgegriffen worden.
Doch der amerikanische Imperialismus schwebt nicht im luftleeren Raum. Seine räuberische Politik ist, über das Ziel der globalen Hegemonie hinaus, ein reaktionärer Versuch, Konflikte in den Griff zu bekommen, die aus dem grundsätzlichen Widerspruch zwischen dem Wachstum der Weltwirtschaft und dem archaischen nationalstaatlichen System hervorgehen. Die internationalen Spannungen sind heute auf einem Niveau, wie nie zuvor seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. In einer Welt, die vor Waffen strotzt, in der Nationen sich in einem Kampf auf Leben und Tod um den Zugang zu Rohstoffen befinden, um billige Arbeitskräfte und eine Vielzahl andere geopolitische und ökonomischer Vorteile - in einer solchen Welt kann ein Konfliktausbruch in fast jeder Weltregion zu einer weltweiten Auseinandersetzung eskalieren.
Der Einmarsch im Irak im März 2003 beschleunigte den Zusammenbruch des diplomatischen, juristischen und strukturellen Rahmens, durch den seit Ende des Zweiten Weltkrieges die internationalen Beziehungen geregelt wurden. Angefangen hatte dieser Prozess mit der Auflösung der Sowjetunion 1991. Internationale Bündnisse und Institutionen, die während des Kalten Krieges mit der Sowjetunion noch den Interessen der USA gedient hatten, wurden nun von Washington als Hindernisse bei der Verwirklichung seiner neuen globalen Ziele betrachtet.
Erstes und bedeutendstes Opfer dieser Umgruppierung nach Ende des Kalten Krieges ist die amerikanisch-westeuropäische Allianz. Ehemals unverzichtbarer strategischer Partner bei der Eindämmung der UdSSR, wird Europa heute in den USA als wichtigster wirtschaftlicher Rivale und als Hemmnis für Amerikas Hegemonialstreben betrachtet. Ein Hauptanliegen der USA ist es, zu verhindern, dass Europa eine gemeinsame Außenpolitik und Streitkräfte entwickelt, die auf Weltebene mit den Vereinigten Staaten konkurrieren könnten.
Die Einsicht, dass die USA mehr Gegner als Verbündeter sind, hat in Europa zu Verunsicherung und Ängsten geführt. Jedes einzelne Land in Europa ist nun gezwungen, seine Stellung in der neuen Weltordnung zu überdenken und eine Neubewertung seiner geopolitischen Optionen vorzunehmen. Kann Deutschland darauf vertrauen, dass Frankreich an der bisher von beiden Ländern geteilten Vision eines vereinten Europa unter ihrer gemeinsamen Führung festhalten wird? Oder wird Frankreich einen Handel mit den USA eingehen, auf Kosten Deutschlands? Soll Deutschland versuchen, sich den Zugang zu kritischen Ölvorkommen durch eine Allianz mit Russland - und möglicherweise Iran - zu sichern, und dadurch die Konfrontation mit den USA riskieren?
Iran hat sich zu einem Schlüsselfaktor der europäisch-amerikanischen Beziehungen entwickelt. Während die USA gegenüber Irans Atomenergieplänen eine aggressive Haltung eingenommen haben, engagiert sich Europa in Verhandlungen, um das Abreißen der starken wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Iran und Europa zu verhindern. Der Iran als bedeutender Öllieferant ist einer der wichtigsten Handelspartner Europas.
Bei ihrem Versuch, die Kontrolle über den Weltölmarkt zu erlangen, haben die USA den Iran ins Visier genommen. Dieser ist einer der größten Lieferanten nicht nur Europas, sondern auch für Russland, China, Indien und Japan. Die US-Regierung hat sich öffentlich und unnachgiebig gegen den Bau einer Ölpipeline von Iran durch Pakistan nach Indien ausgesprochen.
Wie der Ölexperte Michael Klare erklärt: "Die Vertreter der Bush-Administration haben zwei strategische Hauptziele: Einerseits besteht das Verlangen, iranische Öl- und Gasfelder für die Ausbeutung durch US-Firmen zu öffnen, andererseits aber auch Bedenken wegen Irans verstärkter Anbindung an Amerikas Konkurrenten auf dem globalen Energiemarkt... Vom Standpunkt der Bush-Administration gibt es nur einen naheliegenden und unmittelbaren Weg, diese unappetitliche Landschaft zu verändern - durch einen Regimewechsel im Iran und die Auswechselung der gegenwärtigen Führung durch eine, die den strategischen Interessen der USA weitaus freundlicher gesonnen ist." [2]
Der andauernde Kampf um den Zugang zu den Ölvorkommen des Mittleren Ostens kann sehr leicht in einen Krieg zwischen mehreren Großmächten münden. Falls die USA den Iran angreifen, wie würde Europa reagieren? Wie würden China, Indien und Russland reagieren?
In einer Welt, in der die Furcht vor Amerikas globalen Plänen zu einem Hauptfaktor internationaler Politik geworden ist, hoffen Länder, die sich als mögliches Angriffsziel sehen, dem Schicksal des Irak entgehen zu können, indem sie das Tempo ihrer militärischen und ökonomischen Entwicklung erhöhen. Russland fühlt sich zunehmend bedroht durch die Ausdehnung des amerikanischen Einflusses in Zentralasien und den ehemaligen Sowjetrepubliken. Ende 2004 arrangierten die USA die Machtübernahme einer pro-amerikanischen Regierung in der Ukraine. US-Außenministerin Condoleezza Rice sprach vor kurzem bei einer NATO-Konferenz in Litauen, das einst als Hinterhof Russlands betrachtet wurde. Kriegerisch forderte sie einen Regimewechsel im benachbarten Weißrussland, einem der letzten engen Verbündeten Russlands in der Region. Bedeutende Teile der herrschenden Elite in den USA haben Forderungen nach "Regimewechsel" in Russland selbst aufgeworfen.
China, das ebenfalls einen amerikanischen Angriff befürchtet, erwägt die Möglichkeit einer engeren Verbindung mit Indien. Doch sowohl China als auch Indien benötigen iranisches Öl, was zu neuen Konflikten zwischen den beiden asiatischen Mächten führen könnte.
Gleichzeitig haben die Beziehungen zwischen China und Japan den tiefsten Punkt seit Jahrzehnten erreicht. Den Anlass für das jüngste Aufflackern der Streitereien bildete zwar der Inhalt eines japanischen Schulgeschichtsbuchs, doch zwischen den beiden Ländern bestehen Konflikte, die entscheidende politische und strategische Fragen beinhalten. Es geht um die Kontrolle über das Öl im Ostchinesischen Meer und um die zunehmende Aufrüstung Japans - mit Unterstützung der USA.
Jeder dieser Konflikte - oder auch eine andere Auseinandersetzung - könnte zum Ausgangspunkt weitreichender Konfrontationen zwischen den Großmächten werden. Die Explosion amerikanischer Aggression hat eine Situation herbeigeführt, in der jedes Land der Welt Pläne zur Sicherung seiner eigenen wirtschaftlichen und militärischen Stellung im Verhältnis zu tatsächlichen oder möglichen Rivalen entwickelt. Mehr denn je seit Ende des Zweiten Weltkrieges ist die Welt heute ein Pulverfass von Konflikten und Widersprüchen zwischen imperialistischen Staaten.
Wird fortgesetzt.
Anmerkungen:
[1] Civilization and Barbarity in 20th Century Europe (New York, 1999), S. 176-77.
[2] Asia Times, April 2005