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Bush verurteilt das Jaltaabkommen von 1945

Von David North
13. Mai 2005

Das zwanzigste Jahrhundert will nicht friedlich sterben. Der Schatten seiner ungelösten Kontroversen lastet schwer auf der heutigen Politik. Es kann kein "schlichtes" Gedenken der Vergangenheit geben. Die Beschwörung der Geschichte dient immer zeitgenössischen politischen Interessen.

Die Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag des Kriegsendes in Europa beweisen das. In Litauen verurteilte Präsident George Bush in einer Rede das Jaltaabkommen von 1945, um so den heutigen amerikanischen Militarismus ideologisch zu rechtfertigen und das angemaßte Recht zu verteidigen, jedes Land in jedem Teil der Welt anzugreifen und zu besetzen, das die USA als Bedrohung ihrer Interessen empfinden.

"Im Gedenken an den Sieg vor sechs Jahrzehnten sind wir uns eines Paradoxons bewusst", sagte der Präsident. "Für einen großen Teil Deutschlands führte die Niederlage zur Freiheit. Für einen großen Teil Ost- und Mitteleuropas brachte der Sieg die eiserne Herrschaft eines anderen Imperiums. Der Tag des Sieges kennzeichnete das Ende des Faschismus, beendete aber nicht die Unterdrückung. Das Jaltaabkommen stand in der ungerechten Tradition des Münchener und des Molotow-Ribbentrop-Abkommens. Erneut fiel bei den Verhandlungen der mächtigen Regierungen die Freiheit kleiner Nationen unter den Tisch. Dieser Versuch, die Freiheit im Namen der Stabilität zu opfern, ließ einen gespaltenen und instabilen Kontinent zurück. Dieser Gefangenschaft von Millionen in Mittel- und Osteuropa wird man sich als eine der größten Unrechtstaten der Geschichte erinnern. " (Hervorhebung hinzugefügt)

Diese Erklärung aus dem Munde des amerikanischen Präsidenten bedeutet eine beispiellose Zurückweisung und Verurteilung der Außenpolitik einer früheren amerikanischen Regierung durch die heutige. Präsident Franklin Delano Roosevelt steht nun als jemand da, der von Bush öffentlich als Krimineller verurteilt wurde - denn wie sonst soll man ein Individuum bezeichnen, dass "eine der größten Unrechtstaten der Geschichte" verübt hat? Man muss sich fragen, mit welchen anderen "Unrechtstaten der Geschichte" der Präsident das Jaltaabkommen verglichen hat - vielleicht mit dem Holocaust?

Die Verurteilung des Jaltaabkommens ist seit langem Bestandteil der rechten politischen Rhetorik in den Vereinigten Staaten. Für die extreme Rechte und jene Elemente im amerikanischen Staat, die für das "Rollback", das Zurückdrängen des sowjetischen Einflusses in Osteuropa und sogar die völlige Zerstörung der Sowjetunion eintraten, galt Jalta stets als Symbol der Kapitulation vor dem Kommunismus. Behauptungen, die in Jalta getroffenen Vereinbarungen seien das Ergebnis einer kommunistischen Unterwanderung des US-Außenministeriums, dienten nach dem Zweiten Weltkrieg als Munition für die Hexenjagd des Senators Joseph McCarthy.

Doch trotz dieser Verurteilung Jaltas stimmten die maßgeblichen Teile der herrschenden Klasse Amerikas überein, dass Roosevelt in Jalta unter den gegebenen Umständen das Bestmögliche herausgeholt hatte. Mit der Hinnahme einer dominierenden Rolle der Sowjetunion in Polen und großen Teilen Osteuropas hatte er wenig mehr getan, als die bestehenden militärischen und politischen Realitäten akzeptiert. Auf dem europäischen Kontinent war die Sowjetarmee die stärkste Macht. Sie hatte die Hauptarbeit bei der Zerstörung der Kriegsmaschinerie der Nazis geleistet. Die Masse der deutschen Streitkräfte stand an der Ostfront. Ohne die 1943 und 1944 von den sowjetischen Streitkräften erfochtenen Siege wäre die anglo-amerikanische Invasion Frankreichs undenkbar gewesen.

Bei der Befreiung Osteuropas von deutscher Besatzung hatte die Sowjetunion enorme menschliche und materielle Verluste erlitten. Roosevelt verstand, dass die Sowjetunion, die von Nazi-Deutschland beinahe zerstört worden war, ihre Truppen nicht aus Osteuropa zurückziehen und passiv hinnehmen würde, dass wieder feindliche Regierungen eingesetzt werden, die Bestandteil einer neuen, gegen die Sowjetunion gerichteten Koalition werden konnten. Der Historiker Eric Alterman hat kürzlich bemerkt, dass die UdSSR nicht mehr geneigt war, die Einsetzung einer pro-amerikanischen Regierung in Polen hinzunehmen, als die Vereinigten Staaten geneigt waren, die Errichtung einer pro-sowjetischen Regierung in Mexiko zu akzeptieren. (When Presidents Lie. New York, 2004. pp. 37-38)

Man kann aus Bushs Erklärung in Litauen nur den Schluss ziehen, dass die Vereinigten Staaten seiner Ansicht nach den Rückzug der sowjetischen Streitkräfte aus Osteuropa mit militärischer Gewalt hätten erzwingen sollen. Um das zu erreichen, hätte Washington 1945 einen Sonderfrieden mit Nazi-Deutschland schließen und dessen verbliebenen Streitkräfte in einer gemeinsamen deutsch-amerikanischen Kampagne gegen die UdSSR einsetzen müssen.

Hochrangige Nazis, wie SS-Führer Heinrich Himmler, und selbst Elemente im amerikanischen Militärkommando, wie General George Patton, hofften in der Tat auf ein solches Szenario. Doch die maßgeblichen Teile des amerikanischen politischen Establishments hielten ein solches Vorgehen nie für realisierbar. Abgesehen von seiner militärischen Undurchführbarkeit hätte ein Sonderfrieden mit den Nazis und ein Angriff auf die Sowjetunion Meutereien in der amerikanischen Armee zur Folge gehabt, deren GI’s die Sowjetsoldaten als Waffenbrüder betrachteten, und massive Proteste der amerikanischen Bevölkerung ausgelöst.

Die politische Stimmung in den Vereinigten Staaten war 1945 ganz anders als 1948. Bevor beträchtliche Teile der amerikanischen Bevölkerung bereit waren, die Möglichkeit eines Kriegs mit der Sowjetunion in Kauf zu nehmen, waren drei Jahre pausenloser antisowjetischer Propaganda und antikommunistischer Hetze innerhalb der Vereinigten Staaten notwendig. Ein wichtiges Element dieser Propaganda bildete die Behauptung, Roosevelt habe in Jalta Osteuropa "ausverkauft".

Wie immer zählt die Bush-Administration darauf, dass die Medien nicht bereit sind, die Erklärungen des Präsidenten einer ernsthaften politischen und historischen Analyse zu unterziehen. Und wie immer wird sie darin nicht enttäuscht. Bushs Hinweis auf die "Gefangenschaft von Millionen in Mittel- und Osteuropa" wird nicht in Frage gestellt. Das amerikanische Publikum bleibt unter dem Eindruck, die sowjetische Besetzung Osteuropas habe in brutaler Weise blühende Demokratien zerstört.

Die Wahrheit verhält sich ganz anders. Die osteuropäischen Regimes waren Brutstätten der politischen Reaktion. Polen wurde vor Kriegsausbruch von einer Art Militärdiktatur regiert, an deren Spitze die Nachfolger des verstorbenen Marschalls Pilsudski standen. Das fanatisch antisowjetische Pilsudski-Regime hatte als erste europäischen Regierung ein Abkommen mit Hitler geschlossen. 1934 unterzeichnete es einen gegen die Sowjetunion gerichteten Nichtangriffspakt mit der Naziregierung. Die Regimes von Ungarn, Bulgarien und Rumänien schlossen sich während des Zweiten Weltkriegs alle der Nazi-dominierten Achse an. Die ungarische Diktatur unter Admiral Miklós Horthy verbündete sich sogar schon vor dem Krieg mit dem Dritten Reich. Zusammen mit Bulgarien beteiligte sich Ungarn im Mai 1941 an der Nazi-Invasion Jugoslawiens. Nur einen Monat später schloss sich Ungarn Hitlers Einmarsch in die Sowjetunion an.

Auch in Rumänien herrschte ein Diktator, Marschall Ion Antonescu. Seine Regierung schloss sich im November 1940 der Achse an und stellt enge wirtschaftliche Verbindungen zu Deutschland her. Antonescu ermutigte mörderische Pogrome gegen die rumänischen Juden und sandte Truppen in die Sowjetunion, um Hitlers Einmarsch zu unterstützen. In den rumänisch besetzten Teilen der Sowjetunion, Bessarabien und Bukowina, wurde die jüdische Bevölkerung ausgerottet. Rumänische Truppen spielten auch bei dem schrecklichen Massaker von Odessa eine Schlüsselrolle, das 280.000 Menschen, überwiegend Juden, das Leben kostete.

In Litauen, wo Bush seine Rede hielt, wurden 75.000 Juden und schätzungsweise 15.000 "politisch unerwünschte Elemente" ermordet. Bei diesen Massenmorden spielten rechte litauische Nationalisten die führende Rolle. Sie hatten sich in Trupps wie dem Kommando Arajs organisiert, das Pogrome durchführte und den Nazis dabei half, Zehntausende in den Gruben des Rumbula-Waldes zusammenzutreiben, wo sie massakriert wurden.

Nach der Niederlage der Nazis war es undenkbar, dass die UdSSR die Rückkehr antisowjetischer Regierungen in diesen Ländern zulassen würde.

Es ist nicht unsere Absicht, bei der Zurückweisung der grotesken Geschichtsfälschungen der Bush-Regierung die sowjetische Besatzung Osteuropas zu verniedlichen oder gar die stalinistischen Regimes zu verherrlichen, die nach dem Krieg eingesetzt wurden. Aber die marxistische und sozialistische Kritik der Sowjetunion hat nichts mit der Mythologie "hie Demokratie, hie Diktatur" gemein, wie sie von den imperialistischen Ideologen des Kalten Kriegs verbreitet wurde.

Ausgangspunkt der marxistischen Kritik der sowjetischen Nachkriegspolitik ist der konservative und konterrevolutionäre Charakter der sowjetischen Politik in Ost- und Mitteleuropa. Dies wurde von konventionellen Überlegungen der nationalen Verteidigung bestimmt, und nicht von einer internationalen revolutionären Strategie. Während sich die herrschende Sowjetbürokratie bemühte, im Randgebiet der UdSSR einen Puffergürtel von abhängigen Staaten zu errichten, gab sie Garantien für den Erhalt des Kapitalismus in ganz Westeuropa. Unmittelbar nach dem Krieg unterdrückten die Stalinisten revolutionäre Bewegungen der Arbeiterklasse, und das erwies sich langfristig von entscheidender Bedeutung für das schließliche Ableben der UdSSR.

Bushs Demagogie in Litauen dient dazu, die amerikanische Präventivkriegsdoktrin zu unterstützen: dass die USA vor keinem Krieg zurückschrecken, sobald irgendwo die "Demokratie" in Gefahr ist - oder präziser gesagt, sobald irgendwo wichtige amerikanische Interessen in Gefahr sind.

Siehe auch:
Von der Eindämmung zum "Rollback": US-Präsident Bush verkündet in West Point neue Militärstrategie
(5. Juni 2002)