USA ziehen sich aus Nadschaf zurück
Von James Conachy
3. September 2004
aus dem Englischen (28. August 2004)
Nach dem Einzug des schiitischen Großayatollah Ali al-Sistani und Tausender unbewaffneter Schiiten wurden am vergangenen Donnerstag die Kämpfe in Nadschaf eingestellt und die amerikanischen und irakischen Truppen begannen sich zurückzuziehen. Die Schiiten hatten den Rückzug der Besatzertruppen aus dem Gebiet um den Schrein der Imam Ali-Moschee, dem bedeutendsten schiitischen Heiligtum, gefordert.
Die Kämpfer der Mahdi-Armee um den Geistlichen Moktada al-Sadr, die drei Wochen lang Teile der Innenstadt gegen den amerikanischen Angriff verteidigt hatten, sollen die Moschee verlassen und die Schlüssel an Sistanis Vertraute übergeben haben. Am Freitag war es in Nadschaf zum ersten Mal seit Beginn der Kampfhandlungen am 5. August relativ ruhig.
Die Kämpfe wurden beendet, als Sistani, der in Begleitung eines Konvois von mehr als tausend Zivilfahrzeugen aus Basra kam, Nadschaf erreichte. Tausende von Demonstranten kamen zu Fuß aus der benachbarten Stadt Kufa, und noch mehr hatten sich von Bagdad und dem nördlich von Nadschaf gelegenen Kerbela aus auf den Weg gemacht.
Die französische Presseagentur Agence France Press (AFP) berichtete: "Als die Kampfhandlungen endeten, erzwang sich eine riesige Menschenmenge den Weg in das verehrte Imam-Ali-Mausoleum in Nadschaf, das seit Mittwoch durch schwere amerikanische Bombardierung und Panzerbeschuss von der Außenwelt abgeschnitten gewesen war... Wir kamen dem Ruf Sistanis nach, der uns befohlen hatte, ihm nach Nadschaf zu folgen, um die Belagerung zu durchbrechen. Polizeikräfte versuchten uns zu verhaften, aber sie konnten nichts erreichen. Das ist das Ende der Belagerung', sagte Kasem Hamid, einer der Demonstranten."
In einem weiteren AFP-Bericht wurde beschrieben, was sich in der Umgebung der Moschee abspielte: "Als der Zug von mindestens 20.000 Demonstranten in die Nähe Al-Dschadidas außerhalb der Altstadt gelangte, kam es zu einer surrealen Szene, als konsternierte, in ihren Panzern eingeschlossene amerikanische Soldaten zusehen mussten, wie man ihnen Bilder von Sistani und Moktada unter die Nase hielt."
Der 63jährige Akir Hassan erklärte gegenüber AFP: " Das ist Demokratie, das ist der neue Irak, das ist die größte Niederlage, die wir den Amerikanern beibringen konnten. Das ist der schönste Tag meines Lebens."
Der Tag ging nicht ohne beträchtliches Blutvergießen vorüber. Truppen der Interimsregierung schossen auf Demonstranten aus Kufa, um sie zum Umkehren zu zwingen. Eine schiitische Gruppe, die sich vor der Moschee von Kufa auf den Marsch vorbereitete, wurde mit Granatwerfern beschossen. In diesen beiden Fällen wurden mindestens 74 Menschen getötet, 376 wurden verwundet. Auch Demonstranten, die aus Diwanischa kamen, wurden unter Feuer genommen.
Sprecher des US-Militärs und der Interimsregierung begrüßten den Waffenstillstand und die Rückkehr Sistanis. Aber nichts kann die Tatsache verschleiern, dass die Ereignisse der vergangenen 48 Stunden für die Besatzungstruppen im Irak eine Schmach bedeuten, die möglicherweise größere längerfristige Folgen haben wird, als das Abkommen von Falludschah Ende April, mit dem die Belagerung der Stadt damals beendet wurde.
In den Augen von Millionen Irakern hat Sadr - trotz seines Schwankens und seiner vielen Versuche, mit den Besatzungskräften einen Kompromiss zu schließen - der Macht des amerikanischen Imperialismus standgehalten, verhindert, dass Nadschaf der US-Kontrolle anheim fällt, und sich die Möglichkeit offen gehalten, den Kampf später wieder aufzunehmen. Sein Einfluss hat wahrscheinlich im ganzen Land zugenommen, besonders in Städten wie Basra und Amara, wo bisher traditionell der besatzerfreundliche Oberste Rat der Islamischen Revolution im Irak (SCIRI) dominiert hat, der Hauptrivale seiner Bewegung.
Nach wochenlangen Versprechungen und Drohungen der US-Armee und von Premier Ayad Allawi, einer amerikanischen Marionette, die Mahdi-Armee zu zerschlagen und die Kontrolle über die Stadt Nadschaf wieder herzustellen, hat Sistanis "Friedensplan" nun den Besatzungskräften beträchtliche Zugeständnisse abverlangt. Sämtliche US- und anderen Soldaten müssen sich aus Nadschaf zurückziehen; Nadschaf und Kufa werden zu "waffenfreien Städten" erklärt und durch irakische Polizei gesichert, und die Interimsregierung muss all jenen Entschädigung zahlen, die infolge der US-Angriffe einen physischen oder finanziellen Schaden erlitten haben.
Um Sadrs Zustimmung zu bekommen, hat die Interimsregierung sowohl den Kämpfern der Mahdi-Armee als auch Sadr selbst volle Amnestie zugesichert, vorausgesetzt, sie liefern ihre Waffen bei der irakischen Polizei ab. Minister Qasim Dawud von der Interimsregierung sagte den Medien, Sadr sei "so frei wie jeder irakische Bürger, im Irak zu tun und zu lassen, was er möchte".
Die Washington Post berichtete: "Man konnte sehen, wie ganze Pulks von Sadrs Milizen vor Sadrs Büro in der Nähe des Schreins ihre Waffen niederlegten. Man konnte Leute beobachten, die Holzkarren durch die Straßen schoben, um Waffen von den Milizen einzusammeln. Viele zogen ihre Kampfuniform aus, das schwarze Hemd und die Hose, kleideten sich normal und mischten sich unter die Menschenmenge." Ein nicht namentlich genanntes Mitglied der Interimsregierung sagte der Post : "Wir werden die meisten von ihnen laufen lassen."
Die erbitterten Kämpfe, die in den letzten drei Wochen in Nadschaf, Bagdad und anderen Städten zwischen Besatzungskräften und Sadrs Milizen der Mahdi-Armee getobt hatten, waren von der US-Armee absichtlich provoziert worden, um Sadrs Bewegung ein für allemal auszulöschen und die irakische Schiiten-Mehrheit einzuschüchtern, damit sie die von Bush im Juni eingesetzte Interimsregierung akzeptierte.
Nadschaf, das seit der Waffenruhe nach dem Aufstand von April und Mai von Sadrs Männern kontrolliert wurde, war Schauplatz der heftigsten Kämpfe seit der US-Invasion. Wenn die Zahlen des US-Militärs stimmen, mussten mindestens tausend irakische Kämpfer bei der Verteidigung der Stadt gegen die Besatzer ihr Leben lassen. Über zivile Opfer gibt die US-Regierung nicht einmal eine Schätzung ab, aber den Berichten zufolge müssen es Hunderte sein.
Düsenjäger, Kampfhubschrauber und Panzer kamen zum Einsatz, um die Verteidigungsposten der Miliz zu zerschmettern. Große Teile der Innenstadt von Nadschaf liegen in Trümmern. US-Marines und -Soldaten wurden auf dem riesigen Friedhof westlich der Moschee in traumatisierende Nahkämpfe mit den Milizen verwickelt. Mindestens elf amerikanische Soldaten wurden in Nadschaf getötet und über hundert verletzt.
Trotz der zahlreichen Opfer unter Sadrs Milizen haben die US-Armee und die Interimsregierung keins ihrer Ziele erreicht.
Vom ersten Tag an war es offensichtlich, dass der Angriff auf Nadschaf das schiitische Element des irakischen Widerstands nicht brechen würde. Stattdessen entzündete er eine leidenschaftlich antikoloniale Stimmung in der unterdrückten Bevölkerung des Irak und verstärkte ihre Verachtung für die von den USA ernannte Interimsregierung.
Die Mahdi-Armee dehnte ihre Angriffe auf die Besatzungskräfte von Basra bis Sadr-City in Bagdad aus, und große Teile der schiitischen Bevölkerung sympathisierten damit. Ein weiterer amerikanischer Soldat wurde am Donnerstag in Bagdad durch einen Guerillaangriff getötet, was die Gesamtzahl der US-Opfer auf mindestens 970 Tote und über 6.500 verwundete Soldaten bringt.
Im ganzen Nahen Osten hatte der US-Angriff auf die heilige Schiitenstadt Unmut und Massendemonstrationen provoziert. Am meisten Sorgen bereitete es den Weltfinanzmärkten, dass die südirakischen Ölfelder durch Ölarbeiterstreiks und andauernde Sabotage betroffen waren. Der Rückgang der Exporte aus dem Irak war ein wichtiger Faktor für den Anstieg des Ölpreises auf weit über vierzig Dollar pro Barrel.
Irakische und internationale Beobachter warnten besorgt, ein Eindringen amerikanischer Soldaten oder von Kräften des Marionettenregimes in den Schrein der Ali-Moschee könnte zum zündenden Funken werden und Hunderttausende Schiiten gegen die Besatzung auf die Straße treiben. Es entstand die über zwei Wochen dauernde bizarre Situation, dass amerikanische Soldaten bis auf fünfzig Meter an die Moschee herangekommen waren, aber den Befehl hatten, den Gebäudekomplex nicht zu stürmen.
Die amerikanischen Soldaten sind im Irak mit der demoralisierenden Tatsache konfrontiert, dass sie zwar militärisch dem schlecht bewaffneten irakischen Widerstand bei weitem überlegen sind, in Wirklichkeit aber gegen die große Mehrheit der irakischen Bevölkerung kämpfen, die eine Herrschaft Washingtons niemals akzeptieren wird.
Es besteht kaum ein Zweifel, dass die Bush-Regierung unter starkem Druck von Wirtschaftskreisen und Strategen der Republikanischen Partei steht, die sich Sorgen über die Auswirkungen der Irakfrage auf die US-Wahlen im November machen und deshalb auf ein Ende der Pattsituation in Nadschaf drängten. Die Invasion im Irak ist für den amerikanischen Imperialismus zur Katastrophe geworden. Sie hat seine weltweite Position geschwächt, seine Wirtschaftskrise verstärkt und die Möglichkeiten seiner Armee bis zum Äußersten angespannt.
Washington setzt jetzt darauf, den 74-jährigen Sistani als Instrument zu benutzen, um den Südirak zu stabilisieren. Der führende Geistliche wurde im Eiltempo aus London zurückgebracht, wo er wegen Herzproblemen in Behandlung war, um den Marsch auf Nadschaf anzuführen und der US-Armee und Interimsregierung den Vorwand für ihren Rückzug aus dem Stadtzentrum zu liefern.
Dem irakischen Volk stellte Sistani seinen Marsch auf die Stadt als gegen die Interessen der USA gerichtete Aktion zur Rettung Nadschafs vor dem ausländischen Angriff dar. Damit wollte er verhindern, seine Akzeptanz in der Bevölkerung ganz zu verlieren, nachdem er sich schon geweigert hatte, den bewaffneten Kampf gegen die Besatzung zu unterstützen. Der schiitische Politiker Ali al-Lami sagte vor ein paar Tagen gegenüber Al Jazeerah : "Der Ayat Allah [Sistani] versucht, die Dinge zurechtzurücken. Die Volkskräfte im Irak waren über sein Schweigen erstaunt, als die Amerikaner zu nackter Gewalt griffen."
Viele der schiitischen Kämpfer haben ihre Waffen behalten oder sie an verschiedenen geheimen Stellen der Stadt versteckt, weil sie das Wiederaufflammen baldiger Kämpfe erwarten. Ein Mitglied von Sadrs Milizen sagte AFP: "Der Kampf ist vorbei, aber meine Waffe werde ich an einer sicheren Stelle verwahren, weil ich das Gefühl habe, ich könnte sie bald wieder brauchen." Ein Sprecher von Sadr erklärte: "Die Amerikaner dachten, sie könnten die Madhi-Armee auslöschen, aber unsere Kämpfer sind immer noch hier. Sie können zu ihrer Arbeit zurückkehren und dennoch eine Armee bleiben."