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Das Schicksal Ken Bigleys und der Kampf gegen die Besetzung des Irak

Von Socialist Equality Party (Großbritannien)
6. Oktober 2004
aus dem Englischen (25. September 2004)
übersetzt von Yvonne Schuster

Das Schicksal der britischen Geisel Kenneth Bigley zeigt in aller Deutlichkeit die unüberbrückbare Kluft zwischen dem politischen "Establishment" und den demokratischen Hoffnungen und Belangen der arbeitenden Bevölkerung.

Von dem Augenblick an, in dem der 62jährige Ingenieur von der Tawhid wal-Jihad Gruppe, deren Anführer Abu Musab al-Zarqawi ist, zusammen mit den Amerikanern Jack Hensley und Eugene Armstrong ergriffen wurde, gab es die weit verbreitete Ansicht, dass alles Menschenmögliche getan werden müsse, um ihre sichere Freilassung zu ermöglichen - insbesondere, da die Forderungen der Entführer einigermaßen bescheiden und realisierbar zu sein schienen.

Die Tawhid wal-Jihad Gruppe forderte die Freilassung weiblicher irakischer Gefangener. Washington gibt zu, lediglich zwei Frauen, die Wissenschaftlerinnen Rihab Taha und Huda Salih Mahdi Ammash. gefangen genommen zu haben. Beide werden beschuldigt, am irakischen Rüstungsprogramm beteiligt gewesen zu sein und werden seit über einem Jahr ohne Anklage festgehalten. Da die Behauptungen, dass der Irak Massenvernichtungswaffen besitze und dabei sei, Atomwaffen zu entwickeln, gründlich diskreditiert worden sind, gab es bereits erste Schritte, sie zu befreien.

Als die irakische Übergangsregierung jedoch wissen ließ, dass sie über einen solchen Schritt nachdenke, wurde sie sofort von den Vereinigten Staaten - mit Hilfe der Regierung Blairs -zurückgepfiffen. Der Preis für diesen Sabotageakt wurde von Hensley und Armstrong bezahlt, die innerhalb weniger Stunden brutal nacheinander hingerichtet wurden.

Die Blair Regierung hat versucht, ihre Einstellung als eine Frage des Prinzips, wie man am Besten auf Terrordrohungen zu reagieren habe, zu rechtfertigen. Premierminister Tony Blair, Außenminister Jack Straw und andere beeilten sich zu erklären, dass es keine Verhandlungen mit Geiselnehmern geben könne, da dies nur Schwäche demonstrieren, den Feind ermutigen und in Zukunft noch mehr Leben bedrohen würde.

Die Konservativen und Liberaldemokraten, sowie die Leitartikel jeder großen Zeitung stimmten mit ein. Sollte Bigley sterben, so behaupteten sie, wäre dies tragisch, aber unvermeidbar wegen der bösartigen Veranlagung der Tawhid wal-Jihad Gruppe.

Dies ist reine Spitzfindigkeit und Täuschung.

Blair hat den Irak als "Schmelztigel" des Kampfes gegen den globalen Terrorismus bezeichnet. In Kommentaren gegenüber der Presse im Anschluss an ein Treffen mit dem irakischen Übergangspremierminister Allawi, sagte er nachdrücklich: "Unsere Antwort darf nicht sein, dass wir schwächer werden. Unsere Antwort muss sein, dass wir stark bleiben. Was auch immer die Meinungsverschiedenheiten in Bezug auf den Irak-Konflikt sind, es gibt ein deutliches Richtig und Falsch bei diesen Streitfragen, und das ist, für die Demokraten zu sein und gegen die Terroristen."

Aber Fakten sind eigenwillige Dinge. Es sind Blairs und Bushs illegaler Krieg, die Zerstörung der Infrastruktur des Landes, der Verlust zehntausender irakischer Leben und die Aufbürdung eines verhassten Handlangerregimes, die den "Schmelztigel" kreiert haben, in der reaktionäre, fundamentalistische Gruppen operieren können.

Für London und Washington hat die Beschwörung des "Kampfes gegen den Terrorismus" die in Misskredit gebrachte Lüge über Massenvernichtungswaffen als Rechtfertigung der Besetzung des Irak ersetzt, deren wahrer Zweck die Sicherung der Kontrolle der Ölvorräte im Irak und im gesamten Mittleren Osten ist. Und gerade weil der Widerstand gegen die Besetzung ständig anwächst, spielt Blair nun auf die Notwendigkeit an, einen "zweiten Krieg" durchzuführen, d.h. eine noch brutalere Unterwerfung des irakischen Volkes unter eine Herrschaft im Kolonialstil.

Solch ein Kurs bedeutet nicht nur, es mit dem irakischen Widerstand aufzunehmen, sondern auch, der Opposition der hiesigen Bevölkerung gegen diese pro-imperialistischen Pläne entgegen zu treten.

Hinter Blairs Unnachgiebigkeit, was Bigleys Schicksal betrifft, liegt seine Nachdrücklichkeit, dass seiner Regierung, genau wie bei der Invasion des Irak, nicht durch den demokratischen Willen des britischen Volkes die Hände gebunden sein werden. Anstelle dessen soll es den Bemühungen, die geopolitischen Interessen der führenden Elite in jedem beliebigen Winkel der Erde zu sichern, als bloße Schachfigur dienen.

Es ist der Familie Bigleys zu verdanken, dass sie sich geweigert hat, zu spuren und, über die Köpfe der Regierung hinweg, um Hilfe für die Rettung ihres Liebsten gebeten hat.

Direkt nach der Gefangennahme Bigleys wurde seine besorgte Familie von Beamten des Außenministeriums überrumpelt, die ihnen rieten, sich ruhig zu verhalten und der Regierung die Handhabung der Situation zu überlassen. Das vorrangige Ziel des Außenministeriums war, jegliche politische Unruhen herunterzuspielen und sicherzustellen, dass die kompromisslose Linie der Regierung nicht in Frage gestellt würde. In den USA war diese Strategie, mit wenig Berichterstattung in den Medien über die Notlage, in der sich Hensleys und Armstrongs Familien befanden, einigermaßen erfolgreich.

Aber als Hensley am Montag, den 20. September enthauptet wurde, beschlossen die Bigleys öffentlich an die Regierung zu appellieren, sich für Bigley ein zu setzen.

Bigleys Cousin, Ken Jones, beschuldigte Washington, die Freilassung Rihab Tahas verhindert und damit wirksam den Hinrichtungsbefehl für den gefangenen Ingenieur unterschrieben zu haben.

Philip Bigley kritisierte Blair in einem Live Statement dafür, dass dieser nicht genug tue, um die Freilassung seines Bruders zu sichern. Später baten Kens Mutter Lil, seine Ehefrau Sombat und sein Sohn Craig auch eindringlich um Kens Sicherheit.

Kens Bruder Paul erstellte eine indirekte Kommunikationsverbindung mit den Geiselnehmern über das Fernsehnetz der Al Djasira. Laut dem Guardian, glaubt Paul Bigley, dass "die Entscheidung der Familie, dem Außenministerium die Kontrolle zu entreißen, seinem Bruder eine Verlängerung des Ultimatums vor dessen Hinrichtung, gesichert habe".

Die Bigleys haben eine Reihe von Beobachtungen gemacht, die den Mythos, dass die Besetzung des Irak eine demokratische Regierung geschaffen habe, enttarnen. Tatsächlich haben die Verhinderung der Freilassung Tahas und die Zustimmung der Übergangsverwaltung zu Washingtons ausdrücklichem Befehl ihren Charakter als US-Marionette deutlich gezeigt. Im "Heute" Programm des BBC Radio 4 betonte Paul Bigley nachdrücklich, dass die USA und das Vereinigte Königreich sich aus etwas, das eigentlich eine innere irakische Angelegenheit sein sollte, heraus halten mögen.

"Mr Blair kann von mir aus fischen gehen. Er braucht nicht anzurufen oder irgendetwas zu tun," sagte er. "Alles, was die da oben jetzt noch tun müssen, ist, den Irakern zu erlauben, ihre inneren Angelegenheiten so zu regeln, wie sie es möchten. Ihnen wurde die Souveränität übergeben, ihre Angelegenheiten auf einer alltäglichen Basis zu regeln."

Bigley weiter: "Liegt es daran, dass dies eine Marionettenregierung ist oder verschieben die Amerikaner die Torpfosten so, dass sie wieder treffen können? Was passiert hier? Lasst die Iraker ihre eigenen irakischen Angelegenheiten regeln."

Am 22. September machte die Al-Zarkawi Gruppe den außergewöhnlichen Schritt, einen Video- Apell von Ken Bigley zu veröffentlichen, der sich als gleichermaßen schädlich für die Blair- Regierung heraus gestellt hat.

In ihm bittet Ken Bigley leidenschaftlich um Bemühungen, seine Freilassung zu sichern und die Besetzung des Irak zu beenden. Er betont nachdrücklich: "Der Irak leidet und hat schon zu lange gelitten... die Iraker möchten keine fremden Truppen, die mit Gewehren durch die Straßen laufen, auf ihrem Boden. Es ist nicht richtig. Und es ist nicht fair. Wir müssen die Truppen abziehen und die Iraker selbst über ihr Land und ihr Schicksal bestimmen lassen.

Leute aus England und insbesondere aus Liverpool, ihr seid ganz besondere Leute, ihr seid Leute, die ihren Mund aufmachen und sagen können, ‚Was zu viel ist, ist zu viel. Es ist zu viel, dass der Irak als Spielzeug benutzt wird. Packt eure Sachen und verschwindet.’ Und lasst uns hoffen, dass wir zurück kommen und das Land als Gast besuchen dürfen, als Gast der Iraker."

Die Aufrufe Ken Bigleys und seiner Familie sind einflussreich, denn sie sind wahr. Wie bei einer großen Anzahl von Aussagen, die sowohl von den Familien von militärischem Personal, als auch von den Familien von Bürgern, die im Irak gestorben sind, gemacht werden, unterstreichen sie das wahre Ausmaß des Widerstandes gegenüber der Besetzung und den schrecklichen Preis, der dafür bezahlt wird.

Die biegsamen und devoten Medien sind peinlichst darauf bedacht, diese Botschaft zu verschweigen. Über das gesamte politische Spektrum hin konzentrierte die britische Presse sich auf das angeblich ausgeklügelte Vorgehen der Tawhid und Jihad Gruppe und warnte vor Versuchen, das offizielle Handeln der britischen Regierung zu behindern.

Der Guardian sagte, dass das Videogesuch, das Ken Bigleys Entführer heraus gebracht haben, das Ziel habe, "Ihre Macht - und die Ohnmacht der Regierung - zu demonstrieren." Die Times warnte folgendermaßen "Sollte Ken Bigley sterben, wird es Blair sein, der ihn getötet hat, indem er seiner Linie, dass Großbritannien nicht mit Terroristen verhandelt, treu geblieben ist. Diese verdrehte Ansicht versuchen die Entführer jedem einzuflößen, der Bigleys gequälte Bitten gesehen hat." Sie nannte eine solche Schlussfolgerung eine "groteske Verdrehung" und beklagte gleichzeitig, dass es nun "schwer für Blair sei, vollständige Sympathie auf emotionaler Ebene zu behalten, selbst wenn er den Respekt, den er für seine Standhaftigkeit verdient, behält."

Die arbeitende Bevölkerung in Großbritannien sollte selbst auch standhaft sein - und alle Aufrufe von Pro-Business Politikern und Zeitungen zurückweisen, jedes Opfer zu akzeptieren, um die Besetzung des Irak aufrecht erhalten zu können.

Das tragische Schicksal von Hensley und Armstrong und die Notlage Ken Bigleys, zeigen einmal mehr die Unverträglichkeit der Interessen der Arbeiterklasse mit denen der korrupten finanziellen Oligarchie, die gegenwärtig das Weltgeschehen bestimmt.

Es ist erst sechs Monate her, seit dieselben Kräfte, die nun keinen Kompromiss mit Terroristen fordern, die spanische Bevölkerung als "Beschwichtiger" angeprangert haben, weil sie die rechte Regierung Jose Maria Aznars abgewählt - und damit angeblich Terroristen erlaubt hat, die Angelegenheiten Spaniens zu beeinflussen.

Die herrschende Klasse Großbritanniens befürchtet eine ähnliche Entwicklung. Die Wahlniederlage der Volkspartei nach dem Bombenanschlag in Madrid am 11. März war eine Folge dessen, dass Millionen von Spaniern zu dem Schluss gekommen waren, Aznars zutiefst unbeliebte Unterstützung des Irak-Kriegs habe sie zu einem Ziel für Vergeltungsmaßnahmen gemacht. Und Blairs kriminelle Handlungen im Irak hatten dieselben Konsequenzen für die britische Bevölkerung.

Die einzig politisch korrekte Antwort auf Bigleys Entführung ist, Aufrufe zu seiner Freilassung mit der Forderung des sofortigen Abzugs aller ausländischen Truppen aus dem Irak und mit der Forderung, Bush und Blair den Prozess wegen Kriegsverbrechen zu machen, zu koppeln. Position zu beziehen für die Verteidigung der demokratischen Rechte des irakischen Volkes ist ein wesentlicher Schritt, die internationale Einheit der Arbeiterklasse im Kampf gegen Kolonialismus und Militarismus zu schmieden. Weit davon entfernt, Terrorismus zu unterstützen, wird dies eine kraftvolle Botschaft der Solidarität an die Mehrzahl der Iraker senden und dadurch fundamentalistischen Terrorgruppen den Boden unter den Füßen wegziehen.

Siehe auch:
USA und Europa: Wachsende Bedenken wegen des Debakels im Irak
(23. September 2004)