US-Soldaten nehmen Falludscha ein
Der Aufstand breitet sich aus
Von James Cogan
18. November 2004
aus dem Englischen (16. November 2004)
Neun Tage nach Beginn der US-Bodenoffensive in Falludscha befindet sich die Stadt - oder was von ihr noch übrig ist - weitgehend in der Hand der US-Truppen.
Der Marine-Generalleutnant John Sattler erklärte am Sonntag, bisher seien etwa tausend bis zweitausend Iraker in Falludscha getötet und über tausend gefangen genommen worden. Es ist jedoch unmöglich, genaue Angaben über die Zahl der militärischen und zivilen irakischen Opfer zu erhalten. Bisher waren Leichenbestatter nicht in der Lage, die in den Straßen herumliegenden Leichen und Leichenteile zu bergen, geschweige denn unter den Trümmern der zerstörten Häuser nach Verschütteten zu suchen.
Die Propaganda der Bush-Regierung, Falludscha sei von ausländischen Terroristen "als Geisel" genommen worden, hat sich als falsch erwiesen. In den Hauptquartieren und Kampfposten der Verteidiger fanden sich keine Hinweise auf islamische Extremisten. Die einzige Ausnahme war ein fensterloser Raum am nördlichen Stadtrand, der in Berichten schauerlich als "Schlachthaus" bezeichnet wurde.
Die überwiegende Mehrheit der Kämpfer von Falludscha - und der Gefangenen in der Gewalt der US-Truppen - sind Einwohner der Stadt. US-Soldaten berichten, in den südlichen Vororten Falludschas seien noch Kämpfe gegen gut ausgebildete und uniformierte Iraker im Gange, die funktionierende Kommandostrukturen aufwiesen. Den Berichten zufolge werden diese letzten konzentrierten Kräfte mit heftigem Luft- und Bodenbeschuss bekämpft. Auf ihre hartnäckig verteidigten Bunker fallen 2.000-Pfund-Bomben.
Falludschas "Verbrechen" besteht darin, dass seine Kämpfer, unterstützt von der Bevölkerung, eine führende Rolle im irakischen Widerstand gegen die amerikanische Invasion und Besatzung des Landes spielen. Die US-Offensive stellt eine kollektive Bestrafung der ganzen Stadt im Stil der Hitler-Faschisten dar. Sie zielt darauf ab, die gesamte irakische Bevölkerung zu terrorisieren und zur Unterwerfung zu zwingen, bevor die Pseudo-Wahlen im Januar ein Marionettenregime von US-Gnaden legitimieren.
Die US-Medien wiederholen ständig die völlig wertlose Beteuerung des amerikanischen Militärs, man versuche, zivile Opfer so gering wie möglich zu halten. Diese Behauptung wird allein schon durch die angewandten Methoden widerlegt.
Ganze Stadtteile, in denen der Widerstand besonders stark war, wurden vor dem Eindringen der US-Soldaten unter Luft- und Artilleriebeschuss genommen. Wenn die Wärmekameras der vorrückenden Truppen im Innern von Gebäuden Körperwärme feststellten, ging man davon aus, dass sich noch Kämpfer darin befinden. Das betreffende Gebäude wurde mit Panzer-, Maschinengewehr- und Handwaffenfeuer dem Erdboden gleichgemacht.
Die allgemeine Einschätzung der "eingebetteten" Journalisten im Tross der amerikanischen Soldaten geht dahin, dass Falludscha durch den US-Angriff verwüstet wurde. Die ersten Schätzungen über Gebäudeschäden, die von der wenig zuverlässigen, von den USA eingesetzten irakischen Interimsregierung stammen, gehen davon aus, dass 700 der 17.000 Gebäude der Stadt zerstört sind. Die meisten der 120 Moscheen von Falludscha sind in Mitleidenschaft gezogen. Tausende Wohnungen sind beschädigt oder ausgebrannt, die Straßen von zerbrochenem Fensterglas übersät, Stromleitungen liegen kreuz und quer in den Straßen und die Wasser- und Abwasserleitungen sind aufgesprengt.
Als der Angriff am 7. November begann, schwankten die Schätzungen über die Zahl der Zivilisten in Falludscha zwischen 30.000 und über 100.000 Menschen. Sobald die US-Truppen in die nördlichen Vorstädte eindrangen, versuchten Tausende, sich in Sicherheit zu bringen. Mindestens 4.000 Familien strömten Mitte der letzten Woche in die Flüchtlingslager in den Außenbezirken der Stadt. Die irakische Hilfsorganisation Roter Halbmond berichtet, dass ihre Vorräte an Essen, Trinkwasser und medizinischer Versorgung knapp werden.
Wie Human Rights Watch berichtet, verstießen US-Soldaten eindeutig gegen die Genfer Konvention, als sie eine Gruppe von unbewaffneten Männern beim Versuch, die Stadt mit ihren Familien zu verlassen, aufgriffen und zur Rückkehr in die Stadt zwangen. Auch andere amerikanische Kriegsverbrechen sind bereits ans Licht gekommen. Am Samstag filmte ein NBC-Kameramann einen US-Marinesoldat, der in einer Moschee einen offensichtlich verwundeten irakischen Kämpfer exekutierte. Dieser Zwischenfall soll jetzt untersucht werden.
Iraker, die entkamen, haben Journalisten über die brutalen und wahllosen Methoden der amerikanischen Operation berichtet. So der Photograph Bilal Hussein von Associated Press (AP), der in einem nördlichen Stadtviertel lebt und in den ersten Tagen der Offensive von US-Marinesoldaten angegriffen wurde. Er berichtete AP: "Überall herrschte Zerstörung. Ich sah Menschen tot auf der Straße liegen, blutende Verwundete, und keiner kam, um ihnen zu helfen. Auch die Zivilisten, die in Falludscha blieben, hatten zu große Angst, um ihre Häuser zu verlassen. Als US-Soldaten begannen, die Häuser unter Beschuss zu nehmen, sagte ich mir, es sei zu gefährlich zu bleiben."
Hussein sagte AP, er habe ursprünglich den Euphrat durchschwimmen wollen, um zur südlichen Vorstadt zu gelangen; "Aber ich änderte meine Meinung, als ich sah, wie aus US-Helikoptern geschossen und Leute getötet wurden, die versuchten, über den Fluss zu kommen.... Zwei Stunden ging ich weiter den Fluss entlang, und immer noch konnte ich einige US-Heckenschützen sehen, die darauf lauerten, jeden abzuschießen, der hinüberschwamm."
Als er endlich aus der Stadt heraus gekommen war, gelang es ihm, Kontakt mit einem AP-Korrespondenten in Ramadi aufzunehmen, der ihm mit Hilfe eines Fischers einen Transport aus der Region heraus organisierte.
Auch der Arzt Ahmed Ghanim aus Falludscha und ein Anästhesist entkamen am letzten Donnerstag aus der Stadt, nachdem US-Artillerie die Klinik zerstört hatte, in der sie arbeiteten. Ghanim geht davon aus, dass zwei andere Ärzte und die meisten Patienten diesem Angriff zum Opfer gefallen sind.
Er berichtete der Los Angeles Times : "Ich nahm bei vielen Patienten Amputationen vor.... Aber ich bin orthopädischer Chirurg. Wenn ein Patient mit einer Bauchverletzung kam, so konnte ich nichts machen.... Wir trugen dann den Patienten nur herein und mussten zusehen, wie er starb. Wir haben jeden aufgenommen. Es gab Frauen, Kinder, auch Mudschaheds [Kämpfer]. Ich frage niemanden danach, ob er Kämpfer ist, ehe ich ihn behandle. Ich pflege ihn einfach."
Nach der Zerstörung der Klinik suchte er in einem verlassenen Haus Zuflucht. Amerikanische Panzer, sagte er, "schossen auf alles, was sich bewegte". Kämpfer, die ihn als Arzt erkannten, zeigten ihm einen Fluchtweg nordwärts dem Euphrat entlang.
Nicole Choueiri, eine Londoner Sprecherin für Amnesty International, erklärte AP: "Nach dem, was wir hören, und laut einigen Zeugenaussagen von Einwohnern, die aus Falludscha geflohen sind, sieht es so aus, dass es viele zivile Opfer gibt. Es liegt in der Verantwortung der US-Armeeführer und der irakischen Regierung, das zu ermitteln. Bis jetzt haben sie noch keine Zahlen genannt."
Aufstand in den sunnitischen Gebieten
Die illusionäre Hoffnung der politischen und militärischen Kreise der USA, die irakische Opposition könne durch blutige Repression unterworfen werden, wird durch die Rebellion Lügen gestraft, die jetzt in der sunnitisch-muslimischen Bevölkerung des Irak ausbricht.
So ruft die größte sunnitische Vereinigung muslimischer Gelehrter, wie schon vor dem Angriff auf Falludscha angekündigt, zu einem Boykott der Wahlen vom Januar auf. Die Wut unter der sunnitischen Bevölkerung wurde in den letzten Wochen außerdem durch die Verhaftung von vier führenden Geistlichen durch die US-Armee angefacht, denen man Unterstützung des bewaffneten Widerstands vorwirft.
Amerikanische Soldaten und Einheiten der US-freundlichen Interimsregierung geraten in vielen Städten und Gemeinden der zentralen und nördlichen Regionen des Landes verstärkt unter Angriff.
Zwischen Falludscha und Ramadi griffen Aufständische mehrere US-Konvois an. US-Luftschläge wurden angefordert, um irakische Kämpfer von einer angegriffenen Polizeistation in Bakuba zu vertreiben. Montagnacht wurde das Hauptquartier der Besatzung in der Grünen Zone von Bagdad beschossen, und laut Berichten kam es in verschiedenen Teilen der Stadt zu weiteren Guerillatätigkeiten.
In Mossul kam es zu heftigen Kämpfen zwischen Hunderten sunnitischen Kämpfern und amerikanischen Soldaten, die von mehreren tausend kurdischen Milizen verstärkt wurden. Letztere hatte man schnell aus den kurdisch-kontrollierten nördlichen Provinzen herbeigeholt. Ein Bewohner von Mossul sagte der Washington Post : "Mossul wird zu einem zweiten Falludscha. Und später werden sämtliche Städte des Irak zu Falludscha."
Um die Ankunft weiterer US-Verstärkungen zu verzögern, sprengten Guerillakämpfer eine Brücke in der Stadt Baidschi zwischen Mossul und Bagdad.
Die kurdischen Milizen oder Peschmerga sind die einzigen Kräfte, die in der Region von Mossul an der Seite der Besatzungstruppen kämpfen. Man geht davon aus, dass nicht weniger als 5.000 sunnitische Polizisten desertiert oder zur Guerilla übergelaufen sind. Die Tatsache, dass sich die USA auf die Peschmerga stützen, veranlasste den stellvertretenden Premierminister der Interimsregierung, Barham Saleh, vor der Gefahr eines arabisch-kurdischen Bürgerkriegs im Norden des Landes zu warnen.
Turkmenische Kämpfer in der Stadt Tal Afar griffen vergangenes Wochenende ebenfalls Stützpunkte der Besatzer an, eroberten ein Gefängnis und befreiten gefangene Guerillakämpfer aus ihren Zellen. Wie berichtet wird, haben US-Panzerwagen die Stadt umzingelt. Im September hatte die US-Armee mehrere blutige Razzien in diesem Gebiet durchgeführt und sie erst eingestellt, als die türkische Regierung mit einem Abbruch ihrer Zusammenarbeit mit der amerikanischen Präsenz im Irak drohte, falls die US-Übergriffe auf Türkischstämmige nicht aufhörten.
Die durch die Ereignisse in Falludscha provozierte Empörung könnte in den Schiitengebieten im Südirak erneut zum Ausbruch offenen Widerstands gegen die Besatzung führen. Politische und religiöse Schiitenführer, die darauf gehofft hatten, von den US-inszenierten Wahlen zu profitieren, vollführen einen immer waghalsigeren Balanceakt zwischen ihren Ambitionen und der Opposition der einfachen Schiiten im Irak gegen die Massenmorde, die von den US-Soldaten begangen werden.
Der Schiitengeistliche Moktada al-Sadr erklärte am Freitag, seine Organisation sei dabei, ihre Unterstützung für die Wahlen "auszusetzen", da es unmöglich sei, unter Bedingungen von US-Angriffen auf irakische Städte "saubere und ehrliche" Wahlen durchzuführen. Ein langjähriger Sadr-Berater forderte die Angehörigen der Sicherheitskräfte der Interimsregierung auf, "die Kämpfe gegen eure Brüder in Falludscha einzustellen".
Ein weiterer führender Schiitengeistlicher in Bagdad, Hadi al-Khalissi, erklärte am Freitag: "Der grausame Militärangriff der US-Besatzungskräfte und der von Amerika eingesetzten irakischen Regierung auf Falludscha ist ein massenmörderischer Akt und ein Kriegsverbrechen."
Die ersten zwei Wochen im November haben sich für die US-Armee bereits als sehr verlustreich erwiesen: Zur Zeit sterben durchschnittlich fünf amerikanische Soldaten pro Tag - eine Zahl, die höher ist als zu jeder anderen Zeit mit Ausnahme der ersten zehn Tage der eigentlichen Invasion. Bis jetzt sind diesen Monat 72 US-Soldaten gestorben. Mindestens 39 von ihnen fielen in Falludscha, und über 300 wurden verwundet.