"McKinsey kommt"
Hochhuths Warnung an Wirtschaft und Politik bleibt matt
Von Ulrich Rippert
18. Februar 2004
Am Ende der fünf knappen Szenenbilder brennt die Europafahne auf der Bühne und ein Demonstrant ruft: "Wir Europäer haben aus Phantasielosigkeit und Unterwürfigkeit gegenüber unseren Herren: den USA - ihr Sternenbanner kopiert. Weil wir jetzt in Europa ebenso den Profit zu unserem einzigen Gott machen." Dann fällt der Vorhang.
Die Premiere von Rolf Hochhuths neuem Stück "McKinsey kommt" war mit Spannung erwartet worden, und so platzte am vergangenen Freitag das Kleine Haus des Theaters in Brandenburg/Stadt aus allen Nähten. Doch der Skandal blieb aus. Die Deutsche Bank hatte schon vor Wochen die Klagedrohung gegen Hochhuth wegen Mordaufruf gegen ihren Vorstandsvorsitzenden Joseph Ackermann zurückgezogen, und der Ruf nach einer Kalaschnikow wurde von Regisseur Oliver Munks in das fortgeschrittene Delirium eines Wodkarausches verschoben.
Es ist durchaus zu begrüßen, dass ein bekannter Autor eines der großen gesellschaftlichen Probleme auf die Bühne bringt und die schreiende soziale Ungleichheit der Gesellschaft anprangert. Das ist erfrischend, nachdem das zeitgenössische Theater vieler Orts nicht selten von Nabelschau und introvertierter Gefühlsduselei geprägt ist. Doch der politische Gehalt dieses politischen Lehrstücks bleibt äußerst dürftig.
Das Stück lebt von Fakten und Tatsachen wie eine Zeitung, bleibt aber auch auf dem Niveau einer Redaktionsstube. Noch bevor sich der Vorhang zum ersten Mal hebt, liest ein Schauspieler dies und das aus der jüngsten Ausgabe der FAZ und kommentiert - fern jedes Textbuchs - einige Pressemeldungen, die der Zuschauer selbst noch im Kopf hat.
Dann hagelt es Fakten im Gespräch zwischen dem Verfassungsrichter Kurt und Hilde Zumbusch, die gerade eine Arbeitslosenpartei gegründet hat. 9,4 Milliarden Reingewinn hat die Deutsche Bank im vorvergangenen Jahr - dem bisher besten ihrer hundertdreißigjährigen Geschichte - gemacht, im selben Jahr aber 11.000 Mitarbeiter entlassen. Bankchef Ackermann verdient jährlich 6,95 Millionen Euro und strebt immer neue Entlassungen an.
Die Mercedes-Manager erhöhten mit dem Kauf von Chrysler ihre Gehälter von jährlich 2,5 Millionen auf 15,5 Millionen Euro - vierhundert Mal so viel wie sie einem durchschnittlichen Arbeiter ihres Unternehmens zahlen.
Die Fakten sprechen für sich, doch selten blitzt in den Dialogen ein neuer Gedanke oder wenigstens eine zündende Formulierung auf. Nur in Zitaten - wie etwa wenn Hilde die Worte Voltaires wiedergibt: Er werde lieber von einem Löwen regiert als von 200 Ratten - zeigt sich Ausdrucksstärke, die allerdings den Rest der Dialoge noch dürftiger erscheinen lässt.
Im zweiten Szenenbild unterhalten sich zwei entlassene Arbeiterinnen im Umkleideraum vor ihrem Spind. Zwar kommen sie nicht - wie Hochhuths Regieanweisung fordert - gerade nackt aus der Dusche, dafür stehen sie in Unterwäsche vor dem Publikum und ziehen sich um - nackte Tatsachen eben. Beide lesen sich gegenseitig kurze Meldungen aus - natürlich - der Bild -Zeitung vor und schimpfen über die Korruption des Betriebsratsvorsitzenden, der, weil unkündbar, in der Jackentasche des Vorstands stecke. "Jenosse der Bosse, wie sein Kanzler!"
Man gewinnt den Eindruck, Autor und Regisseur seien davon überzeugt, dass ein Gespräch unter Arbeiterinnen nur dann realistisch erscheint, wenn möglichst oberflächlich, banal und in breitem Dialekt gesprochen wird. Das gilt für das ganze Stück. Kein Charakter wird verdichtet, in seinen vielfältigen Facetten und Widersprüchen gezeigt. Die Bosse und Manager sind eben brutal, egoistisch, rücksichtslos und arrogant. Die Arbeiter dagegen sind die Opfer, die sich nicht wehren können, bis einem von ihnen der Kragen platzt, er sich mit einigen Verschwörern zusammen tut und Amok läuft.
Im dritten Akt liefert sich der "Rheinische Kapitalismus" in Form eines alternden Unternehmenspräsidenten mit dem "Raubtierkapitalismus" in Form eines multinationalen Tabakkonzernchefs eine Redeschlacht, die mit der Abdankung des ersteren endet. Dann folgt die Szene von drei entlassenen oder degradierten Angestellten, die im Alkohol-Rausch nach einer Kalaschnikow rufen, aber gleichzeitig ihre eigene Unentschlossenheit und Inkonsequenz bedauern.
Bis schließlich am Ende die Sprecherin der Arbeitslosen, Hilde Zumbusch, vor dem Bundesverfassungsgericht die Forderung erhebt, das Recht auf Arbeit müsse endlich im Grundgesetz verankert werden. Unterstützt wird sie dabei von einer Studentendemonstration, die mit Attac-Plakaten und Spruchbändern zum Widerstand aufruft. Im Hintergrund werden Filmsequenzen von Straßenschlachten in Genua und Florenz eingespielt.
Bevor der Vorhang fällt, wird noch die Warnung an Joseph Ackermann - der "nie an Skrupel gelitten, je mordlustiger er handhabt sein Entlasser-Skalpell" - betont nüchtern, mit Quellenangabe verlesen. Sie endet mit den Worten: "Schleyer, Ponto, Herrhausen warnen ". (Alle drei waren Opfer von Mordanschlägen der Roten Armee Fraktion).
Das Auffallendste an diesem Stück ist der deutliche Kontrast zwischen dem Anspruch des Autors, der sich selbstbewusst in der Tradition der Aufklärung sieht, und seiner Unfähigkeit, diesen Anspruch auch nur ansatzweise zu realisieren. Kein Geringerer als der Philosoph Hegel wird mit den Worten zitiert: "Bekanntes ist noch nicht erkannt". Doch dann liefert uns der Autor nur Bekanntes und keine Erkenntnis.
Mehr als ein halbes Jahrhundert ist vergangen, seit die Verfassungsväter die "Sozialbindung des Eigentums" in Artikel 14 GG festschrieben. Seitdem haben Hunderte von Gesetzesänderungen bewiesen, dass die gesellschaftliche Realität ihre juristische Ausformung prägt und nicht umgekehrt. Und jetzt, da die gesellschaftliche und politische Realität jeder sozialen Verantwortung Hohn spricht, erklärt Hochhuth, eines der größten gesellschaftlichen Problem könne gelöst werden, indem das Recht auf Arbeit in der Verfassung verankert werde!
Aber nicht nur die Perspektive, auch die Form des Stücks weist in die Vergangenheit, als habe sich seit Brecht, Piscator und Agitprop nichts verändert.
Vielleicht liegt aber gerade in diesen Schwächen des Stücks eine wichtige Erkenntnis. Rolf Hochhuth verkörpert einen wichtigen Teil der Protestgeneration der sechziger Jahre. Er war noch keine 15 Jahre alt, als Nazi-Deutschland unterging und die politische Elite in diesem Land so tat, als sei nichts geschehen. Sein erstes Theaterstück, "Der Stellvertreter - ein christliches Trauerspiel", klagt die Naziverstrickungen der katholischen Kirche an und wurde - damals noch in der Inszenierung von Erwin Piscator - ein Welterfolg.
Allzu viel gehörte damals nicht dazu, Aufsehen zu erregen und einen Aufschrei auszulösen. Man musste nur den Teppich etwas lüften, unter den die Naziverbrechen gekehrt worden waren. 15 Jahre später stand Hochhuths Schauspiel "Juristen" in direktem Zusammenhang mit dem Rücktritt des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Hans Filbinger, der als Nazi-Marine-Richter noch nach der Kapitulation Wehrmachtssoldaten zum Tode verurteilt hatte.
Kurze Zeit später folgte das Stück "Ärztinnen", in dem Hochhuth die Pharmaindustrie anklagte, um des Profites willen Menschenleben zu opfern, und für das er den Literaturpreis der Stadt München erhielt. Immer griff Hochhuth brisante politische Themen auf, und immer versuchte er zuzuspitzen und zu provozieren. Aber niemals ging er über die Grenzen des Protestes hinaus.
Wie viele seiner Generation war Hochhuth von Argumenten und Überzeugungen beeinflusst, die auf Vertreter der Frankfurter Schule wie Theodor W. Adorno und Max Horkheimer zurück gingen. Sie hatten vieles aus der marxistischen Gesellschaftskritik übernommen, lehnten aber den Wesenskern der sozialistischen Perspektive, die Umwälzung der Gesellschaft durch das selbstbewusste Handeln einer politisch und kulturell gebildeten Arbeiterklasse ab.
Nach der Erfahrung des Faschismus schrieben Horkheimer und Adorno in ihrem Schlüsselwerk "Dialektik der Aufklärung" ausdrücklich: "Die Ohnmacht der Arbeiter ist nicht bloß eine Finte der Herrschenden, sondern die logische Konsequenz der Industriegesellschaft." Und ein Großteil ihrer weiteren Arbeit bestand darin, diese pessimistische Perspektive zu untermauern.
Aus diesen Positionen entwickelte sich eine politische Orientierung, deren eine Pol der Sozialreformismus, deren andere der Terrorismus bildete. So unvereinbar diese beiden Standpunkte erscheinen mögen, ist ihnen doch gemein, dass sie keine gesellschaftliche Kraft sehen, die in der Lage wäre, die Verhältnisse grundlegend zu ändern.
Diese Haltung prägte auch Hochhuth. Selbst wenn er hinter den gesellschaftlichen Missständen die fortschreitende und unheilbare Fäulnis der kapitalistischen Gesellschaft sah und hinter dem wirtschaftlichen und politischen Tyrannen ein tyrannisches System wusste, verstand er unter Revolution nur terroristische Gewalt und Chaos, nie aber das politisch bewusste Handeln der arbeitenden Bevölkerung.
Folglich betrachtete er es nie als seine Aufgabe, eine revolutionäre Umwälzung der Gesellschaft vorzubereiten. Vielmehr zielten seine wiederholten Warnungen vor einer Revolution darauf, die Herrschenden zur Vernunft zu bringen. Doch die Zahlen und Fakten in seinem jüngsten Stück dokumentieren das Scheitern eben dieser Perspektive. Daher der schale Nachgeschmack, wenn der Vorhang fällt.
Um die revolutionäre Umwälzung der Gesellschaft vom Schreckgespenst eines Liberalen zur politischen Perspektive zu machen, bedarf es mehr als Protests und eines Aufwaschs von Agitprop, der in seiner besten Zeit immer auf politische Bildung ausgerichtet war.
Die wachsenden sozialen Spannungen, die in der Tat Europa und viele andere Länder schnell in Brand stecken können, erfordern eine gewissenhafte Auseinandersetzung mit den beschränkten politischen Konzeptionen, die der Protestbewegung der vergangen Jahrzehnte und auch diesem Stück zu Grunde liegen.
Aus diesem Blickwinkel wird Hochhuths Anklage gegen Ackermann und Co. vielleicht doch noch ein Lehrstück.