Professor Chomsky heult mit den Wölfen
Von David Walsh
29. April 2004
aus dem Englischen (5. April 2004)
Noam Chomsky, Professor für Linguistik am Massachusetts Institute of Technology (MIT) und radikaler Kritiker der amerikanischen Außenpolitik, unterstützt den voraussichtlichen Präsidentschaftskandidaten der Demokratischen Partei John Kerry in seinem Wahlkampf gegen Amtsinhaber George W. Bush. Die Argumente, die Chomsky zu Gunsten Kerrys vorbringt, sind äußerst banal und abgedroschen. Sie zeigen, dass der Professor, der politische und soziale Entwicklungen teilweise scharf beobachtet und kommentiert, letztendlich nichts weiter ist als ein Verteidiger des Zweiparteiensystems.
Chomsky hat lediglich eine weitere Version des Arguments vom "kleineren Übel" anzubieten, das seit Jahrzehnten dazu beiträgt, die amerikanischen Arbeiter an die beiden Parteien des Big Business zu fesseln, und sie den Angriffe der herrschenden Klasse auf ihren Lebensstandard und ihre sozialen Bedingungen ausliefert.
In einem Interview mit der britischen Tageszeitung Guardian am 16. März sagte Chomsky: "Kerry wird manchmal als eine Light-Version von Bush beschrieben, was nicht falsch ist. Allgemein ist das politische Spektrum in den USA ziemlich klein, und wie die Bevölkerung weiß, sind die Wahlen größtenteils gekauft. Aber wenn die Unterschiede in Bezug auf Außen- und Innenpolitik auch begrenzt sind, so gibt es doch Unterschiede. Und in diesem System, das über eine gewaltige Macht verfügt, können kleine Unterschiede große Folgen haben."
Chomsky erklärte seine Bewunderung für Ralph Nader und den demokratischen Kongressabgeordneten Dennis Kucinich, "weil sie Sachen zur Sprache bringen und eine erzieherische und organisierende Funktion erfüllen". Er gelangte zum Schluss, die Wahl laufe auf eine "Entscheidung zwischen den beiden Fraktionen der Businesspartei" hinaus, dies mache aber "manchmal einen Unterschied".
Obwohl das Guardian -Interview Aufsehen erregte, hatte Chomsky seine Position schon einen Monat zuvor in einem Interview mit der Website Left Hook deutlich gemacht: "Die gegenwärtige Amtsinhaber könnten schweren, möglicherweise irreparablen Schaden anrichten, wenn sie weiter an der Macht bleiben - in einer sehr schwachen Machtposition zwar, aber sie werden sie zu sehr hässlichen und gefährlichen Zwecken nutzen. In einem sehr mächtigen Staat können kleine Unterschiede für die Opfer im In- und Ausland sehr greifbare Auswirkungen haben. Wenn man diese Tatsachen übersieht, geschieht dies nicht zu Gunsten derjenigen, die bereits darunter leiden und denen vielleicht in Zukunft noch viel Übles bevorsteht. Um Bush und seinen Kreis rauszuhalten, muss man sich die Nase zuhalten und für einige Demokraten stimmen."
Das sind bankrotte Argumente, die den bedeutenden politischen Fragen aus dem Weg gehen, mit denen große Teile der amerikanischen Bevölkerung konfrontiert sind. Wenn Chomsky zugibt, dass Kerry und Bush lediglich zwei Repräsentanten derselben imperialistischen Elite sind, wie kann er dann seine Unterstützung für den einen oder anderen rechtfertigen? Wie kann die Unterstützung für die Kandidatur einer dieser beiden reaktionären Gestalten zur politischen Klärung beitragen und den langfristigen Interessen der arbeitenden Bevölkerung in Amerika dienen?
Die Vorstellung, "kleine Unterschiede" zwischen den zwei großen Parteien könnten "große Folgen" haben, lässt darauf schließen, dass es keiner radikalen ökonomischen und sozialen Umwandlung bedarf, um die gesellschaftliche Krise in den Vereinigten Staaten zu beheben. Diese Aufgabe, so die Schlussfolgerung, kann der anderen Fraktion der "Businesspartei", den Demokraten überlassen werden.
Dass es Unterschiede zwischen den Parteien gibt, ist eine Binsenweisheit. Warum sollten sie sonst als getrennte Organisationen existieren? Die zwei bürgerlichen Parteien in Amerika haben ihre eigene Geschichte, unterscheiden sich in gewisser Weise in ihren Appellen und benutzen unterschiedliche Taktiken, um das gemeinsame Ziel zu verfolgen - die Verteidigung der amerikanischen kapitalistischen Interessen im In- und Ausland.
Wie die Kampagnen von Howard Dean, Dennis Kucinich und Al Sharpton belegen, möchten die Demokratische Partei und ihre Anhänger zurzeit den Eindruck zu vermitteln, dass im gegebenen politischen Rahmen eine Vielfalt an Meinungen, ja selbst Opposition möglich ist. Chomsky wirft für diesen Betrug bereitwillig seinen "linken" Ruf in die Waagschale.
Die Konflikte, die innerhalb der herrschenden Elite ausgetragen werden, können manchmal ziemlich erbitterte Formen annehmen, wie das Amtsenthebungsverfahren gegen Clinton zeigte. Jedoch können diese Differenzen nicht die Grundlage sein, auf der die arbeitende Bevölkerung ihren Kampf für ihre eigenen sozialen Interessen organisiert. Im Gegenteil: Die Unterordnung unter die Demokratische Partei ist weiterhin der wichtigste Mechanismus, um jene unabhängigen Interessen von vornherein nicht zur Geltung kommen zu lassen.
Die Bush-Regierung ist zweifellos reaktionär und gefährlich. Ihr Charakter entspringt allerdings nicht der Persönlichkeit ihrer verschiedenen Repräsentanten sondern der Krise des amerikanischen und globalen Kapitalismus. Diese Krise verschwindet nicht, wenn die Demokraten die Wahl gewinnen. Tatsächlich wird sie sich in jedem Fall verschärfen, unabhängig davon, welche der beiden Parteien des Big Business an die Macht kommt. Alles hängt letztendlich davon ab, dass die arbeitende Bevölkerung ihre eigene sozialistische und internationale Lösung für soziale Krise in den Vereinigten Staaten entwickelt und vertritt, unabhängig von allen Fraktionen der Demokraten und Republikaner. Kerry, ein erfahrener bürgerlicher Politiker, der sowohl den Irakkrieg als auch den Patriot Act befürwortete, ist ebenfalls reaktionär und gefährlich.
Kerry unterstützt nachdrücklich die koloniale Besetzung des Iraks und spricht sich dafür aus, sie fortzusetzen. Indem er sich hinter Kerry stellt, unterstützt Chomsky letztendlich ein brutales und kriminelles imperialistisches Unternehmen - auch wenn er aus früheren Zeiten noch den Ruf eines Antiimperialisten trägt.
Ob er sich dabei die Nase zuhält oder nicht: Chomsky muss, wenn er den Kandidaten der Demokratischen Partei unterstützt, Verantwortung für die Taten einer Kerry-Regierung übernehmen, sollte diese an die Macht kommen. Wenn diese Regierung im Namen einer "humanitären Intervention" ihre eigenen kolonialen Invasionen unternimmt, wird Chomsky einen Teil der politischen Verantwortung dafür tragen.
Der MIT-Professor hat in dieser Hinsicht bereits eine zweifelhafte Vorgeschichte. Zur Zeit der Clinton-Regierung unterstützte er die US-Militärintervention zur Wiedereinsetzung des haitianischen Präsidenten Jean-Bertrand Aristide 1994 ebenso wie das amerikanische Eingreifen auf dem Balkan nach dem Dayton-Abkommen 1995. Chomsky behauptete, dass die amerikanische Militäraktion in Haiti "wahrscheinlich dem Terror Einhalt gebieten" würde, und dass sich ohne Intervention im ehemaligen Jugoslawien beide Seiten "weiterhin gegenseitig massakrieren" würden.
Der Verlauf der Ereignisse widerlegt seine Argumentation in beiden Fällen. Weder der Terror in Haiti noch die ethnisch begründeten Massaker im ehemaligen Jugoslawien fanden ein Ende. Invasion und Besatzung bildeten lediglich die Grundlage für noch mehr Blutvergießen und stärkere Unterdrückung. Gleichzeitig haben Leute wie Chomsky Illusionen in die "humanitäre Mission" des Imperialismus geschürt und dadurch erreicht, dass die Bevölkerung noch orientierungsloser und politisch wehrloser ist als jemals zuvor.
An Chomsky Auffassungen ist nichts Originelles. Solche Argumente werden seit vielen Jahren von Reformisten und Opportunisten vorgebracht. Im Wesentlichen empfiehlt Chomsky den von ihm so bezeichneten "Opfern" des amerikanischen Kapitalismus, sich auf den liberalen Flügel der herrschenden Elite zu verlassen, um das Schlimmste zu verhindern. Diese Strategie ist indes immer wieder gescheitert.
Es steckt eine gewisse Ironie in der Tatsache, dass Chomsky, der als erbitterter Kritiker der räuberischen US-Außenpolitik bekannt ist, sich an einen rechten Demokraten hängt, der Bush vorwirft, im "Krieg gegen den Terror nicht genug getan" zu haben, und erklärt, dass "wir unsere Überzeugung, die Sache Israels müsse die Sache Amerikas sein, stärker kundtun müssen."
Nicht ohne Grund konnte der Demokratische Senator Joseph Liebermann, der den Krieg gegen den Irak befürwortet und zionistische Positionen vertritt, jüngst erklären: "Senator Kerry und Präsident Bush hielten in dieser Woche Reden zur Außenpolitik. Lässt man die Rhetorik ebenso beiseite wie die Versuche der Medien, Differenzen zu finden, dann ist offensichtlich, dass beide den Krieg gegen den Terrorismus gewinnen und im Irak Erfolg haben wollen."
Chomskys Argument aus dem oben zitierten Interview, dass die Bush-Mannschaft eine "extrem gefährliche Clique" und "besonders grausam und unzivilisiert" sei, gehört zum Standardrepertoire eines jeden "Linken" in Amerika. Die Bedrohung von Seiten der Rechten ist immer "zu groß", die Bedingungen "nicht reif", um mit den Demokraten zu brechen. Das haben wir alles schon gehört und zwar mehr als einmal. Es zeigt sich, dass es für die Chomskys, die Michael Moores und ihresgleichen nie den "richtigen" Zeitpunkt gibt, um eine sozialistische Alternative zum Zweiparteiensystem aufzubauen. Und für sie wird es ihn auch niemals geben.
Chomskys politischer Niedergang ist Teil eines internationalen Trends. Im Namen eines Kampfes gegen die extreme Rechte ist der gesamte Zirkel von "Radikalen" aus der Mittelklasse (die heute alles andere als radikal sind) in die Umlaufbahn der bürgerlichen Politik geraten. Chomskys Argumente erinnern an die Haltung der französischen "Linksradikalen", als sie in der zweiten Runde der französischen Präsidentschaftswahlen im Mai 2002 ihre Unterstützung für Jacques Chirac rechtfertigten.
Die Ligue Communiste Révolutionnaire (LCR) unter Führung von Alain Krivine beispielsweise drängte zur Wahl Chiracs, des korruptesten Repräsentanten des französischen Kapitals. Die LCR rief die Wähler auf "die [ultrarechte] Front National an den Wahlurnen ebenso zu stoppen wie auf der Straße. Stimmt am 5. Mai gegen Le Pen [den Kandidaten der Front National]." Und das unter Bedingungen, wo neben Le Pen nur noch Chirac auf dem Wahlzettel stand.
Während Chomsky heute empfiehlt, mit zugehaltener Nase für Kerry zu stimmen, schlug vor zwei Jahren der LCR-Präsidentschaftskandidat Olivier Besancenot vor, dass sich "alle Wähler am Sonntagabend [d.h. nach der Stimmabgabe für Chirac] ihre Hände waschen". Die Körperregionen mögen sich unterscheiden, aber das opportunistische Rezept ist identisch - bis hin zum Tonfall des falschen Bedauerns.
Lehren aus der Geschichte
Es wäre zu einfach zu sagen, Chomskys Unterstützung für Kerry habe "sein oppositionelles Auftreten entlarvt", oder ähnliches. Es gibt keinen Grund daran zu zweifeln, dass der Professor auch weiterhin ein aufrichtiger Gegner des Elends und Leids ist, das vom US-Imperialismus auf der ganzen Welt verursacht wird und auch die amerikanische Bevölkerung selbst trifft.
Die Politik folgt jedoch ihrer eigenen Logik. Wie Trotzki bemerkte: "Keiner hat bisher ein Mittel erfunden, um die Gesetze des Klassenkampfs außer Kraft zu setzen." Chomsky wird selbst von der Entwicklung der politischen Krise beeinflusst, wobei ihn seine Weltanschauung, die fraglos durch seine Zugehörigkeit zur akademischen Eliten beeinflusst ist, recht empfänglich für die Sirenengesänge des bürgerlichen Liberalismus macht.
Mit seiner Strategie, die auf das "kleinste Übel" im Establishment setzt, weist Chomsky eine der wichtigsten politischen Lehren der modernen Geschichte zurück: Dass der Liberalismus - wenn auch mit Bedenken und "Bauchschmerzen" - unvermeidlich verkommt und nach rechts rückt, wenn er mit einer Bedrohung von unten, durch die Arbeiterklasse konfrontiert ist.
Doch Professor Chomsky ist ein Mensch, der gegenüber vielen der wichtigsten Lehren des 20. Jahrhunderts blind ist. Man könnte auch sagen, dass diese Blindheit zu einem Wesensmerkmal seines Lebenswerkes geworden ist.
Chomsky wurde 1928 geboren und wurde bereits in jungen Jahren von den Ereignissen des spanischen Bürgerkrieges (1936-39) zutiefst beeinflusst (er schrieb im Alter von 10 Jahren seinen ersten Aufsatz zu dem Thema). Eine wichtige Rolle in seiner politischen Entwicklung spielte ein Onkel, der "ein Anhänger Trotzkis, später ein Gegner der Trotzkisten war". Chomsky übernahm die Feindschaft der Anarchisten gegen den Marxismus und Bolschewismus und hält an diesen Ansichten bis heute fest.
Chomskys Ablehnung der Oktoberrevolution ist wohlbekannt. Er bezeichnete sie als "einen der schwersten Schläge" gegen die Arbeiterklasse und als "konterrevolutionären Staatsstreich". Letzteres gleicht den Behauptungen, die fanatisch antikommunistische Gestalten wie der Historiker Richard Pipes in die Welt setzen. Ernsthafte Akademiker lehnen diese ignorante Auffassung ab und verweisen darauf, wie groß der bolschewistische Einfluss auf die Arbeiterklasse war und in welchem Ausmaß Arbeiter im Jahre 1917 die innerparteilichen Diskussionen mit größter Aufmerksamkeit verfolgten.
"Lenin war einer der größten Feinde des Sozialismus", sagte Chomsky einem Interviewer im Jahre 1995 und behauptete, der Führer der Oktoberrevolution sei der Meinung gewesen, "dass Arbeiter sich nur für Pferderennen interessieren". Tatsächlich ist es gerade die unabhängige, bewusste Bewegung der Arbeiterklasse, die sich in der Oktoberrevolution 1917 und der gesamte vorausgegangenen Entwicklung der sozialistischen Arbeiterbewegung ausdrückte, an der sich der kleinbürgerliche Professor stört und die ihn aufbringt.
(Man fühlt sich an die Episode in John Reeds Zehn Tage, die die Welt erschütterten [http://www.mlwerke.de/re/re_11.htm] erinnert, in der ein Soldat, der auf der Seite der Bolschewiki steht, den verbalen Attacken eines "anmaßenden" jungen Mannes standhält, der sich selbst "revolutionär" nennt und gegen Lenin und die Bolschewiki wettert. Nach jeder Beleidigung kommt der Soldat geduldig auf die Grundfrage zurück: "Es gibt zwei Klassen. Kannst du das nicht sehen? Das Proletariat und die Bourgeoisie." Die Argumentation und Standfestigkeit des Soldaten, der für sich selbst denkt, bringen den arroganten "Sozialisten" auf die Palme.)
Chomsky hat seine Kommentare zu Marx und zum Marxismus mit der Einschränkung versehen, dass er selbst "weit vom Marxkenner entfernt" sei, seine Bemerkungen "Eindrücke" darstellten und so weiter. Er fördert dabei die Vorstellung, dass das Thema von relativ geringer Bedeutung ist. Er bringt einen gewissen Hochmut zum Ausdruck, eine Erhabenheit über solche Fragen. Zu Trotzki hat er kaum etwas zu sagen, außer dass seine und Lenins Politik direkt zur stalinistischen Tyrannei geführt hätten.
Chomsky zeichnet sich allgemein durch Geringschätzung gegenüber denjenigen aus, die aus den schwierigen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts Lehren ziehen wollen. Seine regelmäßigen Kommentare über die Spanische Revolution und die Rolle der anarchistischen Bewegung sind undurchdacht, irreführend und bauen darauf, dass sein Publikum keine Ahnung von den tatsächlichen Ereignissen hat.
Im Jahre 1970 schrieb Chomsky über die "Errungenschaften der Volksrevolution in Spanien" und stützte sich dabei auf langjährige Arbeiten der anarcho-syndikatistischen Bewegung. 1995 sagte er in einem Interview: "Die Errungenschaften der spanischen Arbeiter und Bauern waren, bevor die Revolution zerschlagen wurde, in vielerlei Hinsicht beeindruckend." Welche Errungenschaften? Wie und warum wurde die Revolution zerschlagen?
Völlig korrekt schreibt Chomsky dem Stalinismus eine entscheidende konterrevolutionäre Rolle zu. Die Spanische Kommunistische Partei und der NKWD trugen dazu bei, die spanische Arbeiterklasse der "liberalen" Bourgeoisie unterzuordnen (genau die Strategie, die Chomskys heute vorschlägt!). Sie verhinderten die Inbesitznahme der Fabriken durch die Arbeiter und versuchten jede Opposition von links auszulöschen.
Aber Chomskys verdeckt die Rolle der anarchistischen Führung in der Spanischen Revolution, die den Stalinisten und Sozialdemokraten dabei half, die spanischen Massen handlungsunfähig zu machen. Der Trotzkist Felix Morrow dokumentierte diese Entwicklung in seinem Buch Revolution und Konterrevolution in Spanien [erhältlich im Arbeiterpresse-Verlag]. Er erklärt, wie der Anarchismus - in der Form der CNT-FAI (Nationale Konföderation der Arbeit - Iberische Anarchistische Föderation), unter der Führung von Garcia Oliver - durch die spanischen Ereignisse "einer Prüfung im großen Maßstab" unterzogen wurde und kläglich versagte.
Morrow schrieb: "Der Anarchismus hat sich durchweg geweigert, die Unterscheidung zwischen einem bürgerlichen und einem Arbeiterstaat anzuerkennen. Selbst in de Tagen Lenins und Trotzkis denunzierte der Anarchismus die Sowjetunion als Ausbeuterregime. Gerade das Unvermögen zwischen einem bürgerlichen und einem proletarischen Staat zu unterscheiden, hatte die CNT schon in den Flitterwochen der Revolution von 1931 zu derselben Art opportunistischer Irrtümer geführt, wie sie immer von Reformisten gemacht werden - die auch, auf ihre Weise, keine Unterscheidung zwischen bürgerlichen und Arbeiterstaaten machen. [...]
Jetzt, in den weit mächtigeren Dämpfen der Revolution vom 19. Juli', wo die gewohnten Grenzlinien zwischen Bourgeoisie und Proletariat fürs erste verwischt waren, führte die traditionelle Weigerung der Anarchisten, zwischen einem bürgerlichen und einem Arbeiterstaat zu unterscheiden, sie langsam, aber in entscheidender Weise, in das Kabinett eines bürgerlichen Staates hinein."
Die Anarchisten traten der katalonischen Regierung und der nationalen Koalitionsregierung unter Largo Caballero bei. Da sie dem Staat gleichgültig gegenüberstanden, sahen sie keinen Grund, diesen Schritt nicht zu gehen. In der Regierung übernahmen die Anarchisten die Funktion bürgerlicher Minister, verteidigten das Privateigentum und die kapitalistische Gesellschaftsordnung.
Als sich die Arbeiterklasse 1937 in Barcelona zur Verteidigung ihrer Errungenschaften erhob und Barrikaden gegen die Koalitionsregierung errichtete, bemühte sich die anarchistische Führung um Garcia Oliver, den Kampf niederzudrücken. Sie forderten die Arbeiter auf, die Straße zu verlassen und halfen, die "Ordnung" wiederherzustellen. Linke Gegner, darunter auch Teile der anarchistischen Jugend, die sich gegen diesen Verrat wandten, wurden als Provokateure beschimpft. Die revolutionäre Gelegenheit wurde verschenkt und die Konterrevolution gewann die Oberhand. Der offizielle spanische Anarchismus spielte eine schändliche Rolle.
In der Entwicklung des Anarchisten Chomsky selbst zeigt sich eine langsame, aber entscheidende Logik. Wenn er den großen Fragen der Geschichte und Prinzipien gleichgültig gegenübersteht, ein vehementer Gegner der Oktoberrevolution ist, die den ersten Versuch zur Errichtung einer neuen Gesellschaft durch die Arbeiter selbst darstellte, und die revolutionäre Rolle der Arbeiterklasse zurückgewiesen hat - an wen soll sich Chomsky dann noch wenden, außer an die eine oder andere Fraktion des Establishments?
Schwere Zeiten bringen einen schmerzlichen aber heilsamen Effekt mit sich: Organisationen und Menschen werden einer Prüfung unterzogen. Unvermeidlich kommt ans Licht, was falsch, ungeklärt oder prinzipienlos ist. Die wachsende politische Krise in den Vereinigten Staaten, die beide Parteien des Big Business und die Medien in Verruf zu bringen droht, setzt all jene enorm unter Druck, die von sich behaupten, dass sie den Status quo ablehnen. Chomsky und seinesgleichen haben auf die erste Entwicklungsstufe dieser Krise reagiert, indem sie sich auf die Seite der derzeit Mächtigen gestellt haben. Daraus müssen die entsprechenden politischen Schlussfolgerungen gezogen werden.