Britischer Politiker wirft USA gezielte Achtlosigkeit am 11. September vor
Von Bill Vann
13. September 2003
aus dem Englischen (8. September 2003)
Ein prominentes Mitglied der regierenden britischen Labour Party hat die Bush-Regierung beschuldigt, sie habe schon vor dem 11. September 2001 Kenntnis von Terroranschlägen gehabt und diese zugelassen, um lang gehegte Pläne für eine Invasion und Besetzung des Irak zu verwirklichen.
Michael Meacher war Umweltminister im Kabinett Blair und verlor seinen Posten im Juni bei einer Regierungsumbildung. Am 6. September veröffentlichte er im Guardian einen Artikel unter der Überschrift: "Der Krieg gegen den Terrorismus ist vorgeschoben: Die Anschläge vom 11. September lieferten den USA einen idealen Vorwand, um ihre globale Vorherrschaft mit Gewalt zu sichern". (http://www.guardian.co.uk/comment/story/0,3604,1036571,00.html)
Meacher verweist darauf, dass der US-Militär- und Geheimdienstapparat nicht auf zahlreiche Warnungen vor drohenden Angriffen reagierte und auch am 11. September selbst nicht sofort aktiv wurde, als vier Passagierflugzeuge gleichzeitig entführt wurden, und fragt: "War diese Untätigkeit bloß das Ergebnis davon, dass Schlüsselpersonen die Sachlage falsch einschätzten oder nicht kannten? Oder könnte es sein, dass man am 11. September absichtlich auf die Sicherung des Luftraums verzichtete? Wenn ja, warum, und auf wessen Veranlassung?"
Der Artikel rief eine wütende Reaktion der US-Botschaft in London hervor. Sie gab eine Erklärung heraus, in der es heißt, Meachers "Behauptungen, die US-Regierung habe bewusst tatenlos zugeschaut, wie Terroristen in New York, Pennsylvania und Virginia fast 3.000 Unschuldige töteten, wären ungeheuerlich und ungeheuer beleidigend, kämen sie denn von einer ernsthaften oder glaubwürdigen Person".
Die großen amerikanischen Medien haben jeden Hinweis auf Meachers explosive Vorwürfe unterlassen.
Die Behauptung, Meacher sei "unernsthaft" oder "unglaubwürdig", ist unbegründet. Er ist kein einzelgängerischer Hinterbänkler und gehört auch nicht zu den von der Presse verschrieenen "hundertfünfzigprozentigen Linken". Er war im Gegenteil der erfahrenste Minister der Labour Party, saß 33 Jahre lang im Parlament und hat schon in den Regierungen von Wilson und Callaghan in den siebziger Jahren Ministerposten bekleidet. In Blairs Kabinett war er sechs Jahre lang Umweltminister, bis er im Juni entfernt wurde, als die Labour Regierung wegen des Irakkriegs immer tiefer in die Krise geriet. Er spielte bei den Verhandlungen über den Umweltpakt von Kyoto eine wichtige Rolle und wurde lange als Anwärter auf die Position des Labour-Parteivorsitzenden betrachtet.
Dass jemand mit solchen politischen Verbindungen öffentlich den Vorwurf erhebt, Elemente der US-Regierung hätten gewusst, dass am 11. September ein Terroranschlag bevorstehe, und ihn zugelassen, weil er ihren Kriegsplänen nützte, stellt für die Bush-Administration eine extrem gefährliche Entwicklung dar. Meacher spricht nicht nur für sich selbst. Seine Behauptung ist ein Hinweis darauf, was in breiteren Kreise der einzigen größeren Regierung, die Washingtons Irak-Invasion unterstützt hat, hinter den Kulissen geäußert und vermutet wird.
Der Artikel war zweifellos durch die Tatsache motiviert, dass sich die Krise der Blair-Regierung ständig vertieft, seitdem die Lügen, mit denen sie den Irakkrieg propagiert hat, nach und nach entlarvt werden. Aus den Reihen der eigenen Geheimdienste kommen ständig neue Enthüllungen ans Licht, dass Beweismittel gegen den Irak gefälscht wurden, und jüngste Umfragen haben gezeigt, dass eine Mehrheit der Briten für Blairs Rücktritt ist.
Die von Meacher aufgeworfenen Fragen hat bisher niemand in der US-Regierung beantwortet. Am zweiten Jahrestag der Terroranschläge vom 11. September weiß die amerikanische Öffentlichkeit beinahe genau so wenig darüber, was an diesem Tag geschah - und wie es dazu kommen konnte - wie zur Zeit der Tat. Das Weißes Haus hat alles in seiner Macht Stehende getan, um eine unabhängige Untersuchung dieser tragischen Ereignisse in die Irre zu führen oder zu verhindern. Bis heute hat niemand erklärt, wie es möglich war, dass verdächtige Terroristen, die vom FBI und der CIA überwacht wurden, in die USA gelangen, das Kommando über Zivilflugzeuge übernehmen und diese ungehindert bis zum Einschlag in ihre Zielobjekte steuern konnten.
Meachers Artikel beinhaltet viele Themen, die während der letzten zwei Jahre von der World Socialist Web Site aufgegriffen wurden: die Art und Weise, wie die Bush-Regierung die Ereignisse vom 11. September nutzte, um langgehegte militärischen Angriffspläne zu verwirklichen; die Tatsache, dass die Regierung wiederholt vor den drohenden Anschlägen gewarnt wurde, ohne dass sie auch nur routinemäßige Abwehrmaßnahmen getroffen hätte.
Meacher weist die offizielle Behauptung zurück, die US-Kriege gegen Afghanistan und den Irak seien Washingtons Antwort auf die Anschläge auf das Pentagon und das World Trade Center, und erklärt: "Die Wahrheit könnte wesentlich undurchsichtiger sein."
Eingangs zitiert er ein Dokument, das 2000 von dem rechten Washingtoner Thinktank "Projekt für ein Neues Amerikanisches Jahrhundert" (PNAC) herausgegeben wurde, einer Art sicherheitspolitischem Schattenkabinett der Republikaner, das darauf wartete, seine Vorstellungen nach dem Amtsantritt Bushs im Jahr 2001 zu verwirklichen. Das Herzstück dieses Dokuments mit dem Titel "Wiederaufbau von Amerikas Verteidigung" wurde unmittelbar in die "Nationale Sicherheitsstrategie der Vereinigten Staaten" vom September 2001 übernommen, die auch die Strategie des "Präventivkrieges" beinhaltet.
Meacher bezeichnet das Dokument als "Bauplan für die Schaffung einer globalen Pax Americana" und schreibt: "Der Plan zeigt, dass das Bush-Kabinett die Absicht hatte, die militärische Kontrolle über die Golfregion zu übernehmen, Saddam Hussein hin oder her. Es heißt darin: Während der ungelöste Konflikt mit dem Irak ein Eingreifen rechtfertigt, geht die Notwendigkeit einer beträchtlichen amerikanischen Militärpräsenz am Golf über die Frage des Regimes von Saddam Hussein hinaus."
Das Dokument beinhalte die Warnung, ohne "ein katastrophales und katalysierendes Ereignis - wie ein neues Pearl Harbour" - könne es schwierig werden, öffentliche Unterstützung für militärische Maßnahmen zu gewinnen, die die USA zur "beherrschende Macht von morgen" verwandeln. Mit dem 11. September ist der Regierung nach Meachers Ansicht genau so ein Ereignis in den Schoß gefallen: "Die Anschläge vom 11. 9. erlaubten es den USA, den Startschuss für eine Strategie nach den PNAC-Plänen zu geben, wozu sie sonst niemals in der Lage gewesen wären."
Nachdem Meacher so geschildert hat, aufgrund welcher politischen Motive eine terroristische Provokation auf amerikanischem Boden willkommen war, wirft er wichtige Fragen über die offizielle Reaktion auf die vielfachen Warnungen vor drohenden terroristischen Anschlägen und auf die Anschläge selbst auf. Er dokumentiert jeden seiner Vorwürfe sorgfältig mit klaren Hinweisen auf Berichte, die in anerkannten Medien erschienen sind.
"Erstens ist klar, dass die US-Behörden wenig oder nichts taten, um den Ereignissen vom 11. September zuvorzukommen," schreibt der britische Abgeordnete. "Es ist bekannt, dass mindestens elf Länder die USA vor den Anschlägen vom 11. September warnten. Zwei führende Mossad-Experten wurden im August 2001 nach Washington geschickt, um CIA und FBI auf eine Zelle von 200 Terroristen aufmerksam zu machen, die angeblich eine große Operation vorbereiteten (Daily Telegraph, 16. September 2001). Auf der von ihnen vorgelegten Liste standen die Namen von vier Entführern vom 11. September , von denen keiner verhaftet wurde."
Entgegen den wiederholten Behauptungen der Bush-Regierung, niemand habe jemals den Einsatz entführter Flugzeuge für die Durchführung von Terroranschlägen in Betracht gezogen, zitiert Meacher Geheimdienstberichte von 1996 und 1999, die vor genau einer solchen Bedrohung warnten.
Außerdem wirft er die Frage auf, ob der US-Geheimdienst geheime Verbindungen zu den mutmaßlichen Organisatoren der Entführung unterhalten hätten, die noch auf den Krieg gegen das sowjetgestützte Regime in Afghanistan zurückgingen. "Fünfzehn der Entführer vom 11. September erhielten ihre Visa in Saudi-Arabien", schreibt Meacher. "Michael Springman, der ehemalige Leiter des amerikanischen Visa-Büros in Jeddah, hat erklärt, dass seit 1987 die CIA Visa widerrechtlich an unqualifizierte Bewerber aus dem Nahen Osten abgegeben und diese in die USA gebracht habe, um sie in Verbindung mit Bin Laden für den Afghanistankrieg im Terrorismus auszubilden (BBC, 6. November 2001). Es scheint, als sei diese Operation nach dem Afghanistankrieg für andere Zwecke fortgesetzt worden. Es gibt außerdem Berichte, fünf der Entführer hätten in den neunziger Jahren eine Ausbildung in geheimen US-Militäreinrichtungen erhalten (Newsweek, 15. September 2001)."
Der britische Labour-Politiker weist auf die bekannte Entscheidung des FBI in Washington hin, eine Untersuchung über Zacarias Moussaoui (der heute von US-Staatsanwälten beschuldigt wird, der zwanzigste Entführer gewesen zu sein) zu unterdrücken, obwohl ein örtlicher Agent gewarnt hatte, er gehöre möglicherweise zu einer Verschwörung mit dem Ziel, ein Flugzeug in die Zwillingstürme zu steuern.
Meacher untersucht im Weiteren die unerklärliche Verzögerung, mit der die US-Luftabwehr auf die Entführungen reagierte: "Die erste Entführung wurde nicht später als 8.20 Uhr vermutet, und das letzte entführte Flugzeug zerschellte um 10.06 Uhr in Pennsylvania", schreibt er. "Nicht ein einziges Kampfflugzeug stieg bis 9.38 Uhr, als das dritte Flugzeug ins Pentagon eingeschlagen war, vom US-Luftwaffenstützpunkt Andrews zur Aufklärung auf, obwohl dieser nur zehn Meilen von Washington DC entfernt liegt. Warum nicht? Es gab schon vor dem 11. 9. FAA-Routineabläufe zur Unterbindung von Flugzeugentführungen. Von September 2000 bis Juni 2001 setzten die USA in 67 Fällen Kampfflugzeuge ein, um verdächtige Flugzeuge zu jagen (AP, 13. August 2002). Es ist in den USA gesetzliche Vorschrift, dass, sobald ein Flugzeug erheblich von seiner Flugroute abweicht, Kampfflugzeuge zur Aufklärung eingesetzt werden."
Dies alles führt Meacher dazu, seine Frage zu stellen: Wer befahl dem nationalen US-Sicherheitsapparat, "stillzuhalten"?
Weiter weist er auf ausführliche Beweise für die relative Gleichgültigkeit der USA bei der Verfolgung Osama bin Ladens hin, des angeblich führenden Kopfs der Anschläge vom 11. September, und zitiert einen US-Politiker mit den Worten, dessen Verhaftung könnte zu einem "verfrühten Zusammenbrechen unserer internationalen Bemühungen" führen.
Meacher argumentiert, Washingtons "Krieg gegen den Terrorismus" werde "zum großen Teil als vorgeschobener Vorwand benutzt, um weitergehende strategische geopolitische Ziele der USA zu erreichen".
"In Wirklichkeit kam der 11. September als Vorwand außerordentlich gelegen, um die PNAC-Pläne in die Tat umzusetzen," schreibt er. "Es gibt klare Beweise, dass die Pläne für Militäraktionen gegen Afghanistan und den Irak lange vor dem 11. 9. vorlagen." Er verweist auf einen BBC -Bericht vom 18. September 2001, dass US-Regierungsbeamte Pakistan im Juli 2001 - zwei Monate vor den Terroranschlägen - gewarnt hatten, dass amerikanische "Militäroperationen gegen Afghanistan Mitte Oktober beginnen werden".
Meacher kommentiert: "Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass einige Leute zum Schluss gelangt sind, die USA hätten die Anschläge vom 11. 9. nicht verhindert, um einen Vorwand von unschätzbarem Wert für einen Krieg zu schaffen, der lange im Voraus geplant worden war." Er zieht eine Parallele zwischen der Untätigkeit der Bush-Regierung am 11. September und der Missachtung der Warnungen vor einem drohenden japanischen Angriff auf Pearl Harbor durch Präsident Roosevelt. Dieses Ereignis hatte die Öffentlichkeit derart empört, dass die Regierung ihr Ziel, die USA am Zweiten Weltkrieg zu beteiligen, verwirklichen konnte.
Der ehemalige Umweltminister ist der Ansicht, das wirkliche Motiv für den Afghanistan- wie für den Irakkrieg bestehe darin, die Kontrolle über strategisch wichtige Öl- und Gasquellen in den Regionen des Kaspischen Meers und des Persischen Golfs zu übernehmen.
Er schreibt abschließend: "Die Schlussfolgerung aus dieser ganzen Analyse muss sicherlich sein, dass der globale Krieg gegen Terrorismus alle Kennzeichen eines politischen Mythos hat, der propagiert wird, um den Weg für ganz andere Pläne frei zu machen - das amerikanische Ziel der Weltherrschaft, gestützt auf die gewaltsame Kontrolle über die Ölreserven, die nötig sind, um das ganze Projekt in Gang zu halten. Ist dieser Mythos und die Beteiligung an diesem Projekt als Juniorpartner wirklich das richtige Ziel für die britische Außenpolitik?"
Keine der von Meacher vorgelegten Informationen ist neu; sie wurden nur dem breiten Publikum vorenthalten. Immer erbittertere Spaltungen in den herrschenden Kreisen, sowohl in den USA als auch in Großbritannien, haben sie jetzt an die Oberfläche gebracht.
Der frühere Minister spricht für Teile der britischen herrschenden Elite, die eine Distanzierung der Londoner Politik von der Bush-Regierung befürworten. Sie sind durch die wachsende Katastrophe, mit der die amerikanische Besatzungsmacht im Irak konfrontiert ist, erheblich gestärkt worden, und auch durch die tiefe Krise, in der Blair steckt, der wichtigste Befürworter einer bedingungslosen britischen Unterstützung für die strategischen Ziele der USA.
Die Offenlegung der Fabrikation angeblicher Beweise über irakische Massenvernichtungswaffen durch die Blair-Regierung hat eine Pandorabüchse für die Bush-Regierung geöffnet. Die Entlarvung eines Lügengebäudes hat neue Fragen über die Verschwörungen und Provokationen aufgeworfen, die von der kriminellen Bande im Weißen Haus begangen wurden.
Die Bush-Regierung hat die Tragödie des 11. September ausgebeutet, um zwei Kriege in nur anderthalb Jahren zu rechtfertigen und weitgehende Angriffe auf die demokratischen Rechte und sozialen Bedingungen der amerikanischen Bevölkerung zu führen. Gleichzeitig hat sie jede ernsthafte Untersuchung der Angriffe vom 11. September rücksichtslos unterdrückt. Wie der Meacher-Artikel zeigt, ist die Regierung aufgrund ihrer wachsenden politischen Krise immer weniger fähig, diese Vertuschung weiter aufrechtzuerhalten.