Türkei schickt Truppen in den Irak
Von Justus Leicht
9. Oktober 2003
Das türkische Parlament hat am Dienstag der Regierung grünes Licht für die Entsendung von Truppen in den Irak gegeben. 358 Abgeordnete der regierenden gemäßigt-islamischen AKP stimmten für einen entsprechenden Antrag, 183 Abgeordnete der oppositionellen CHP dagegen.
Der Parlamentsbeschluss gibt Regierungschef Tayyip Erdogan freie Hand, mit den USA über die Umstände, das Ausmaß und die Dauer des türkischen Einsatzes zu verhandeln. Es wird davon ausgegangen, dass bis zu 10.000 Soldaten ein Jahr lang im Zentralirak stationiert werden. Es handelt sich damit um das mit Abstand größte Truppenkontingent aus einem Drittstaat, das die amerikanisch-britische Kriegsallianz im Irak unterstützt, und gleichzeitig um das erste aus einem vorwiegend muslimischen Land.
Vermutungen, die Regierung Erdogan könnte wie schon am 1. März erneut an der eigenen Parlamentsfraktion scheitern, erwiesen sich als grundlos. Damals hatten rund hundert AKP-Abgeordnete gegen die Stationierung amerikanischer Invasionstruppen auf türkischem Boden gestimmt und damit der eigenen Regierung und den Beziehungen zwischen Ankara und Washington einen empfindlichen Dämpfer versetzt.
Es gab zwar auch vor der jüngsten Abstimmung wieder ablehnende Stimmen aus der AKP-Fraktion. So erklärte der Vorsitzende des außenpolitischen Ausschusses des Parlaments, Mehmet Dulger, die USA wollten nur, dass türkische statt amerikanische Soldaten vom irakischen Widerstand getötet würden. Dem könne das Parlament nicht zustimmen. Auch rund zwei Drittel der türkischen Bevölkerung lehnen laut Meinungsumfragen die Entsendung von Truppen ab. Premier Erdogan scheint aber unwiderstehliche Argumente gefunden zu haben, um die widerspenstigen Abgeordneten zu überzeugen.
Obwohl Erdogan das Parlament unter Ausschluss der Öffentlichkeit über den Irakeinsatz debattieren und abstimmen ließ - aus "Angst vor dem türkischen Volk", wie ihm die CHP vorwarf -, ist es ein offenes Geheimnis, dass sich die türkische Regierung für ihre Söldnerdienste bezahlen lässt. Der US-Kongress hat einen Kredit über 8,5 Milliarden Dollar an die Türkei bewilligt, der ausdrücklich an die Bedingung gebunden ist, dass die Türkei die USA im Irak unterstützt. Die türkische Regierung ihrerseits ist dringend auf diesen Kredit angewiesen, will sie nicht einen erneuten Kollaps der türkischen Währung und Wirtschaft riskieren. Der Wirtschaftszusammenbruch von 2001 hatte breite Bevölkerungsschichten ruiniert, und die jetzige Regierung verdankt ihre Unterstützung vorwiegend der Tatsache, dass sich die wirtschaftliche Lage seither etwas stabilisiert hat.
Weiter soll es amerikanische Zusicherungen geben, gegen die schätzungsweise 5.000 Mitglieder der kurdischen Arbeiterpartei PKK/KADEK vorzugehen, die sich im Nordirak aufhalten. Vor allem die Armeeführung hat dies zur Bedingung für einen Irakeinsatz gemacht, für den sie ansonsten offen plädierte. Generalstabschef Hilmi Özkök verglich ihn mit einem Lotteriespiel: wer nichts riskiere, könne auch nichts gewinnen.
Die PKK/KADEK hatte ihren Guerillakrieg gegen den türkischen Staat vor vier Jahren, nach der Verhaftung ihres Führers Abdullah Öcalan, eingestellt und sich in den Nordirak zurückgezogen. Mittlerweile hat sie angeboten, im Falle einer Generalamnestie und kultureller Rechte für die Kurden ihre Waffen abzugeben und dem türkischen Staat zu dienen. Die Türkei ist aber nie darauf eingegangen.
Die USA haben zwar die PKK wie auch deren Nachfolgeorganisation KADEK offiziell als Terrororganisation eingestuft. Bisher sind sie jedoch nicht gegen deren Stützpunkte im Nordirak vorgegangen. Dafür gibt es im Wesentlichen zwei Gründe: Die PKK/KADEK hat nie amerikanische Ziele bedroht und keine Gelegenheit ausgelassen, sich an die USA anzubiedern - ihre Führer begrüßten den Krieg gegen den Irak als ersten Schritt zur Demokratisierung des gesamten Nahen Ostens! Und die amerikanischen Truppen, die kaum in der Lage sind, den irakischen Widerstand effektiv niederzuhalten, hatten wenig Interesse, eine weitere Front zu eröffnen.
Doch nun scheint sich eine Einigung zwischen der Türkei und den USA abzuzeichnen. Nach mehrtägigen Gesprächen erklärten Vertreter der beiden Regierungen, man habe sich auf einen "Aktionsplan" geeinigt, um die "Bedrohung" durch die PKK, so US-Außenminister Powell, zu "eliminieren". Falls notwendig würde dies auch ein militärisches Vorgehen bedeuten, meldete der amerikanische Regierungssender "Voice of America". Schon im September hatte die der türkischen Regierung nahestehende Zeitung Zaman behauptet, die USA würden ab November PKK-Lager mit Kampfflugzeugen angreifen und türkische Truppen flüchtende Guerillakämpfer jenseits der Grenze abfangen.
Ob und wie ein militärisches Vorgehen stattfinden wird, ist gegenwärtig völlig unklar. Klar ist aber, dass es den Kurdenkonflikt wieder aufflammen lassen würde. Führer der PKK haben bereits angedeutet, dass sie, dermaßen in die Enge getrieben, auch vor Angriffen auf zivile Ziele in der Westtürkei nicht zurückschrecken würden.
Während die USA auf den Einsatz türkischer Truppen im Irak drängen, stößt dieser im Irak selbst weitgehend auf Ablehnung. Vor allem die beiden Kurdenparteien KDP und PUK sind vehement dagegen. Beide sitzen im US-hörigen Übergangsrat und gehören zu den loyalsten Stützen der amerikanischen Besatzungsmacht.
In dem von KDP und PUK dominierten Nordirak ist die Sicherheitslage bisher im Vergleich zum übrigen Irak noch relativ stabil. Dies könnte sich jedoch schnell ändern, wenn türkische Truppen einmarschieren. Die Türkei hat wiederholt gedroht, die Entstehung eines unabhängigen Kurdenstaates im Nordirak notfalls mit militärischer Gewalt zu verhindern, und gebärdet sich als Schutzmacht der turkmenischen Minderheit in der Region. Die jetzt vorgesehene türkische Präsenz soll sich zwar auf den sunnitischen Zentralirak konzentrieren, sie würde sich jedoch zumindest teilweise auch auf den Norden erstrecken müssen, schon allein um Nachschub und Versorgung sicherzustellen.
Der "Außenminister" des Übergangsrates, der KDP-Funktionär Hoshyar Zabari, lehnte denn auch jedweden Einsatz türkischer Truppen ab. Auch der Vorsitzende des Rates, Ahmed Tschalabi, ein treuer Gefolgsmann des Pentagon, sprach sich gegen die Entsendung der türkischen Armee aus. "Wir brauchen weniger fremde Truppen, nicht noch mehr", erklärte er.
Weniger diplomatisch formuliert: Die türkische Armee würde von der irakischen Bevölkerung zurecht als Hilfstruppe der amerikanisch-britischen Besatzungsmacht angesehen. Außerdem verbinden nicht wenige Einwohner des Irak die Türkei mit dem früheren Osmanischen Reich, dessen Sultane den heutigen Irak bis zum Ersten Weltkrieg unter der Knute hielten. Ausgerechnet der türkische Außenminister Abdullah Gül nährte die damit verbundenen Ängste, als er - um für eine türkische Truppenentsendung zu werben - erklärte: "Wir haben diese Region Jahrhunderte lang beherrscht."