Editorial der Zeitschrift gleichheit
Paris, Berlin und der Krieg gegen den Irak
Von Peter Schwarz
11. März 2003
In dieser Woche erscheint die März-April-Ausgabe der Zeitschrift "gleichheit". Wir dokumentieren hier das Editorial.
Während diese Ausgabe der gleichheit in Druck geht, haben die amerikanischen Kriegsvorbereitungen gegen den Irak den Punkt überschritten, an dem es noch ein Zurück gibt. Die Verlautbarungen aus dem Weißen Haus lassen keinen Zweifel daran, dass die Bush-Administration unter allen Umständen zum Krieg entschlossen ist.
In den vergangenen Wochen ist immer deutlicher geworden, dass die angeblichen Massenvernichtungswaffen des Irak, die UN-Inspektionen und die Debatten im Sicherheitsrat lediglich den Vorwand für einen Krieg liefern sollen, der ganz andere Ziele verfolgt - die Besitznahme der irakischen Ölfelder, die Neuordnung der gesamten Nahost-Region unter amerikanischer Vorherrschaft und die Festigung der Hegemonie der USA gegenüber ihren Rivalen in Europa und Asien.
Die europäischen Regierungen sind widerstrebend zur Einsicht gelangt, dass sie einem offenen Konflikt mit den USA über die zukünftige Richtung der Weltpolitik nicht mehr ausweichen können. Während der Brite Blair und der Spanier Aznar ihr Schicksal mit der transatlantischen Großmacht verbinden, hat sich die Haltung Frankreichs und Deutschlands zunehmend verhärtet. Von diplomatischen Manövern, die ihr Mitspracherecht bei einer Neuordnung des Nahen Osten sichern sollten, sind sie zu Gegeninitiativen und zum Aufbau eigener Allianzen übergegangen. Der Begriff "Achse", der lange Zeit nur noch in Geschichtsbüchern zu finden war, ist wieder Bestandteil des offiziellen politischen Vokabulars geworden - diesmal zur Bezeichnung der Achse Paris-Berlin-Moskau.
Das einseitige und rücksichtslose Vorgehen Washingtons hat die Regierungen in diesen Hauptstädten veranlasst, deutlicher als ursprünglich beabsichtigt gegen die Kriegspläne der Bush-Administration Stellung zu beziehen. Das geschieht allerdings ausschließlich vom Standpunkt der eigenen globalen Interessen. Sie haben nichts dagegen einzuwenden, dass die Souveränität des Irak mit Füssen getreten wird - wie ihr Beharren auf einem strikten Inspektionsregime zeigt. Ebenso wenig sind sie gegen eine Neuordnung der Region unter dem Diktat der Großmächte oder grundsätzlich gegen den Einsatz militärischer Gewalt - wie schon ihre Teilnahme am Jugoslawienkrieg deutlich machte.
Offenkundig wird der Hintergrund ihrer Haltung, wenn man ihre Innenpolitik betrachtet. Beim Abbau demokratischer Grundrechte und der Aufrüstung des staatlichen Repressionsapparats stehen Paris und Berlin Washington in nichts nach. Beide Regierungen bereiten gegenwärtig die umfassendsten sozialen Angriffe seit dem Ende des zweiten Weltkriegs vor. Arbeitnehmerrechte sowie Gesundheits- und Altersversorgung stehen unter intensivem Beschuss. Sie reagieren damit einerseits auf den globalen Konkurrenzkampf, den sie auf dem Rücken der Arbeiterklasse ausfechten. Das außenpolitische Zerwürfnis über den Irak wird auch das Klima der Weltwirtschaft rauer werden lassen. Schon jetzt sind in der amerikanischen Presse Rufe nach einem Wirtschaftsboykott gegen die widerspenstigen Franzosen zu vernehmen.
Andererseits soll das weitere Anziehen der Sparschraube Mittel für die eigene militärische Aufrüstung frei machen. Frankreich hat den Militärhaushalt schon in diesem Jahr drastisch erhöht. Deutschland baut die Bundeswehr zu einer internationalen Interventionsstreitmacht um. Die Aussage des sozialdemokratischen Verteidigungsministers Peter Struck, Deutschland werde am Hindukusch verteidigt, hätte noch vor kurzem einen Aufschrei der Empörung ausgelöst. Jetzt herrscht darüber im rot-grünen Regierungslager weitgehendes Einvernehmen.
Die Weigerung der USA, die hergebrachten internationalen Institutionen und Regeln zu respektieren, ist in der deutschen Presse sorgfältig registriert worden. Die Süddeutsche Zeitung sieht das Ende des "kollektiven Sicherheitssystems, erbaut auf den Trümmern des Völkerbunds und gespeist aus der Kraft eines stetig wachsenden Völkerrechts", sollten die USA den Irak im Alleingang angreifen. Und die sonst eher zurückhaltende Zeit bescheinigt der "Hypermacht USA" in ihrem jüngsten Leitartikel eine "moralisch inspirierte Hegemonialpolitik". "Hat der Krieg gegen den Irak erst begonnen", schreibt Mitherausgeber Michael Naumann, "zieht sich durch die alte Weltordnung, die zumal Europa einen mehr als fünfzigjährigen Frieden unter amerikanischem Schutz beschert hat, ein tiefer Riss."
Andere Presseorgane plädieren angesichts dieser Entwicklung offen für eine Politik der militärischen Stärke. "Ohne militärische Stärke keine überzeugende Abschreckung. Und ohne Abschreckung kein Respekt bei den Vereinigten Staaten", schreibt das Handelsblatt. "Europa muss sich zu einer Politik der Stärke bekennen, um das seit dem Ende des Kalten Krieges herrschende Ungleichgewicht der Kräfte zu beenden."
Vor diesem Hintergrund wird offensichtlich, weshalb sich die Bewegung gegen den Krieg nicht auf die deutsche oder die französische Regierung stützen kann. Sie würde sich damit zum Komplizen des europäischen Militarismus machen, der in Berlin und Paris systematisch gefördert wird. Sie würde sich von der Masse der Bevölkerung abschneiden, die die Kosten für den Militarismus und die soziale Krise bezahlen muss. Und sie würde mithelfen, eine Spirale der Aufrüstung in Gang zu setzen, die zu noch schrecklicheren Kriegen - bis hin zu einer Konfrontation zwischen den Großmächten - führen wird.
Die Bewegung gegen den Irakkrieg muss unabhängig von allen bürgerlichen Institutionen organisiert werden - seien es die europäischen Regierungen oder die Vereinten Nationen. Sie muss sich über alle nationalen Grenzen hinweg an die arbeitende Bevölkerung wenden, indem sie die soziale Frage mit der Kriegsfrage verbindet.
Die Massendemonstrationen vom 15. Februar kennzeichnen in dieser Hinsicht einen historischen Wendepunkt. Millionen Menschen protestierten rund um die Welt, einschließlich der USA selbst, gegen den Krieg. Das Ausmaß der Kundgebungen - vielerorts der größten seit einem halben Jahrhundert - überraschte selbst die Organisatoren. Die New York Times stellte erstaunt fest, "dass es am Ende vielleicht doch noch zwei Supermächte auf der Welt gibt: die Vereinigten Staaten und die Weltöffentlichkeit".
In den Kundgebungen äußerte sich eine gesellschaftliche Gegenmacht, die sich seit Jahren angestaut hat, ohne einen politischen Ausdruck zu finden. Die Entfremdung breiter Bevölkerungsschichten von der offiziellen Politik hat sich bisher vorwiegend passiv bemerkbar gemacht - durch niedrige Wahlbeteiligung und politisches Desinteresse. Nun haben erstmals seit langem wieder Millionen aktiv ins politische Geschehen eingegriffen.
Die massive Beteiligung an den Kundgebungen innerhalb der USA selbst hat eine wichtige Tatsache ans Licht gebracht: Die Bush-Administration handelt nicht aus einer Position der Stärke, sondern der Schwäche und der inneren Krise. Mit ihrer aggressiven Außenpolitik reagiert sie auf innenpolitische Probleme, auf die sie keine Antwort weiß - auf die dramatische Polarisierung der amerikanischen Gesellschaft, den Niedergang des Lebensstandards breiter Bevölkerungsschichten und die gewaltigen Defizite der Wirtschaft und des Staatshaushalts.
George W. Bush, der sein Amt einer gestohlenen Wahl verdankt, verfügt über eine äußerst schmale soziale Basis. Er vertritt die Geldoligarchie, die sich in den neunziger Jahren maßlos bereichert hat und dabei - wie im Fall Enron - mit kriminellen Methoden vorging. Er verkörpert die Unterwelt an der Macht. Er kann sich halten, weil die Demokratische Partei, die sich auf dieselbe superreiche Oberschicht stützt, jegliche Opposition aufgegeben hat und die Massenmedien jede abweichende Meinung ausblenden. Angesichts des allgemeinen gesellschaftlichen Niedergangs greift er zum Militär, dem einzigen Gebiet, auf dem die USA noch überlegen sind. Das erklärt sein aggressives, rücksichtsloses und unverantwortliches Vorgehen.
Die soziale Polarisierung in den USA erklärt aber nicht nur Bushs Politik, sondern liefert auch den Schlüssel zu ihrer Überwindung. Die amerikanische Arbeiterklasse - die Millionen Arbeiter und Angestellten, die in Fabriken, Dienstleistungsbetrieben, Schulen und Behörden mühsam ihr Leben fristen - bildet einen mächtigen gesellschaftlichen Faktor, der allerdings im Gegensatz zu den Privilegierten an der Spitze der Gesellschaft weder über eine politische Organisation noch über eine Perspektive verfügt.
An seiner Mobilisierung können die europäischen Regierungen wenig Interesse haben, bleibt ihnen doch unvergessen, dass es die USA waren, die sie nach dem zweiten Weltkrieg vor revolutionären gesellschaftlichen Erschütterungen bewahrten. Das erklärt, weshalb sich die europäischen Konservativen - einschließlich der Union in Deutschland - mehrheitlich an die Seite Bushs stellen. Sie halten eine gesellschaftliche Erschütterung in den USA für riskanter als Bushs unilaterale Politik, würde erstere doch unvermeidlich auf Europa übergreifen. Auch die offizielle europäische "Linke" - wie die SPD und die Grünen in Deutschland - stellen die Legitimität der Bush-Administration nicht in Frage und vermeiden jeden Appell an die breitere Bevölkerung in den USA.
Die World Socialist Web Site verfolgt das Ziel, der Massenbewegung gegen den Krieg, die am 15. Februar sichtbar wurde, eine politische Orientierung zu geben und sie zur Grundlage für eine Aufbau einer internationalen, sozialistischen Arbeiterpartei zu machen. Diese Ausgabe widmet sich vorwiegend diesem Thema. Wir haben sie der Übersichtlichkeit halber in drei Teile gegliedert: Der erste enthält Berichte und Analysen über die aktuelle Entwicklung zum Krieg, der zweite programmatische und politische Stellungnahmen der WSWS-Redaktion, und der dritte Reportagen über die Demonstrationen in zahlreichen Städten.