China und die SARS-Epidemie
Vertuschung und extreme Armut
Von Andreas Reiss
8. Mai 2003
Die neuartige Epidemie des "Schweren Akuten Atemwegssyndroms" (SARS) scheint sich weiterhin ungebremst auszubreiten. Weltweit wurden bis zum 27. April durch die Weltgesundheitsorganisation WHO 4836 Infizierte festgestellt, über 293 sind an der Erkrankung gestorben. Es gibt jedoch keinen Grund zu der Annahme, dass diese Zahlen etwas Endgültiges an sich hätten. Im Gegenteil ist auch Experten völlig unklar, welche Ausmaße die Epidemie noch annehmen wird.
Das SARS-Syndrom tritt derzeit weltweit auf, sowohl in Europa als auch in Nordamerika, dort vor allem in Kanada; auch Australien ist betroffen. Der überwiegenden Mehrheit der Erkrankten ist gemeinsam, dass sie sich vor kurzer Zeit in China oder Hongkong aufhielten, wo sie sich dann mit dem Virus infizierten.
Als Schwerpunkt der Krankheit kristallisiert sich nach Hongkong immer deutlicher ganz China heraus, wo sich allein am vorletzten Wochenende über 300 Menschen neu mit dem SARS-Virus infizierten. Am schwersten betroffen ist derzeit die Hauptstadt Peking, doch stellt eine Verbreitung über das gesamte Land derzeit die schwerste Befürchtung vieler Ärzte und Wissenschaftler dar. Am Donnerstag, dem 24. April wurde die Zahl der insgesamt in China Infizierten mit 2422 angegeben, von denen bislang 110 gestorben seien. Auf Peking entfallen hiervon nach letzten Angaben 774 Erkrankte und 39 Tote. Das zweite wichtige Verbreitungsgebiet der Seuche ist die südchinesische Provinz Guangdong, in der vermutlich auch der eigentliche Ursprung des neuartigen Virus zu suchen ist. Um die 90 Prozent der bislang gemeldeten Kranken sollen aus dieser Region kommen.
Bei dem bislang unbekannten, vermutlich in jüngerer Zeit neu entstandenen SARS-Virus handelt es sich, wie DNA-Analysen ergaben, um einen Vertreter der sog. Coronaviren. Die bislang bekannten Vertreter dieses Virustyps verursachen leichte Erkältungs- oder Durchfallkrankheiten; allenfalls bei Säuglingen, Kleinkindern oder Patienten mit stark geschwächtem Immunsystem wurden schwerere Verläufe beobachtet.
Das SARS-Virus hingegen ruft schwere Lungenentzündungen hervor, die bislang in ca. 5 Prozent der Fälle tödlich verliefen. Die tatsächliche Sterblichkeit der Erkrankung jedoch könnte noch weit höher liegen - eine britische Studie des weltweit angesehenen Imperial College London geht von 8-15 Prozent aus.
Eine weitere Gefahr stellt die Ausbreitung der Krankheit in andere bevölkerungsreiche Entwicklungsländer dar. Die Chefin der WHO, Gro Harlem Brundtland erklärte am Wochenende: "Wenn dieser Ausbruch sich auf die armen Regionen Afrikas ausbreitet, sind wir wirklich in Schwierigkeiten."
Vertuschung in kriminellem Ausmaß
Auf internationale Kritik war die Öffentlichkeitspolitik der verantwortlichen chinesischen Führungsetagen gestoßen. Seit November letzten Jahres breitete sich SARS aus, wohl spätestens im Januar wurde den Gesundheitsbehörden in Guangdong klar, dass es sich um eine neuartige und in vielen Fällen lebensbedrohliche Krankheit handelte. Ende Januar ergingen die ersten Warnungen an die chinesische Regierung. Doch diese weigerte sich monatelang, in ihren offiziellen Verlautbarungen auch nur der Wahrheit nahe zu kommen.
Zunächst wurde überhaupt nicht über das Auftreten einer bis dahin unbekannten Krankheit gesprochen. Dann wurden die tatsächlichen Zahlen für etliche weitere Wochen hemmungslos untertrieben. Experten der Weltgesundheitsorganisation WHO wurde der Zugang zu Krankenhäusern und Labors verwehrt. Schließlich kamen durch Ärzte der Hauptstadt Peking, aber auch einzelne Militärärzte aus der Provinz erste Erkenntnisse über das wahre Ausmaß der Epidemie ans Tageslicht. Nach heftiger Kritik der WHO schlug die chinesische Führung seit dem 20. April eine Kehrtwende ein: Innerhalb von zwei Tagen verdreizehnfachte sich die Zahl der offiziell zugegebenen Fälle.
Nach altbekanntem Muster bemühte man sich auch, die Verantwortung für derartige Unterlassungen und Behinderungen auf Einzelpersonen abzuwälzen: So wurden eiligst Gesundheitsminister Zhang Wenkang und Pekings Bürgermeister Meng Xuenong ihrer Ämter enthoben und in der staatlichen Presse "schwerer Fehler" bezichtigt. Dass derartige Bauernopfer lediglich vom Versagen ganzer Führungsetagen ablenken sollen, kann kaum ernsthaft bezweifelt werden.
Doch kann man nicht einfach von Unfähigkeit oder Versagen sprechen. Es gibt wohl verschiedene Gründe für diese Verschleierungspolitik. Die chinesische Führung selbst gab an, "Panik verhindern" zu wollen - zunächst während der Neujahrsfeiern, die in der ersten Februarwoche stattfanden. Am 5. März dann erkrankte der erste Patient in Peking - es war der Tag, an dem der alljährliche Nationale Volkskongress beginnen sollte. Die Berliner Zeitung schrieb hierzu am 25. April: "Und diese wichtigste alljährliche Jubelveranstaltung der Kommunistischen Partei durfte nicht platzen. Man verlegte den infizierten Patienten in eine andere Klinik, wo er zehn Mitarbeiter des medizinischen Personals ansteckte und dann starb. Zugleich befahl das Gesundheitsministerium das Verschweigen der Krankheit für die Zeit des Kongresses."
Auch die Angst vor einem Vertrauensverlust in das "Wirtschaftswunderland" China spiele sicher hinein, so der Artikel. Er weist jedoch auf einen weiteren Umstand hin: "Das chinesische Krankenversicherungssystem befindet sich im Umbruch. Ein böses Gerücht in der Hauptstadt besagt, dass SARS bisher vor allem alte Menschen und Kinder tötet, weil eben diese Gruppen häufig nicht ausreichend krankenversichert sind." Eine SARS-Behandlung kostet in China umgerechnet 22.000 Euro. "Übersetzt auf die finanziellen Möglichkeiten eines chinesischen Durchschnittsbürgers bedeutet dies den wirtschaftlichen Ruin seines ganzen Familienverbandes." Eine Krankheit wie SARS wirft so ein Schlaglicht auf die tatsächlichen Verhältnisse im chinesischen Gesundheitssystem.
Inzwischen liefen Maßnahmen zur Vermeidung einer weiteren Ausbreitung der Epidemie an. So wurden Schulen und Universitäten geschlossen, drei Krankenhauskomplexe zur Sperrzone erklärt, mehr als 4000 Menschen unter Quarantäne gestellt und nahe Peking eine Isolierstation für ca. 1000 Erkrankte errichtet. Die Ferienwoche um den ersten Mai wurde auf drei Tage verkürzt.
Die neu eingesetzte Gesundheitsministerin Wu Yi erließ weitere, zum Teil drastische Maßnahmen: Sämtliche Vergnügungsstätten wurden auf unbestimmte Zeit geschlossen. Von Reisen in andere Provinzen wird "abgeraten", das gilt vor allem auch für die rund hundert Millionen chinesischen Wanderarbeiter - meist ehemals in der Landwirtschaft Beschäftigte, die nun auf der Suche nach Arbeit durch die industriereichen Gebete Chinas ziehen. Die ernste Befürchtung hinter diesen Maßnahmen ist die Verbreitung der Krankheit auch in entlegenen ländlichen Gebieten, wo sie aufgrund der dort vorherrschenden gesundheitlichen Bedingungen möglicherweise völlig außer Kontrolle geraten würde.
Doch gerade durch ihre Politik der Verschleierung und Desinformation schufen die Behörden die Voraussetzungen für ein Anwachsen der Epidemie und den Nährboden für Gerüchte über ihr Ausmaß. Die Flucht vieler verängstigter Menschen, hinaus aus den Städten aufs vermeintlich sichere Land, wird sich somit nur schwerlich verhindern lassen.
Stichwort "Wirtschaftswunderland"
Die Angst vor einem "Vertrauensverlust" in den Wirtschaftsstandort China könnte der herrschenden Elite tatsächlich einen gehörigen Schrecken einjagen. Schließlich ist gerade Guangdong, die Provinz, die das SARS-Virus hervorbrachte, ein Musterbeispiel für das sogenannte chinesische "Wirtschaftswunder". Sie illustriert aber auch anschaulich das Massenelend, das durch die Öffnung der Region für internationales Kapital und die Gesetze des "freien Marktes" geschaffen wurde.
Da die Preise für landwirtschaftliche Erzeugnisse seit Einführung der Elemente des "freien Marktes" um 23 Prozent fielen, erfuhr die Provinz einen enormen Bevölkerungszuwachs aus ländlichen Gebieten. Diese Masse an billigen Arbeitskräften steht den sich hier ansiedelnden transnationalen Konzernen zur freien Verfügung. Heute werden von dort aus beispielsweise 40 Prozent der Weltproduktion von Mikrowellenherden exportiert. Die Löhne sind billig, der Durchschnitt beträgt 60 Cent pro Stunde, wird jedoch auch oft bei weitem unterschritten.
Die Zeit schreibt: "Inmitten feuchter Sumpfgebiete, in denen sich Wasserbüffel an Bananenstauden scheuern, stehen hier die Werkbänke des Weltkapitals - nach außen hin abgezäunte, innen blank gefegte, vom Geruch von Desinfektionsmitteln erfüllte Fabrikhallen für alle denkbaren Produkte der modernen Warengesellschaft. Ob Textilien für Adidas oder Lederwaren für Gucci - Guangdong dient allen als Zulieferfabrik. Ob Computer-, Handy- oder Elektronikhersteller - alle benötigen die Arbeitskraft des neuen Wanderproletariats der Volksrepublik, das an der Landstraße (von Guangzhou) nach Heyuan seine Zelte aufgeschlagen hat." Die Arbeiter bekommen Stundenlöhne von 30-50 Cent. In den Baracken, in denen sie leben, ist "die Luft modrig und feucht, die Wände sind mit Moos bedeckt, es gibt drei Wasserhähne für 300 Arbeiterinnen und zwei Plumpsklos".
Eine Seite ist, dass derartige hygienische Bedingungen immer die Basis für sich rasch verbreitende Epidemien liefern. Die Tatsache, dass ungeheuer viele Menschen auf sehr wenig Raum zusammenleben, trug auch in Hongkong zur Verbreitung von SARS bei, wo ein gesamter Wohnblock evakuiert werden musste. Vermutlich durch Kakerlaken hatte sich dort das Virus rasch von Wohnung zu Wohnung verbreiten können.
Die andere Seite ist das extrem enge Zusammenleben von Mensch und Tier in den neuen südchinesischen Ballungszentren. Auf den zahlreichen Straßenmärkten, aber auch in häuslichen Tierzuchten, die einen Teil des Lebensunterhaltes sichern helfen, kann der Austausch von Genen zwischen verschiedenen Virustypen leicht vonstatten gehen. Auch dass in Südchina nach Aussage eines Kommentators "alles gegessen wird, was Muskeln und Schleimhäute hat", trägt dazu bei, dass es zwischen tierischen und menschlichen Viren zur Rekombination kommen kann.
Bekannt ist dieser Effekt seit langem von der Influenza, der klassischen Virusgrippe - die "Hongkong-Grippe" konnte 1996 nur durch die millionenfache Schlachtung von Hühnern aufgehalten werden. Sie war durch den Austausch und die Neukombination von Genmaterial zwischen menschlichen und tierischen Grippeviren zustande gekommen. Virologen erwarten seit Jahren das Auftreten eines extrem aggressiven neuen Grippevirus. Dass er aus der Region Südostasien kommen wird, gilt als sehr wahrscheinlich. Ursache für die Gefährlichkeit der Region ist eben das zusammengepferchte Leben von Menschen, Schlangen, Geflügelarten, Schweinen, Hamstern - und was noch alles gezüchtet und verkauft werden kann.
Mit SARS ist dieser Effekt wohl erneut eingetreten, diesmal nicht bei Grippe-, sondern eben Coronaviren. Das Auftreten der Krankheit kann somit nicht einfach als mysteriöses oder zufälliges Unglück abgetan werden. Eine detaillierte Untersuchung über Herkunft und Verbreitung einer Epidemie muss immer die Umstände berücksichtigen, die ihre Entwicklung begleiteten. Von ihrem Ursprung an war die SARS-Epidemie verbunden mit den sozialen Verhältnissen, in denen ihr Virus entstand und die Krankheit ausbrechen und sich verbreiten konnte. Auch vor Aufdeckung dieser Zustände schreckte die chinesische Elite zurück, als sie Ausmaß und Entstehung der Krankheit vertuschen wollte.