SARS - Wissenschaft und Soziologie
Teil 1: Viren und der Ursprung des gegenwärtigen Ausbruchs
Von Joseph Kay
22. Mai 2003
aus dem Englischen (12. Mai 2003)
Das Auftreten des neuartigen Virus, das für das Schwere Akute Atemwegssyndrom (SARS) verantwortlich ist, wirft eine Reihe von wissenschaftlichen, medizinischen und sozialen Fragen auf. Dank der schnellen Maßnahmen und der gemeinsamen Anstrengungen eines internationalen Wissenschaftlerteams konnte das Virus einigermaßen in Schach gehalten werden. Dennoch wurden über 7.000 Menschen weltweit infiziert, mehr als 500 starben. In China stellt das Virus ein enormes Gesundheitsrisiko dar, und immer noch besteht die Möglichkeit einer internationalen Epidemie mit verheerenden Folgen.
Der folgende ist der erste von zwei Artikeln über Wissenschaft und Soziologie von SARS. Darin werden Teile der wissenschaftlichen und soziologischen Hintergründe erklärt, die zum Verständnis des derzeitigen Ausbruchs notwendig sind. Der zweite Artikel wird die soziale Bedeutung der Maßnahmen zur Eindämmung von SARS behandeln und dazu beitragen, seine Ursachen zu verstehen.
Viren und Virologie
Man weiß heute, dass SARS eine Virusinfektion darstellt, vermutlich tierischen Ursprungs. Um die besondere Natur von SARS zu verstehen, muss man zunächst verstehen, wie sich Viren verbreiten und welche Anstrengungen in der Vergangenheit unternommen wurden, um ihre Verbreitung aufzuhalten.
Viren haben eine einfache Struktur. Sie besteht aus dem genetischen Material (DNA oder RNA), einer Proteinhülle und, in einigen Fällen, einer zusätzlichen Membran. Noch heute ist es eine offene Frage, ob Viren als Lebewesen bezeichnet werden sollten oder nicht. Im Gegensatz zu Bakterien - wie E. coli und die verschiedenen Bakterien, die Typhus, Tuberkulose und zahlreiche andere Erkrankungen verursachen - sind Viren keine Zellen und besitzen nicht die chemische Ausstattung, um selbst ihren Lebensprozess aufrecht zu erhalten. Sie können sich daher nicht unabhängig von ihrem Wirt vermehren.
Viren sind also grundsätzlich von parasitärer Natur. Sie reproduzieren sich, indem sie eine pflanzliche oder tierische Wirtszelle befallen. Die zelleigenen Mechanismen werden dann benutzt, um das Genmaterial zu vervielfältigen und neue Viren zu produzieren, die daraufhin weitere Zellen befallen. Im Allgemeinen tötet dieser Prozess die Wirtszelle oder verletzt sie zumindest, was milde oder schwere Konsequenzen für den Wirtsorganismus haben kann. Eine gewöhnliche Erkältung ist normalerweise eine Virusinfektion. Die Symptome der Infektion - wie Husten oder Gliederschmerzen - entstehen, wenn das Virus Zellen verschiedener Körperregionen befällt.
Um eine Zelle zu befallen, muss ein Virus zunächst deren schützende Membran überwinden, die für jeden Zelltyp spezifisch ist. Im Wesentlichen löst das Virus diese Aufgabe, indem es sich äußerlich als Protein ausgibt, das von der Zelle und den molekularen Rezeptoren auf ihrer Membran angenommen wird. Auf diese Weise greifen verschiedene Viren verschiedene Zellen an, indem sie verschiedene Proteine nachahmen. Das Ebolavirus beispielsweise greift besonders diejenigen Zellen an, die Blutgefäße auskleiden. So verursacht es katastrophale, oft tödliche Blutungen.
Da Viren nicht unabhängig von ihrem Wirt bestehen können, werden sie in der Regel durch direkten Kontakt oder den Austausch von Körperflüssigkeiten übertragen, die das Virus enthalten. Beispielsweise werden durch Tröpfchen, die beim Husten ausgestoßen werden, Masern, die Hühnerpocken oder auch SARS verbreitet; über mit Stuhlresten verunreinigtes Wasser verbreitet sich das Rotavirus, das arme Regionen mit niedrigen sanitären Standards heimsucht; durch Geschlechtsverkehr oder Bluttransfusionen kann das Aids-Virus HIV verbreitet werden.
Der menschliche Körper schützt sich mit Hilfe des Immunsystems vor Viren. Doch um ein Virus anzugreifen, muss das Immunsystem es zunächst als Fremdkörper erkennen. Diese Erkennung wird nur für eine bestimmte Anzahl von Viren erreicht, darunter diejenigen, die den Wirtsorganismus bereits zu einem früheren Zeitpunkt infiziert hatten. Gebräuchliche Impfstoffe wirken auf diese Weise, indem sie eine kleine Anzahl oder eine abgeschwächte Variante des betreffenden Virus in den Körper einschleusen. So veranlassen sie eine Immunität des Wirtes und verhindern spätere Infektionen.
Ihre Spezialisierung bedingt, dass viele Viren in der Regel einer bestimmten Wirtsspezies zugeordnet bleiben. Dennoch geschieht es zuweilen, dass ein Virus von einer Spezies zu einer anderen wechselt. Man nimmt an, dass HIV seinen Ursprung in Primaten hatte, der Ausbruch eines Hantavirus in den USA 1993 ging auf Mäuse zurück. Wenn Menschen in engere Berührung mit der Natur kommen, steigt das Risiko eines derartigen Austausches, besonders unter Bedingungen der Unhygiene und der Übervölkerung.
Die moderne Virologie entwickelte sich in den ersten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts, wie überhaupt das wissenschaftliche Verständnis von Viren im Unterschied zu Bakterien und anderen Krankheitserregern. Da sie sehr klein sind, wurde es erst mit der Erfindung des Elektronenmikroskops 1938 möglich, die Viren selbst zu beobachten. Diese Erfindung wiederum wurde erst ermöglicht durch die Entwicklung der Quantenphysik in den 20er Jahren. Nachdem in den 50er Jahren die Struktur der DNA entdeckt wurde, begannen Wissenschaftler, die physische Struktur und die Vermehrung der Viren zu verstehen.
Diese wissenschaftlichen Fortschritte erbrachten eine bedeutende Stärkung der menschlichen Fähigkeit, virale Epidemien einzudämmen. Dies zeigt sich zum Beispiel am fortdauernden Kampf gegen die Influenza, die eine der verbreitetsten viralen Infektionen ist. Grippewellen kommen jedes Jahr vor, Epidemien treten in etwa alle zehn Jahre auf. Diese Grippeepidemien können Hunderttausende von Toten kosten - Pandemien, die wesentlich weniger häufig auftreten, können wahre Verwüstungen anrichten.
Grippewellen treten deshalb wiederholt auf, weil die Viren andauernd mutieren und so die Immunität umgehen, die sich andernfalls nach einer Infektion entwickeln würde. Die Pandemie der so genannten "Spanischen Grippe" brach nach dem ersten Weltkrieg 1918 aus. Damals wurde die halbe Weltbevölkerung infiziert, jeder zwanzigste der Infizierten starb, insgesamt über 25 Millionen Menschen. Die "Asiatische Grippe" 1956 und die "Hongkong Grippe" 1968 brachten zusammen 4,5 Millionen Menschen um.
Zwar steht eine Grippeimpfung zur Verfügung, doch sie muss ständig aktualisiert werden, um mit der Mutation des Virus Schritt zu halten. Die Weltgesundheitsorganisation WHO koordiniert internationale Bemühungen, die Entwicklung des Virus nachzuvollziehen und neue Impfstoffe zu fabrizieren, die dann vor jeder Grippesaison zur Verfügung gestellt werden. Diese Bemühungen halfen, das Grippevirus einzudämmen, und durch die Erfahrung mit der Grippe zeigten sich Wissenschaftler der Gefahr durch SARS gewachsen.
Eine weitere große Errungenschaft von Virusforschung und internationaler Zusammenarbeit während der letzten fünfzig Jahre war de Ausrottung des Pockenvirus - einer der bedeutendsten Gesundheitsbedrohungen der jüngeren menschlichen Geschichte. Allein während des zwanzigsten Jahrhunderts wurden durch die Pocken um die 300 Millionen Menschen getötet. Pockenimpfungen, erstmals Ende des achtzehnten Jahrhunderts entwickelt, wurden seit 1966 von der WHO im internationalen Rahmen durchgeführt. Im Laufe von 15 Jahren führten die intensiven Anstrengungen zur Ausrottung des Pockenvirus 1980.
Der Charakter des SARS-Virus
Die Geschichte der Viren zeigt die Gefahr durch neue Stämme auf, für die weder Immunität noch Impfstoffe existieren. Während des letzten Jahrzehnts wuchsen einige derartige Bedrohungen heran, die tödlichste von ihnen ist HIV. Über 13 Millionen Menschen starben an AIDS, und noch weit mehr sind derzeit mit HIV infiziert. Das Virus hat besonders in den unterentwickelten Ländern Afrikas und Asiens Verwüstungen angerichtet, sich jedoch bis in jedes Land der Erde ausgebreitet.
Wie der Fall von Aids demonstriert, wächst durch das globale Zusammenwachsen der Menschheit auch die Fähigkeit von Viren, große Abstände zu überwinden. Dasselbe gilt für SARS, das seinen Ursprung vermutlich in bäuerlichen Gebieten Chinas nahm und auf diese auch einige Monate begrenzt blieb. Doch nachdem es in das Geschäftszentrum Hongkong gelangt war, stellte es schnell eine globale Bedrohung dar und veranlasste die WHO zu einer weltweiten Gesundheitswarnung.
Jede Viruserkrankung hat eine bestimmte Inkubationszeit, einen Zeitraum zwischen der Aufnahme des Virus und dem Auftreten von Symptomen. Für SARS liegt sie zwischen zwei und zehn Tagen. Diese relativ lange Inkubationszeit erlaubt es Infizierten, zu reisen und andere Menschen anzustecken - ohne dass sie selbst wissen, dass sie infiziert sind. Dies erleichtert die weltweite Verbreitung. Ein Virus wie Ebola ist weitaus häufiger tödlich; doch bei den Infizierten schreitet die Erkrankung so rasch voran, dass das Virus selten an andere Menschen weitergegeben wird.
Die SARS-Erkrankung führt zu Fieber, Kopfschmerzen und Müdigkeit, im Allgemeinen gefolgt von trockenem Husten und Atemschwierigkeiten. Einer gewissen Prozentzahl der Patienten wird die eigene Atmung unmöglich, sie müssen künstlich beatmet werden. Ungefähr 15 Prozent der SARS-Patienten sterben an der Erkrankung, wobei diese Zahl während der letzten Wochen schnell anstieg, da ältere Fälle erst jetzt tödlich endeten.
Man weiß heute, dass SARS eine Infektion durch einen neuen Stamm der Coronaviren ist, einer Gruppe von membranumhüllten RNA-Viren. Coronaviren sind die größten RNA-Viren, ihr Genom besteht aus etwa 30.000 Nukleotiden (Bausteine von DNA und RNA).
Im Allgemeinen sind Coronaviren mit milden Infektionen der oberen Atemwege assoziiert, gewöhnlichen Erkältungen also. Bei Patienten mit geschwächtem Immunsystem können sie Lungenentzündungen hervorrufen. Der SARS-Stamm ist weitaus virulenter, was Wissenschaftler zu der Vermutung veranlasste, dass der Ursprung des Virus bei Tieren lag, bei denen Coronaviren schwerere Auswirkungen haben können.
Die Gensequenz des Virus wurde von Forschern in Vancouver, Kanada entschlüsselt, separat von diesen auch durch die US-amerikanischen Centers for Disease Control and Prevention (CDC). Die beiden Sequenzen sind weitgehend identisch [die veröffentlichten Ergebnisse sind einsehbar unter www.sciencemag.org/feature/data/sars/].
Das Genmaterial des Virus unterscheidet sich von dem bekannter Viren. "Im Grunde ist das ganze Genom neu", bemerkt der Mikrobiologe Malik Peiris von der Universität Hongkong. "Das Virus existierte zuvor nicht im Menschen, es kommt definitiv von Tieren", erklärt Yuen Kwok-Yung von derselben Universität. Die Gensequenz liefert jedenfalls keinen genauen Hinweis darauf, von welchem Tier aus es auf den Menschen überging, da es keine klaren Ähnlichkeiten zu Coronaviren aufweist, die bekanntermaßen Tiere infizieren.
Wie die meisten Erkältungsviren wird auch das Coronavirus, das SARS verursacht, durch Husten und Niesen oder engen persönlichen Kontakt von Mensch zu Mensch übertragen. Jeder Husten stößt feine Speichel- oder Schleimtröpfchen aus, die das Virus übertragen können.
Forscher in Hongkong machten darauf aufmerksam, dass das Virus schnell mutieren könnte - eventuell zu Stämmen, die virulenter oder leichter übertragbar sein könnten. Sie weisen besonders auf einen Vorfall im März hin, bei dem 268 Menschen in einem einzigen Wohnhaus infiziert wurden, obwohl sie keinen direkten Kontakt zueinander gehabt hatten. Wie es zu dieser Ausbreitung kam, ist noch immer unklar, sie könnte durch verschmutztes Wasser oder auf anderem Wege zustande gekommen sein.
"Das Virus mutiert schnell. Eine derart schnelle Mutation bedeutet, dass sogar wenn es eine Heilmethode gäbe, diese uneffektiv werden könnte. Sogar diagnostische Tests würden vielleicht nicht mehr ausschlagen, wenn es sich verändert hat," sagt Dennis Lo, ein Mitglied eines Teams der Universität Hongkong zum Studium des Virus.
Julie Gerberding, Direktorin des CDC, meinte, dies sei wahrscheinlich nicht der Fall. Dennoch bemerkte sie: "Es ist ein einzelsträngiges RNA-Virus, und diese Art von Viren macht bei ihrer Reproduktion ... Fehler. Das HIV-Virus ist ein RNA-Virus und tut dasselbe. Deshalb ist es nicht überraschend, dass wir ständig neue Stämme auftreten sehen." Eine der größten Schwierigkeiten bei der Entwicklung eines Impfstoffs gegen HIV ist gerade, dass es permanent mutiert.
Es sind noch zahlreiche Fragen über die Ausbreitung des Virus offen. Einige Patienten scheinen als "Superspreaders", Superverbreiter, zu agieren. Über 100 Patienten in Singapur gehen auf eine einzige Flugbegleiterin zurück, die die Krankheit aus Hongkong mitbrachte. Was einen "Superspreader" ausmacht, ist noch unklar, doch könnte es sich um biologische bzw. genetische Ursachen oder Umweltfaktoren handeln. "Vom klinischen Standpunkt haben wir keine klaren Hinweise darauf, wer SARS effektiver verbreitet als andere", sagt der Virologe Dr. Ling Ai Ee, Chef des SARS-Forschungsteams von Singapur.