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Russischer Mathematiker meldet Beweis der berühmten Poincaré-Vermutung

Von Alex Lefebvre
24. Juni 2003
aus dem Englischen (3. Juni 2003)

Anfang April 2002 hielt Dr. Grigori Perelman vom Steklov-Institut für Mathematik in St. Petersburg eine Reihe öffentlicher Vorträge am Massachusetts Institute of Technology. In diesen Vorträgen erklärte er seine in zwei Artikeln ausgearbeiteten Forschungen, und wie man mit deren Hilfe eine Reihe wichtiger mathematischer Ergebnisse gewinnt, darunter den Beweis der berühmten Poincaré-Vermutung. Die Beweisführung Perelmans wird immer noch von Mathematikern auf mögliche Fehler hin untersucht, doch bis heute haben sie jeglicher Kritik standgehalten. (1)

[Wir empfehlen dem Leser, bei der Lektüre der folgenden Erläuterungen entweder tatsächliche Kugel- und Ringflächen zur Veranschaulichung heranzuziehen oder zu Stift und Papier zu greifen und sie zu zeichnen. Dies erleichtert die Vorstellung der geometrischen Figuren und das Verständnis des Artikels.]

Die Poincaré-Vermutung und Perelmans Forschungen handeln von mathematischen Objekten, die man Mannigfaltigkeiten nennt. Vereinfacht ausgedrückt, handelt es sich dabei um geometrische Objekte, die "aus der Nähe" betrachtet aussehen wie eine gerade Linie (eindimensionale Mannigfaltigkeiten), eine Ebene (zweidimensionale Mannigfaltigkeiten), der Raum (dreidimensionale Mannigfaltigkeiten) und so weiter in höheren Dimensionen. (2)

Die Oberfläche einer Kugel ist ein Beispiel für eine zweidimensionale Mannigfaltigkeit: für eine kleine Ameise, die auf der Oberfläche eines sehr großen Balls läuft, erscheint die Oberfläche wie eine Scheibe. Dass die Erdoberfläche eine 2-Mannigfaltigkeit ist und deswegen "aus der Nähe" wie eine Ebene aussieht, führte dazu, dass die Menschheit die Erde lange Zeit für flach hielt. Doch zeigen z. B. Bilder von der Erde, die man aus dem All aufgenommen hat, dass die Erdoberfläche keine Scheibe, sondern die Oberfläche einer (nicht ganz runden, zu den Polen hin abgeplatteten) Kugel ist.

Diese beiden Beispiele geben Anlass zu der sehr wichtigen Idee der (topologischen) Äquivalenz, d. h. der Ähnlichkeit und Vergleichbarkeit geometrischer Körper. Wenn man sich vorstellt, man hätte einen sehr dehn- und formbaren Ball und eine große Menge Luft zum Aufpumpen, so könnte man diesen aufpumpen und solange dehnen und strecken, bis er tatsächlich die Gestalt der Erdoberfläche annimmt. Mathematiker drücken dies so aus, dass sie sagen, die Balloberfläche und die Erdoberfläche wären topologisch äquivalent. (3)

Freilich sind nicht alle Flächen topologisch äquivalent: So kann man etwa die Oberfläche einer Kugel und die Oberfläche eines Ringes vergleichen. Man überzeugt sich leicht, dass eine geschlossene Kurve oder "Schleife" (z. B. ein Bindfaden) auf einer Kugel (der 2-dimensionalen Sphäre) immer auf der Fläche kontinuierlich auf einen Punkt hin zusammengezogen werden kann. Andererseits ist es aber nicht möglich, eine um die innere Öffnung einer Ringfläche gelegte Schleife auf einen Punkt zusammenzuziehen, ohne dabei die Fläche zu zerschneiden oder mit der Schleife sonst wie zu verlassen. Im Unterschied zur Kugel hat der Ring ein Loch (die Brezel zwei Löcher...). Der Mathematiker Henry Poincaré zeigte Anfang des 20. Jahrhunderts, als die Topologie noch ein recht junger Zweig der Mathematik war, dass die Oberflächen einer Kugel und eines Ringes topologisch daher nicht äquivalent sind. Die Topologie untersucht Körper und Oberflächen im mehrdimensionalen Raum. Diese dürfen dabei beliebig verformt, aber nicht zerschnitten werden. Ein schon zu Poincarés Zeiten den Mathematikern bekanntes, wundervolles Klassifikationstheorem zeigt in der Tat, dass eine [geschlossene, d. h. randlose] Fläche, auf der alle Schleifen auf einen Punkt zusammengezogen werden können (4), notwendig zu einer 2-dimensionalen Sphäre äquivalent ist.

Die Poincaré-Vermutung versucht, dieses Theorem für höhere Dimensionen zu verallgemeinern. Insbesondere stellt sie die Frage: Ist jede [geschlossene] dreidimensionale Mannigfaltigkeit mit der Eigenschaft, dass alle Schleifen auf einen Punkt zusammenziehbar sind, topologisch äquivalent zu einer dreidimensionalen Sphäre?

Einem Laienpublikum genau zu erklären, was eine dreidimensionale Sphäre ist, bereitet Schwierigkeiten, weil es schwieriger vorzustellen ist. Man kann sich dabei der Technik der Analogie bedienen. Die Tatsache, dass man eine eindimensionale Sphäre (d. h. den Rand einer Kreisscheibe) mit einem Kompass auf einer zweidimensionalen Ebene umschreiben kann, zeigt an, dass eine eindimensionale Sphäre aus Punkten im zweidimensionalen Raum besteht, die einen festen Abstand von einem vorgegebenen Punkt haben (der Drehpunkt der Nadel des Kompasses). Gleichermaßen besteht die zweidimensionale Sphäre (die Oberfläche einer Vollkugel) aus den Punkten mit einem festen Abstand von einem vorgegebenen Punkt im dreidimensionalen Raum. So gelangen wir schließlich dazu, uns die dreidimensionale Sphäre als den Ort aller zu einem vorgegebenen Punkt im vierdimensionalen Raum abstandsgleichen Punkte zu denken.

Die Poincaré-Vermutung blieb das gesamte 20. Jahrhundert über ungelöst und widerstand den Bemühungen vieler der besten Topologen und Experten der Geometrie. Sie erlangte einen Status in der mathematischen Welt, der dem des berühmten "Letzten Theorems" des Mathematikers Pierre de Fermat (1601-1665) entspricht, das erst kürzlich von Andrew Wiles bewiesen wurde. Bis Mitte des 20. Jahrhunderts hatte man es geschafft zu zeigen, dass die analoge Aussage der Poincaréschen Vermutung in höheren Dimensionen gilt. Jedoch scheiterten all die zahlreichen Anstrengungen daran, dies auch für den dreidimensionalen Fall zu erhärten. Das ist insofern von besonderer Bedeutung, weil die dreidimensionale Mannigfaltigkeit schließlich die Transformation des vierdimensionalen Raum-Zeit-Kontinuums ist, in dem wir leben.

Perelmans Arbeit zielt darauf ab, die Poincaré-Vermutung zu beweisen, indem sie ein wesentlich weiter gefasstes Klassifikationstheorem beweist, die recht neue sogenannte Geometrisierungsvermutung von William Thurston. Thurstons Geometrisierungsvermutung geht davon aus, dass jede 3-Mannigfaltigkeit in Einzelteile zerlegt werden kann, die alle derartig gestreckt und gedehnt werden können, bis sie mit einer von nur acht möglichen geometrischen Strukturen übereinstimmt.

Das Studium dieser geometrischen Strukturen ist die Differentialgeometrie - die grundlegende mathematische Sprache von Einsteins Relativitätstheorie in der Physik und Perelmans Spezialgebiet. Allgemein gesprochen ist eine geometrische Struktur auf einer Mannigfaltigkeit eine Art, die Struktur der kürzesten Wege zwischen Punkten auf einer Mannigfaltigkeit zu spezifizieren.

Wir geben nur ein Beispiel. Auf der Erdoberfläche besteht der kürzeste Weg zwischen zwei Punkten (nehmen wir an, einer davon ist der Nordpol) aus einem bestimmten Meridian, der den Nordpol mit dem anderen Punkt verbindet. Deshalb ist die Flugroute von New York nach Tokio auf einer flachen Weltkarte keine gerade Linie, sondern verläuft in gekrümmter Form nach Kanada hoch und anschließend entlang der Küste Nordostasiens herunter. (5) Ein Flugzeug folgt dabei annähernd dem (gekrümmten) kürzesten Weg zwischen New York und Tokio auf der Erdoberfläche, der berühmten "Großkreisroute".

Ein großer Teil der Forschungen in der Differentialgeometrie im Verlauf des letzten Jahrhunderts bestand darin, Verbindungen zwischen den topologischen Eigenschaften von Mannigfaltigkeiten (z. B. der Struktur der Schleifen, d. h. geschlossener Wege, auf der Mannigfaltigkeit) und den möglichen geometrischen Strukturen auf der Mannigfaltigkeit zu untersuchen. Wenn die Arbeit von Perelman tatsächlich Thurstons Geometrisierungsvermutung beweisen sollte, dann folgt daraus im Zusammenhang mit früheren Arbeiten, dass, wenn auf einer dreidimensionalen Mannigfaltigkeit alle Schleifen auf Punkte zusammenziehbar sind, diese eine geometrische Struktur besitzt, die nur auf einer zu einer dreidimensionalen Sphäre topologisch äquivalenten Mannigfaltigkeit existieren kann. Damit wäre die Poincaré-Vermutung bewiesen.

Perelmans spektakuläre Bemühungen, mehrere der großen Probleme der dreidimensionalen Geometrie zu lösen, sind besonders bemerkenswert, da sie in einer wissenschaftlichen Umgebung stattfinden, die nach dem Ende der Sowjetunion regelrecht verwüstet wurde. Die in der ehemaligen UdSSR durchgeführte wirtschaftliche "Schocktherapie" zwang die Universitäten im ganzen Land, die Bezahlung der Professorengehälter auszusetzen oder drastisch zu reduzieren, so dass es zu einer breiten Fluchtbewegung ausgebildeter Mathematiker in die Universitäten wohlhabenderer Länder, insbesondere in die USA, kam.

Fußnoten

(1) Perelmans Artikel sind sehr technisch und für Spezialisten auf dem Gebiet der Differentialgeometrie verfasst. Dennoch sind sie öffentlich frei verfügbar über den arXiv-Server im Internet, auf den Mathematiker ihre Ergebnisse stellen. Interessierte Leser können die Arbeiten von den Adressen http://www.arxiv.org/abs/math.DG/0211159 und http://www.arxiv.org/abs/math.DG/0303109 finden. Zurück zum Text

(2) Es gibt dabei noch eine technische Ausschlussklausel: Um bösartige Phänomene auszuschließen, betrachten wir nur solche Mannigfaltigkeiten, die kompakt sind - d. h., vereinfacht ausgedrückt, die nicht unendlich ausgedehnt sind - und dazu noch zusammenhängend sind - d. h., sie kommen in einem Stück. Die anderen Mannigfaltigkeiten kann man recht einfach aus solchen zusammensetzen bzw. durch andere Operationen gewinnen. (Des weiteren ist zu beachten, dass die betrachteten Mannigfaltigkeiten keinen Rand haben dürfen - eine Kreisscheibe (eine 2-Mannigfaltigkeit) hat eine Kreislinie (eine 1-Mannigfaltigkeit) als Rand, dagegen hat die Oberfläche einer Kugel, einer Brezel oder überhaupt irgendeines Körpers im Raume keinen Rand; dies ergibt sich aus dem interessanten und wichtigen allgemeinen Resultat, dass eine Mannigfaltigkeit, die Rand einer höherdimensionalen Mannigfaltigkeit ist, notwendig randlos ist, d. h. der Rand eines Randes ist immer leer. - Anm. d. Ü.) - Zurück zum Text

(3) In diesem Beispiel wird streng genommen der speziellere und mathematisch kompliziertere, dafür aber anschaulicher fassbare Begriff der Isotopieäquivalenz erklärt. Im gewöhnlichen Umgebungsraum (der frei von das Aufblasen behindernden Elementen gedacht werden muss) zieht die Isotopieäquivalenz die topologische Äquivalenz nach sich, aber es gilt nicht die Umkehrung: ein einfach verknoteter Schlauch ist zwar topologisch äquivalent zu einem gewöhnlichen Schlauch, lässt sich aber nicht durch kontinuierliches Strecken und Stauchen entknoten. Dazu muss man ihn vielmehr zerschneiden und wieder zusammenkleben - die Operation des Zerschneidens ist aber bei einer Isotopie nicht gestattet. - Anm. d. Ü. - Zurück zum Text

(4) D. h. auf dieser Fläche sind alle Schleifen "nullhomotop". - Anm. d. Ü. - Zurück zum Text

(5) Tatsächlich gibt es Weltkarten, z. B. durch stereographische Projektion gewonnene, auf denen diese Großkreisroute eine gerade Linie ist. Jedoch gibt es keine Weltkarten, auf denen alle Großkreise als gerade Linien dargestellt werden. Das hängt damit zusammen, dass man von einer gekrümmten Fläche, der dreidimensionalen Erde, keine flachen, zweidimensionalen Karten machen kann, in denen sowohl Längen- als auch Winkelverhältnisse getreu wiedergegeben werden. - Anm. d. Ü. - Zurück zum Text