Sean Penns Erklärung in der New York Times : Patriotismus und der Kampf gegen Militarismus
Von David Walsh
19. Juni 2003
aus dem Englischen (13. Juni 2003)
Am 30. Mai veröffentlichte der Filmschauspieler und Regisseur Sean Penn eine ganzseitige Erklärung in der New York Times, in der er die Politik der Bush-Regierung verurteilte und zu einer Wiederbelegung der Demokratie in Amerika aufrief. Dieser Essay [http://www.seanpenn.com/kilroy.pdf] erreicht ohne Zweifel zahlreiche Menschen, indem er Befürchtungen der breiten Bevölkerung artikuliert, die in den Medien nur selten zur Sprache kommen: Der Einfluss der Großkonzerne auf die Bush-Regierung, die Angriffe auf freie Meinungsäußerung und die auf Lügen gestützte militaristische und räuberische Außenpolitik, deren Charakter sich deutlich im Fehlen aller "Massenvernichtungswaffen" zeigt.
Penn, über zwanzig Jahren im Filmgeschäft und bereits dreimal für den Oskar nominiert, arbeitete bisher dreimal erfolgreich als Regisseur. In der für ihn charakteristischen Weise versucht er, die Liebe zu seinen Kindern und dem verstorbenen Vater mit Fragen allgemeinerer Bedeutung zu verknüpfen, wie zum Beispiel der nach der Zukunft der amerikanischen Gesellschaft oder der Bedeutung von Patriotismus.
Penn schreibt, sein offener Brief an George W. Bush in der Washington Post, in dem er im Oktober 2002 dessen Irakpolitik angegriffen hatte, habe "eine Flut von Fehlinterpretationen der Presse und sogar den Vorwurf des Verrats ausgelöst". Seine Entscheidung, im Dezember Bagdad zu besuchen und über ein Land zu berichten, das, wie er sagt, "der am meisten zurückgeworfene, verhungerte, verseuchte und vergiftete Ort ist, den ich je gesehen habe", verdient deshalb umso mehr Respekt.
Über die Nachkriegssituation bemerkt Penn: "Wenn die Militärintervention im Irak eine grobe Fehleinschätzung war, dann eine, die Tausende und Abertausende Tote zur Folge hatte, und für die es nicht den geringsten glaubwürdigen Beweis einer akuten Bedrohung für die Vereinigten Staaten gab. Unsere Flagge wehte, so scheint es, im Dienste eines Regimewechsels, der vor allem für die US-Konzerne von großem Nutzen ist."
Im aussagekräftigsten Absatz seiner Erklärung in der Times nennt Penn Personen und Konzerne: "Wir sehen Bechtel. Wir sehen Halliburton. Wir sehen Bush, Cheney, Rumsfeld, Wolfowitz, Powell, Rice, Perle, Ashcroft, Murdoch, und viele andere. Massenvernichtungswaffen sehen wir nicht. Wir sehen tote junge Amerikaner. Massenvernichtungswaffen sehen wir nicht. Wir sehen Chaos in den Straßen von Bagdad. Aber keine Massenvernichtungswaffen."
Schon früher warnte Penn vor einer Neuauflage der "dunklen Ära der Schwarzen Listen Hollywoods". Den jüngsten Angriffen auf Penn von Seiten der Medien und Filmgesellschaften ging der Boykott der Dixie Chicks voraus, die Aussperrung von Tim Robbins von der Zeremonie in der Baseball Hall of Fame, der Versuch, kriegskritische Schauspieler daran zu hindern, bei der Oskarpreisverleihung ihre Meinung zu sagen, die Bemühungen der Direktoren von NBC, Martin Sheen zum Schweigen zu bringen, sowie der allgemeine Versuch der Medien, jede öffentliche Person in Misskredit zu bringen, die den Mut aufbringt, die Politik der Bush-Regierung zu kritisieren.
Doch bei aller Achtung für Penns Erklärung in der Times : Der Aufsatz bringt verwirrte oder falsche Vorstellungen zum Ausdruck, die zu dem, was Penn sich wünscht - der Schaffung einer gerechten und wahrhaft demokratischen Gesellschaft - keinen Beitrag leisten können.
Eine der zentralen Fragen, die Penn aufwirft, ist die nach dem amerikanischen Patriotismus. Mehrmals widmet er sich diesem Thema, sinniert, dass in der US-Fahne "Opfer und Heldenmut" enthalten seien und fügt hinzu: "Ich bin Amerikaner und befürchte, dass andere und ich Gefahr laufen, unsere Fahne zu verlieren." Im Anschluss an die Passage über die Bedeutung der Flagge, erinnert er sich an die Beerdigung seines Vaters, des Regisseurs Leo Penn, eines Veteranen des zweiten Weltkriegs, den man auf die schwarze Liste gesetzt hatte, im Jahr 1998. Dort präsentierte eine militärische Ehrengarde seiner Mutter eine zusammengefaltete amerikanische Fahne. Er kommentiert: "Nun, nach nur fünf kurzen Jahren droht dieselbe Fahne, die ich so lange lieben, respektieren und schützen wollte, zum Banner für Mord, Gier und für den Verrat an unseren eigenen Prinzipien, an unserer Geschichte, der Verfassung und an unsern Müttern und Vätern zu verkommen. Sie wird zur vulgären Plakatwand, die Treulosigkeit den Unsrigen und unsern Verbündeten gegenüber anzupreisen scheint."
Die Frage des Patriotismus ist komplex und unterstreicht einen wesentlichen Tatbestand: Es ist unmöglich, die zentralen politischen Fragen, die in Penns Erklärung in der Times angeschnitten werden, ohne ein gründliches Studium der Geschichte ernsthaft zu diskutieren. Kein Künstler oder Politiker kann ohne Intuition auskommen, aber zur Orientierung reicht Intuition allein weder in der Kunst noch in der Politik aus.
Der Begriff Patriotismus besitzt in Amerika für unterschiedliche Leute unterschiedliche Bedeutung. Dies wiederspiegelt die Tatsache, dass zwei völlig widersprüchliche "Amerikas" existieren: das der arbeitenden Menschen und das der herrschenden Elite.
Die Masse der arbeitenden Bevölkerung, die einzige soziale Kraft, die demokratischen Prinzipien gegenüber eine ernsthafte Haltung bewahrt, verbindet mit den Begriffen Patriotismus und Fahne in teilweise unbewusster Weise die Traditionen der amerikanischen Revolution, Lincoln und die Opfer des Bürgerkriegs, die großen Arbeitskämpfen der dreißiger Jahre und die Errungenschaften der Massenbewegung für demokratische Grundrechte in den fünfziger und sechziger Jahren. Arbeiter gehen im Allgemeinen davon aus, dass "Liebe zum Land" mit dem Streben nach Gleichheit, Sympathie für die Unterdrückten und einer demokratischen Einstellung zusammenfällt.
Das politische Establishment und die Medien, deren Angehörige entweder die demokratischen Traditionen offen zurückweisen oder höchstens Lippenbekenntnisse zu ihnen ablegen, versuchen gerade dieses weitverbreitete Verständnis von Patriotismus auszubeuten. Der offizielle Appell an diese Werte zielt darauf ab, das amerikanische Volk im Namen der "nationalen Interessen" und der "nationalen Sicherheit" vor den Karren seiner schlimmsten Feinde in den herrschenden Kreisen zu spannen.
Tiefempfundene Symphatie für das Beste im amerikanischen Leben und seiner Geschichte kann elementare Fakten nicht verschleiern. Wenn Penn nahe legt, die USA "drohen von reaktionären Elementen übernommen zu werden" und "andere und ich laufen Gefahr, unsere Fahne zu verlieren", so stellt er den Fall historisch falsch dar. Die Vereinigten Staaten sind schon vor über hundert Jahren zur imperialistischen Macht geworden und der spanisch-amerikanischen Krieg von 1898, als sie die Philippinen, Guam und Puerto Rico an sich rissen und de facto ihre Kontrolle über Kuba errichteten, belegt dies.
Die USA waren im zwanzigsten Jahrhundert eine führende und letztlich die beherrschende imperialistische Macht. Amerikas Eintritt in den Ersten Weltkrieg markiert eine qualitativ neue Etappe seines Aufstiegs zu einer großen und räuberischen Macht. Die Intervention im Zweiten Weltkrieg erfolgte nicht aus humanitären Gründen, obwohl Hass auf den Faschismus die Generation beseelte, die sich freiwillig dem Kampf gegen Hitler und Mussolini stellte. Tatsächlich unterstützte ein beträchtlicher Teil der herrschenden Klasse der USA, wie Henry Ford und George W. Bushs Großvater, Prescott Bush, entweder den Faschismus politisch oder ging profitable Handelsbeziehungen mit diesen Regimes ein.
Die Verbrechen des amerikanischen Imperialismus an Menschen auf der ganzen Welt, darunter an der eigenen Bevölkerung, sind ungezählt: Sie reichen von der blutigen Unterdrückung der Filipinos von 1899-1901, über die drei Millionen Toten und die Zerstörung, die er in Südostasien in den sechziger und siebziger Jahren anrichtete, bis hin zum Tod Hunderttausender Iraker als Ergebnis von zwei Kriegen und der mörderischen Sanktionen von 1991 bis 2003. Die USA halfen, brutale militärische Diktaturen in Zentral- und Lateinamerika zu errichten und aufrechtzuerhalten, und sind nach wie vor der wichtigste Sponsor der palästinensischen Unterdrückung durch Israel.
Die "Stars and Stripes" [Sterne und Streifen der US-Fahne] symbolisieren heute nicht dasselbe wie 1776 oder 1861. Dutzende Millionen erblicken darin zu Recht das Zeichen ihrer Unterdrückung und Armut.
Die amerikanische Außenpolitik ist untrennbar mit der Innenpolitik verbunden, und beide drücken die Klasseninteressen einer Finanzoligarchie aus, deren Monopol auf Reichtum und Macht im vorherrschenden Wirtschaftssystem wurzelt, dem Kapitalismus.
1951 stellte James P. Cannon, der damalige Führer des amerikanischen Trotzkismus, die Frage nach der Beziehung von Vergangenheit und Gegenwart in Amerika. Um seine Haltung zum amerikanischen Unabhängigkeitstag zu erklären, schrieb er: "Die vor 175 Jahren im Kongress versammelten Abgeordneten waren große Neuerer. Als sie erklärten: Folgende Wahrheiten erachten wir als selbstverständlich', eröffneten sie ein neues Zeitalter der Hoffnung für die gesamte Menschheit. Dies zu feiern bin ich jederzeit bereit - den Beginn und die Hoffnung. Aber niemand kann mir Reden zum Vierten Juli andrehen, die den Beginn als das Ende ausgeben und die Hoffnung als die Vollendung. Ich habe schon vor langer Zeit aufgehört, an sie zu glauben. Sobald ich alt genug war, mich umzusehen und zu erkennen, was im Lande vor sich geht - all die Ungleichheit und Ungerechtigkeit, die nach wie vor existiert - entdeckte ich, dass die privilegierten Nutznießer, die sich das Erbe unserer ersten Revolution ans Revers stecken, Betrüger sind."
Die heutige Regierung vereinigt die brutalsten und verachtenswertesten Elemente der herrschenden Schicht, aber die Bush-Meute ist nicht aus dem Nichts aufgestiegen. Sie wurde sozusagen "aus den Tiefen heraufbeschworen", durch die historische Krise des amerikanischen Kapitalismus.
Die herrschende amerikanische Elite versucht, den Verlust der internationalen Wirtschaftshegemonie wett zu machen, indem sie militärische Überlegenheit entfaltet, um unter ihrer Herrschaft "die Welt neu zu organisieren". Die Eroberung des Irak ist nur der Anfang. Bei allen taktischen Meinungsverschiedenheiten stimmen alle Flügel des politischen Establishments, Liberale bis Ultra-Rechte, Demokraten und Republikaner, im Grundsatz überein, dass dieses verzweifelte Projekt notwendig und berechtigt sei.
Diffuse "patriotische" Gefühle werden sich im Kampf dagegen als unzuverlässig erweisen. Denn an solche Gefühle appelliert das Establishment stets, um den Widerstand der Öffentlichkeit gegen schmutzige Geschäfte aller Art zu lähmen. Immerhin glaubt ein großer Prozentsatz der Unterstützer der jüngsten Invasion in den Vereinigten Staaten, dass Amerika den Irak "demokratisiere" oder "befreie" - oder sie wollen es glauben.
Soweit Patriotismus eine Identifizierung mit dem Nationalstaat beinhaltet, führt er unweigerlich auf den ausgetretenen Pfad der Demokratischen Partei oder einer "dritten Partei", die sich als Lobbygruppe der Demokraten erweist. Penn schreibt, er sei "kein Demokrat, kein Republikaner, kein Grüner, mit keiner Partei verbunden". Er beschuldigt die "demokratische Führung" als Ganze - mit Ausnahme der Senatoren Ted Kennedy aus Massachusetts und Robert Byrd aus West Virginia und der Abgeordneten Barbara Lee aus Kalifornien und Dennis Kucinich aus Ohio - sie sei "vollkommen mitschuldig" an Bushs Feldzug, und fügt hinzu: "Dies war ein obszöner und feiger Verrat an ihrer Wählerschaft".
Penns "Ausnahmen" bestätigen jedoch die Regel. Die Unterschiede zwischen diesen Politikern der demokratischen Partei und Vertretern der Bush-Regierung waren und bleiben rein taktischer Natur. Sie stimmen nur nicht in der Wahl Mittel überein, mit denen die Interessen des amerikanischen Kapitalismus gewahrt werden können.
Kennedy, Byrd, Lee und Kucinich, wie übrigens eine ganze Schicht von gebildeten Liberalen und etablierten Personen, haben erklärt, dass die Regierungspolitik den langfristigen Wirtschafts- und Sicherheitsinteressen der USA entgegenstehe, weil sie die UN ignoriere und einen Streit mit den europäischen Verbündeten vom Zaun breche. Sie alle unterstützten den sogenannten "Krieg gegen den Terrorismus" der Bush-Regierung, der den grundlegenden politischen und ideologischen Rahmen für militärische Unterdrückung im Ausland und politische Unterdrückung im eigenen Land bildet. Keiner stellte die amerikanische Politik gegenüber dem Irak als das dar, was sie ist - und zwar nicht erst seit dem letzten Krieg, sondern seit mehr als zehn Jahren: Als Ausdruck eines neubelebten Imperialismus in seiner nacktesten Form.
Byrds beißende Angriffe auf die Bush-Regierung und ihre Irakpolitik decken die unterschwellige Übereinstimmung auf, die Bush und seine liberalen Kritiker letztlich eint: "Staatsoberhäupter Pygmäen zu nennen, ganze Länder als böse einzustufen, mächtige europäische Verbündete als irrelevant zu erniedrigen - diese grobschlächtige Art kann für unsere großartige Nation nichts Gutes bringen. Wir benötigen die Zusammenarbeit und Freundschaft unserer langjährigen Verbündeten sowie der neu gewonnenen Freunde, die wir durch unseren Wohlstand anziehen können."
Wer ist denn die tatsächliche Klientel der Demokratischen Partei? Sie ist eine Partei, die durch das Big Business finanziert wird und an deren wirtschaftliche und finanzielle Interessen gebunden ist. Sie hat diese Interessen nicht "verraten", sondern ihnen entscheidend gedient. In prosperierenden Perioden waren die Demokraten in der Lage, die Klassenkonflikten zu mildern, die Einführung begrenzter sozialer Reformen ermöglichten es ihnen, sich als Partei des "kleinen Mannes" darstellen. Das ist längst vorbei.
Die Hände der Demokraten triefen von irakischem Blut. Penn selbst benennt die Rolle, die die Clinton-Regierung im Irak gespielt hat: sie verhängte Sanktionen und führte andauernde Bombardements durch.
Die Gefahr besteht, dass sich Penn durch seinen"Patriotismus" vielleicht unbewusst an die momentane Stimmungsmache der Medien und Politik in den USA anpasst, in der rechte und neofaschistische Elemente den Ton angeben. Es gibt keine Möglichkeit und auch keinen Grund einen Konsens mit diesen Leuten herzustellen. Entscheidend ist die Klärung der grundlegenden historischen und politischen Fragen in der arbeitenden Bevölkerung.
Ein grundlegender Punkt des marxistischen Programms ist die Ablehnung des Nationalismus zugunsten eines höheren Prinzips: des Internationalismus, der Solidarität aller Völker der Welt. Dies bedeutet nicht, die revolutionär-demokratischen Traditionen der USA oder irgend einer anderen Nation in Zweifel ziehen, sondern der Internationalismus bildet die einzige Grundlage, sie zu verteidigen und ihren universellen Kern zu schützen. Die große Trennung in der Welt besteht nicht zwischen Nationen und Völkern, sondern zwischen den gesellschaftlichen Klassen. So ist die wirtschaftliche Ungleichheit im heutigen Amerika das schwerwiegendste Problem der amerikanischen Gesellschaft.
Penns tiefempfundene Erklärung in der Times ist einer Sternschnuppe, die den dunklen Himmel für einen kurzen und folgenlosen Moment erhellt, vergleichbar. Denn es existiert eine gesellschaftliche Kraft, die fähig ist, den rücksichtslosen Ambitionen und der brutalen Politik der USA zu widerstehen und sie zu besiegen - die amerikanische und die internationale Arbeiterklasse.
Die Notwendigkeit, von der politischen Vorherrschaft der herrschenden Elite, deren Steigbügelhalter allen voran die Demokratischen Partei ist, zu brechen ist das zentrale Problem der Arbeiter in den Vereinigten Staaten. So besteht auch der schlimmste Verrat der Gewerkschaften darin, die Arbeiter an den liberalen Torso des politischen Establishments zu fesseln. Politische Selbstbestimmung und Unabhängigkeit der Arbeiterklasse, erzielt durch den Aufbau einer sozialistischen Massenpartei, ist die Vorbedingung für einen erfolgreichen Kampf gegen Militarismus, gesellschaftliche Reaktion und Angriffe auf demokratische Rechte.
Dies sind Fragen, die Penn und andere, die in ernsthafter Opposition gegen die reaktionäre Politik der Bush-Administration stehen, überdenken sollten.