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Frankfurter Gymnasien demonstrieren gegen Roland Kochs Bildungspolitik

Hessenwahl

Von unserem Korrespondenten
22. Januar 2003

Landauf landab verkündet der CDU-Spitzenkandidat und amtierende Ministerpräsident Roland Koch auf Wahlveranstaltungen, seine Regierung habe durch die Einstellung von fast 3.000 Lehrern erreicht, dass der Unterricht an hessischen Schulen zu hundert Prozent gewährleistet sei. Eine Demonstration von Lehrern, Eltern und Schülern von Frankfurter Gymnasien machte jedoch am vergangenen Samstag klar: Die angebliche Unterrichtsgarantie ist eine blanke Lüge.

An die tausend Teilnehmer versammelten sich um "fünf vor zwölf" auf der Hauptwache im Stadtzentrum Frankfurts und machten mit Transparenten, Plakaten, Handzetteln und Straßentheater auf die grassierende Misere in den Klassenzimmern aufmerksam.

Sie machten deutlich, dass es sich bei den vielzitierten neu eingestellten Lehrern überwiegend um Vertretungslehrer handelt - das heißt befristete, schlecht bezahlte Lückenbüßer - und dass nur sehr wenige Lehrer einen festen, voll bezahlten und unbefristeten Arbeitsvertrag erhalten. Auch ist es gang und gäbe, völlig unerfahrene Referendare über längere Zeit eigenständigen Unterricht abhalten zu lassen.

Nach wie vor fallen viele Unterrichtsstunden aus, weil die Lehrkräfte extrem knapp sind und die Schulen keine Reserven haben. Soweit es Vertretungslehrer gibt, müssen sie fürchten, dass ihre Verträge nach der Wahl ganz einfach nicht verlängert werden und sie auf der Straße stehen. Die meisten Schulen sind in äußerst schlechtem Zustand, baufällig, vernachlässigt und verdreckt, die Lehrmittel in vielen Fällen veraltet. Während Koch behauptet, die Finanzmittel für Bildung seien um 25 Prozent aufgestockt worden, beklagen die Schulen in Frankfurt, dass der schulische Verwaltungshaushalt der Stadt für das Jahr 2002/2003 um elf Prozent gekürzt worden ist.

Der Sprecher der Elternbeiräte, Siegwart Eller, erklärte auf der Kundgebung, Koch's Behauptung, der Unterricht werde vollständig abgedeckt, sei "schlicht falsch". Zur Zeit gelte zehn Prozent Unterrichtsausfall als normal, einige Klassen hätten gar über Wochen hinweg einen Unterrichtsausfall von über zwanzig Prozent. Ein zu großer Teil des Unterrichts werde durch fachfremde Vertretungslehrer abgedeckt, pensionierte Lehrer würden z.B. grundsätzlich nicht mehr durch feste Lehrerstellen ersetzt, da Frankfurt "laut Plan" noch zu viele Lehrer habe.

Zwar werde auf dem Papier die "Stundentafel" erreicht, kein Unterrichtsfach werde aus dem Jahresplan einer Klasse gestrichen. "Man muss aber dazu sagen, dass dies um den Preis von größeren Klassen erkauft wurde: Dreißig bis 33 Kinder sind längst nicht mehr die Ausnahme, sondern die Anzahl an Schülern, die das Kultusministerium anstrebt."

In Hessen gebe es über hundert Klassen mit mehr als 34 Schülern. Dabei bleibe zu wenig Zeit für die einzelnen Schüler, die Lehrer könnten den vielschichtigen Problemen einer Großstadt-Gesellschaft wie Frankfurt keinesfalls gerecht werden. Den Schülern fehle es an Bewegungsfreiheit und Sauerstoff. Moderne Unterrichtsmethoden wie Gruppenarbeit würden von vorneherein erschwert.

In einem schriftlichen Aufruf erklären die Elternbeiräte, sie hätten festgestellt, dass an allen Schulen mehr oder weniger die gleichen Missstände grassierten, und wollten deshalb gemeinsam an die Öffentlichkeit treten, anstatt sich weiterhin gegenseitig Konkurrenz zu machen und die Probleme nach außen hin schönzureden.

Interesse an PSG-Kandidatur

Ein Wahlkampf-Team der Partei für Soziale Gleichheit diskutierte während der Kundgebung mit zahlreichen Teilnehmern. Viele interessierten sich für die Wahlkandidatur der PSG und stimmten zu, dass man weder von der CDU/FDP-Regierung, noch von der SPD oder den Grünen eine Verbesserung erwarten könne.

Eine Gruppe von vier Schülern der Ziehenschule berichtete: "Unsere Schule ist in einem miserablen Zustand. Wir haben Unterricht in Räumen, die absolut kalt sind, weil die Heizung defekt ist. Außerdem haben sie eine schlechte Akustik; durch die Wände hört man jedes Wort, das im Nebenraum gesprochen wird. Es fallen sogar Fenster raus, wenn man sie öffnen will, das ist tatsächlich neulich passiert. Kein Politiker würde sich freiwillig dort aufhalten; wir aber sitzen hier halbe Tage lang."

"Die Schule wurde um 1900 erbaut," ergänzten sie. "Um mehr Platz zu schaffen, wurden in den siebziger Jahren Holzbaracken auf den ehemaligen Sportplatz gestellt. Das war als Provisorium gedacht, aber wir haben immer noch Unterricht darin." Seit dreißig Jahren habe sich nichts geändert und die Wände seien mittlerweile so morsch, dass man sie mit der Hand wegdrücken könne.

Die Schüler waren besonders über die Auswirkungen der Oberstufenreform erbost. Sie sei in der praktischen Durchsetzung eine reine Alibilösung für die in der PISA-Studie genannten Probleme. "Um den neuen Anforderungen zu genügen, müssen wir viel mehr leisten, lernen aber immer noch den gleichen Stoff mit dem gleichen Material in der gleichen Zeit wie die Schüler vor uns, das kann doch gar nicht funktionieren. Es führt einfach dazu, dass viel mehr Schüler sitzen blieben, weil sie den Anforderungen nicht gerecht werden können. So kann man sich beim besten Willen nicht verbessern." Nach wie vor falle eine Menge Unterricht aus, zum Beispiel komme es vor, "dass man als Leistungsfach permanent nur drei statt fünf Stunden Geschichte hat, weil die Lehrer fehlen".

Zwei junge Vertretungslehrerinnen, vom Goethegymnasium und von der Freiherr-vom-Stein-Schule, berichteten: "Uns wurde monatelang versprochen, es werde 15 neue Planstellen geben, das heißt Übernahmen in ein festes Lehrerverhältnis mit Aussicht auf Verbeamtung. Aber das war nicht wahr: Am Schluss waren es nur zwei Festanstellungen. Der größte Teil der neu eingestellten Lehrerinnen und Lehrer arbeitet als Vertretungslehrer, das heißt jeweils für ein halbes Jahr befristet. Dabei verdient man rund tausend Mark weniger als bei einer Festanstellung."

Die Lehrerein aus dem Goethegymnasium erzählte, es sei zum Jahresanfang tagelang unklar gewesen, ob sie als Vertretungslehrerin einen Anstellungsvertrag bekomme. Schließlich habe sie einen befristeten Vertrag erhalten, aber die ersten Unterrichtstage seien nicht bezahlt worden. "Auch für die Sommerferien bekommen wir kein Gehalt und sind in dieser Zeit nicht einmal versichert. Die Unsicherheit ist sehr groß."

Darüber hinaus berichteten beide, dass die Schulen völlig verdreckt seien. "Oft ist der Boden so schmutzig, dass die Kinder ihre Schultaschen nicht auf den Fußboden stellen dürfen, weil sie sonst beim Hochnehmen die Kleidung verschmutzen." Die Eltern müssten selbst die Klassenzimmer renovieren und Geld für Computer sammeln.

Mehrere Mütter bestätigten aus ihrer Sicht die schlechten Erfahrungen. Frau Grühl, Mutter von fünf Kindern, darunter vier schulpflichtigen, sagte: "Damals, bei Rot-grün, haben sie die Kinder einfach nach Hause geschickt, wenn Lehrer fehlten. Heute ist es so, dass sie in der Schule bleiben, aber sie sitzen oft unbeschäftigt herum und werden nur verwahrt".

In der Gesamtschule, berichtete Frau Grühl, komme es vor, dass in vielen Fächern nach den Sommerferien sechs bis acht Wochen kein richtiger Unterricht gemacht werden könne, weil nur ein Notfallstundenplan mit Vertretungslehrern, oft nur Referendaren bestehe. "Danach wird dann ein junger Lehrer, der sich eigentlich erst einarbeiten müsste, vor die Klasse gestellt. Er muss den Stoff von zwei Monaten in kürzester Zeit nacharbeiten, obwohl er die Kinder kaum kennt und nicht weiß, welches Material bisher benutzt wurde."

Außerdem seien die Lehrmittel restlos veraltet: "Die müssen oft mit dreißig Jahre altem Lehrmaterial und Büchern arbeiten. Eins meiner Kinder hat ein Lehrbuch, in dem die DDR noch eingetragen ist."

"Hessen - das führende Bildungsland", so lautete vor kurzem eine ganzseitige Anzeige, die von der Dresdner Bank und der Chemiegesellschaft Altena AG im Rahmen von Roland Kochs Wahlkampf finanziert wurde. Darin wurde deutlich, in welche Richtung das Schulwesen nach dem Willen der Regierung künftig laufen soll. Angepriesen wurde die erste hessische Eliteschule auf Schloss Hansenberg im Rheingau. Diese Internatsschule war von der Privatwirtschaft, wie z.B. der Dresdner Bank, von Anfang an als sogenannte "Public Private Partnership" gesponsert und begleitet worden.

Wie sehr einige große Konzerne dabei das Sagen haben, macht ein Interview mit dem Ministerpräsidenten deutlich. Koch erklärt darin, die Internatsschule Schloss Hansenberg stelle ein besonderes Glanzstück der hessischen Bemühungen um Bildung dar: "Das gilt für die Zusammenarbeit mit der Wirtschaft,... [und] betrifft nicht nur die finanzielle Seite. Diese Kooperation bestimmt auch das inhaltliche Programm der Schule, denn die Schülerinnen und Schüler werden intensiven Kontakt mit Unternehmen, mit der Arbeitswelt, mit der Praxis haben."

Hier zeigt sich, was Koch im Auge hatte, als er vor vier Jahren angesichts der Schulmisere, die die rot-grüne Koalition hinterlassen hatte, eine "bildungspolitische Wende" ankündigte.

Siehe auch:
Wahlaufruf der Partei für Soziale Gleichheit zur Hessenwahl
(20. Dezember 2002)
Die Verbindungen der CDU zur äußersten Rechten
( 4. Januar 2003)
CDU-Rechte wittern Morgenluft
( 21. März 2001)