Rechtsstaat oder Polizeistaat?
Zur Debatte über die Zulässigkeit von Folter
Von Elisabeth Zimmermann
28. Februar 2003
Es passt ins Bild. Während Krieg wieder zum legitimen Mittel der Politik - wenn auch in Deutschland zum "allerletzten" Mittel - erklärt wird, beginnen Politiker, Journalisten und Richter eine Kampagne zur Rehabilitierung von Folter.
Als Anlass dient der Prozess um die Entführung und Ermordung des elfjährigen Bankierssohns Jakob von Metzler. Die Frankfurter Staatsanwaltschaft hat gegen den 27 Jahre alten Jurastudenten Magnus G. Anklage wegen Mordes aus Habgier und erpresserischen Menschenraubs erhoben.
Im Laufe der Ermittlungen wurde bekannt, dass das Geständnis des Beschuldigten unter Androhung von Folter erpresst wurde. Der für die Ermittlungen zuständige stellvertretende Polizeipräsident von Frankfurt, Wolfgang Daschner, gab nach eigenen Angaben am 1. Oktober vergangenen Jahres die Anweisung, den drei Tage zuvor unter dringendem Tatverdacht festgenommen Magnus G. massiv unter Druck zu setzen und dabei auch Gewalt anzuwenden.
Wörtlich lautete Daschners Anweisung an die Vollzugbeamten, den Beschuldigten "nach vorheriger Androhung unter ärztlicher Aufsicht durch Zuführen von Schmerzen" zu befragen. Die Androhung von Folter genügte. Magnus G. gestand die Tat und führte die Polizei zum Ort des Verbrechens. Doch der Junge war bereits seit mehreren Tagen tot.
Es ist weder überraschend noch ein Einzelfall, dass bei Verhören auf deutschen Polizeiwachen, bei Festnahmen oder Polizeieinsätzen verbale Drohungen und physische Gewalt angewandt werden. Erinnert sei hier nur an den Fall des 31-jährigen Stephan Neisius aus Köln, der im Mai vergangenen Jahres nach zweiwöchigem Koma an den schweren Verletzungen starb, die ihm Polizeibeamte der Polizeiwache Köln-Eigelstein bei seiner gewaltsamen Festnahme zugefügt hatten.
Allein auf dieser Kölner Polizeiwache hatte es im vorangehenden Jahr 37 Ermittlungsverfahren gegen Polizeibeamte gegeben, die aber alle wieder eingestellt wurden, weil die Opfer keine ausreichenden Beweise oder Zeugen für ihre Misshandlungen beibringen konnten, oder weil beschuldigte Polizisten durch ihre Kollegen oder Vorgesetzten gedeckt wurden.
Die teilweise rassistisch motivierte, brutale Behandlung von Flüchtlingen und Ausländern durch Polizei und staatliche Behörden in Deutschland war bereits Gegenstand zahlreicher Untersuchungen von Amnesty International, des Sonderberichterstatters der UN-Menschenrechtskommission oder der Europäischen Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (ECRI).
Selbst eine von der Innenministerkonferenz der Länder in Auftrag gegebene und Anfang 1996 vorgestellte Studie mit dem Titel "Polizei und Fremde" kommt zu dem Ergebnis, dass es sich bei Folter in deutschen Polizeidienststellen nicht um "bedauerliche Einzelfälle" handelt.
Erzwungene Debatte
Neu ist also nicht, dass Gewaltanwendung auf Polizeistationen stattfindet oder bekannt wird, sondern dass sich diejenigen, die sie anordnen oder durchführen, zu ihren Taten bekennen und damit eine Debatte über die Anwendung von Folter erzwingen. Nach geltendem Recht sind polizeiliche Gewaltanwendung oder auch nur deren Androhung zu Ermittlungszwecken ausdrücklich verboten. Laut Strafgesetzbuch handelt es sich dabei um Aussageerpressung, und diese ist strafbar.
Der stellvertretende Frankfurter Polizeipräsident Daschner hat seine Anweisung zur Gewaltanwendung eigenhändig in die Ermittlungsakte eingetragen und auch die Staatsanwaltschaft über sein Vorgehen informiert. Er verteidigte seine Haltung und berief sich dabei auf den sogenannten "rechtfertigenden Notstand". In mehreren Interviews betonte er, dass er in einer vergleichbaren Situation jederzeit wieder so handeln würde. Außerdem forderte er im Gespräch mit dem Magazin Focus eine Gesetzesänderung: "Die Anwendung von Gewalt als letztes Mittel, um Menschenleben zu retten, müsste auch im Verhör erlaubt sein," sagte Daschner. "Seit längerem fordern viele Kriminalbeamte eine entsprechende Gesetzesänderung."
Rückendeckung erhielt er dabei vom Vorsitzenden des Richterbundes, Geert Mackenroth. Mitte vergangener Woche erklärte Mackenroth gegenüber dem Berliner Tagesspiegel, dass seiner Ansicht nach "Folter oder die Androhung von Folter durch Ermittlungsbehörden unter gewissen Umständen erlaubt" sein müssten. Dies sei vorstellbar, so Mackenroth, wenn dadurch ein höherwertiges Rechtsgut zu retten sei. Als Beispiel nannte er Anschläge wie die des 11. September. Mackenroth verteidigte zugleich das Vorgehen der Frankfurter Polizei und deren Folterdrohung.
Auch der hessische Ministerpräsidenten Roland Koch (CDU) hat sich seither in die Debatte eingeschaltet. In Bild am Sonntag äußerte er am vergangenen Wochenende Verständnis für den stellvertretenden Frankfurter Polizeipräsidenten: "Ich persönlich halte Daschners Verhalten in dieser schlimmen Konfliktsituation, in der er Leben retten wollte, für menschlich sehr verständlich."
In das gleiche Horn blies auch der stellvertretende Vorsitzende des Bundes Deutscher Kriminalbeamter, Holger Bernsee, der eine gesetzliche Konkretisierung des "rechtfertigenden Notstands" forderte. Laut einem Bericht der Wetzlarer Neuen Zeitung sagte er, es sei unter Juristen umstritten, ob sich Amtspersonen auf einen übergesetzlichen Notstand berufen könnten. "Es kann nicht sein, dass Polizeibeamte hier ellenlangen juristischen Diskussionen ausgesetzt sind."
Diese Versuche, die Folter salonfähig zu machen, haben eine heftige Debatte ausgelöst. Amnesty International, der deutsche Anwaltverein und das Forum Menschenrechte widersprachen den Folterbefürwortern heftig.
Dawid Danilo Bartelt, der Sprecher von Amnesty International in Deutschland, erklärte gegenüber Spiegel Online : "Wir sind sehr besorgt und entsetzt. Es ist schockierend, dass Repräsentanten des Rechtsstaats zu solchen Mitteln greifen. Deutschland ist Vertragspartei der UNO-Konvention gegen Folter und der Europäischen Menschenrechtskonvention. Das Verbot von Folter, wie es in diesen internationalen Konventionen, aber auch im deutschen Grundgesetz niedergelegt ist, gilt absolut. Natürlich auch für Straftäter."
Artikel 5 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, die auch Deutschland unterzeichnet hat, lautet: "Niemand darf der Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden." Dies gilt ohne Ausnahme.
Viele dieser Erklärungen, wie auch die Genfer Flüchtlingskonvention und einige Artikel im deutschen Grundgesetz, waren als Konsequenz aus den tragischen und brutalen Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs und insbesondere dem rücksichtlosen und verbrecherischen Vorgehen der Nazidiktatur gegen innere und äußere Feinde festgelegt worden. Die Nazis hatten routinemäßig und in einem bis dahin unvorstellbaren Ausmaß Folter sowie grausame, unmenschliche und erniedrigende Behandlungsmethoden eingesetzt.
Rechtsstaat und Polizeistaat
Das Argument, Folter sei dann gerechtfertigt, wenn ein Notstand vorliege und ein höheres Rechtsgut wie das Leben Unschuldiger auf dem Spiel stehe, öffnet letztlich alle Schleusen. Rechtfertigende Notstände gibt es zuhauf. Jeder Kriegsgefangene könnte dann "rechtmäßig" gefoltert werden, wenn er (vielleicht) über wichtige Informationen verfügt, mit denen das Leben eigener Soldaten gerettet werden kann.
Das Wesen von Rechtsgrundsätzen und Menschenrechten wie des Verbots der Folter oder des Grundsatzes "in dubio pro reo" besteht ja gerade darin, dass sie grundsätzlich, d.h. auch für Straftäter oder Schwerverbrecher gelten. Sonst sind es eben keine Grundsätze oder Menschenrechte. Lässt man Folter als "ultima ratio" zu, als letztes Mittel, dann ist sie trotz aller Einschränkungen generell erlaubt. Denn wer will und wird einem Verhörspezialisten widerlegen können, dass ein durch Folterung erpresstes Geständnis einen Dieb rechtzeitig hinter Schloss und Riegel gebracht und so daran gehindert hat, in Zukunft noch schwerere Verbrechen, möglicherweise sogar einen Mord zu begehen?
Hier unterscheidet sich der Rechtsstaat vom Polizeistaat, in dem die Grundrechte nicht prinzipiell gelten, sondern im Ermessen von staatlichen Behörden liegen.
Es ist kein Zufall, dass rechte Politiker und Justizbeamte gerade zum jetzigen Zeitpunkt wieder eine Debatte um die Zulässigkeit von Folter lostreten. Der Grund dafür liegt in der zugespitzten internationalen und sozialen Lage.
In Amerika wurden öffentliche Überlegungen zum Einsatz von Folter gegen Terrorismus-Verdächtige bereits kurz nach den Anschlägen vom 11. September 2001 angestellt, und eine ganze Reihe bürgerlicher, auch liberaler Zeitungen begannen eine Diskussion über den Wert der Folter.
Tatsächlich hält die amerikanische Regierung auf Grund von Sondergesetzen schätzungsweise 1.200 Menschen arabischer Herkunft seit Monaten ohne Anklage in Haft, und ohne jegliche rechtliche Möglichkeit, dagegen vorzugehen. Hunderte Kriegsgefangene aus dem Afghanistankrieg werden auf dem Stützpunkt Guantanomo Bay festgehalten, ohne dass ihnen der Status und damit auch die Rechte von Kriegsgefangenen zustünden. Andere Verdächtige wurden in Staaten gebracht, in denen Folter alltäglich ist, und unter Teilnahme von CIA-Agenten verhört. Demokratische Rechte der Bevölkerung insgesamt wurden in großem Maße eingeschränkt und außer Kraft gesetzt, alles unter dem Vorwand des "Kampfs gegen den Terrorismus".
Diese Entwicklung muss im Zusammenhang mit der wachsenden sozialen Krise gesehen werden, die nicht auf Amerika beschränkt ist. Auch hierzulande hat die Regierung keine tragfähigen Antworten auf Massenarbeitslosigkeit und die damit verbundene wachsende soziale Not vieler Menschen. Angesichts der zunehmenden Opposition in der Bevölkerung dagegen wird der Ruf nach autoritären Formen der politischen Herrschaft immer lauter. Das steckt dahinter, wenn Teile der herrschenden Elite sich für eine Abschaffung des Folterverbots einsetzen.