60.000 deutsche Soldaten weltweit an Militäreinsätzen beteiligt
Von Ludwig Niethammer
13. März 2002
Am vergangenen Wochenende wurden die Särge von zwei in Kabul getöteten Soldaten mit militärischen Ehren nach Deutschland überführt. Verteidigungsminister Rudolf Scharping (SPD) sprach auf dem Köln-Bonner Flughafen vor den aufgebahrten Zinnsärgen von einem tragischen Unfall und war sichtlich bemüht zu betonen, dass die Soldaten nicht bei Kampfhandlungen ums Leben gekommen waren.
In deutlichem Gegensatz dazu erklärte der Vorsitzende des Deutschen Bundeswehrverbandes Bernhard Gertz gegenüber der Presse, der Tod der beiden deutschen und drei dänischen Soldaten müsse als ein "Stück soldatischer Normalität" verstanden werden. Eine Gesellschaft, die Soldaten in den Einsatz schicke, müsse damit rechnen, dass nicht alle lebend zurückkommen.
Der Tod der Soldaten, die nach Angaben des Verteidigungsministeriums beim Entschärfen einer alten russischen SA-3 Flugabwehrrakete am vergangenen Mittwoch ums Leben kamen, wirft grelles Licht auf die Militärpolitik der rot-grünen Bundesregierung. Niemals zuvor seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurden alle Beschränkungen der deutschen Armee so schnell und so wirkungsvoll über den Haufen geworfen, wie in der knapp vierjährigen Amtszeit gerade der Parteien, die sich vor nicht allzu langer Zeit als Antimilitaristen und Pazifisten bezeichneten.
Vor allem weigert sich die Regierung beharrlich die Bevölkerung über den weltweiten Einsatz der Bundeswehr zu informieren, während gleichzeitig das Parlament von seinen Informations- und Kontrollrechten so gut wie keinen Gebrauch macht. Die Öffentlichkeit erfuhr erst vor wenigen Wochen zufällig, durch eine Meldung des US-Militärkommandos, dass bei der amerikanischen Großoffensive "Operation Anaconda" im Osten Afghanistan auch deutsche Elitesoldaten in Spezialkommandos an Kampfhandlungen beteiligt sind. Das Bundesverteidigungsministeriums, reagierte auf diese Meldung äußerst gereizt und verteidigte seine Geheimhaltungspolitik mit dem Argument der militärischen Sicherheit.
Während bisher vor allem die Grünen immer wieder betonten, das Parlament habe das letzte Wort und übe eine demokratische Kontrolle über das Militär aus, läuft es jetzt genau umgekehrt. Das Militär entscheidet selbstständig, während die Regierung und die Mehrheit der Parlamentarier die Desinformation der Bevölkerung mit militärischen Argumenten rechtfertigen und verteidigen.
Unmittelbar nach den Terroranschlägen vom 11. September verpflichtete sich die rot-grüne Regierung nicht nur zur uneingeschränkten Solidarität im Anti-Terror-Kampf mit der amerikanischen Regierung. Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) sprach auch zugleich vom "Ende der Nachkriegsperiode" und leitete daraus ein größeres Gewicht Deutschlands in der Weltpolitik ab. Ausdrücklich rief er zur "Enttabuisierung des Militärischen" auf. In einer Bundestagsdebatte kurz vor Jahresende begründete Schröder den Bundeswehreinsatz in Afghanistan mit den Worten: "Durch diesen Beitrag kommt das vereinte und souveräne Deutschland seiner gewachsenen Verantwortung in der Welt nach."
Mit ihrer Entscheidung für weltweite Bundeswehreinsätze hat die rot-grüne Bundesregierung eine Entwicklung mit verheerenden Konsequenzen in Gang gesetzt.
Gegenwärtig sind ungefähr 60.000 Bundeswehrsoldaten weltweit an Militäreinsätzen direkt oder indirekt beteiligt. Diese Feststellung machte Bundesverteidigungsminister Rudolf Scharping auf einer Pressekonferenz mit dem Hinweis, es seien viel mehr Soldaten durch Auslandseinsätze gebunden, als die reine Zahl der im Auslande eingesetzten Soldaten es vermuten ließen, denn die Soldaten müssten turnusmäßig abgelöst werden.
Auf dem Balkan sind 7.700 deutsche Soldaten ständig im Einsatz. Davon entfallen über 5.000 auf den Kosovo (KFOR), 2.000 auf Bosnien-Herzegowina (SFOR) und 600 auf Mazedonien (Fox). Täglich sind nach Angaben von Generalleutnant Gert Gudera weitere 18.000 Soldaten mit "Vor- und Nachbereitung" durch die Balkaneinsätze gebunden. Seit 1995 seien auf dem Balkan über 80.000 deutsche Soldaten im Einsatz gewesen.
In Afghanistan ist die Bundeswehr mit ungefähr 1000 Soldaten präsent. Knapp 900 Bundeswehrsoldaten gehören der internationalen UN-Friedenstruppe ISAF (Internationale Schutztruppe für Afghanistan) an, 126 davon unterhalten einen logistischen Stützpunkt in Usbekistan. Die ISAF umfasst insgesamt 5.000 Mann, die in Kabul konzentriert sind. Der deutsche Diplomat und EU-Sondergesandte Klaus-Peter Klaiber fordert ein neues UN-Mandat, um erweiterte Militäreinsätze praktisch im ganzen Land zu ermöglichen. Die ISAF-Truppe würde dann vermutlich auf 9.000 Mann anwachsen.
Gegenwärtig finden auf politischer und militärischer Ebene Verhandlungen darüber statt, unter welchen Bedingungen die deutsche Armee die Leitung der UN-Truppen in Afghanistan übernimmt. Diese ist momentan noch in britischen Händen, aber nach Angaben von General Carl Hubertus von Butler übt sein militärischer Stab bereits jetzt die sogenannte taktische Führung der Militäroperationen in Kabul aus. Falls ab April das deutsche Militär die ISAF-Truppe befehligt, wird auch die vom Bundestag festgesetzte Obergrenze von 1.200 Bundeswehrsoldaten für diesen Einsatz Makulatur sein.
Außer der Bundeswehr sind mittlerweile auch Einheiten der Grenzschutztruppe 9 (GSG 9) in Kabul eingesetzt. Offiziell heißt es, sie schützten die deutsche Botschaft und Regierungsvertreter. Die GSG 9 wurde speziell für Nahkampfeinsätze, wie sie in Bürgerkriegssituationen und bei der Anti-Terrorismusbekämpfung vorkommen, ausgebildet. Ihre Auslandseinsätze bedürfen nicht der Zustimmung des Parlaments.
Während sich die deutsche Beteiligung an der ISAF-Schutztruppe in aller Öffentlichkeit und unter großem Presserummel vollzog, blieb die Beteiligung des deutschen Kommandos Spezialkräfte (KSK) an Kampfeinsätzen gegen al-Qaida- und Taliban-Unterkünfte lange Zeit geheim. Im Unterschied zur ISAF stehen diese Einsätze unter dem direkten Kommando des US-Militärs und sind durch kein UN-Mandat gedeckt.
Letzte Woche meldete dann die Frankfurter Allgemeinen Zeitung, dass KSK-Einheiten bereits seit vielen Wochen im Einsatz sind. Verteidigungsminister Scharping sah sich nach einigen Ausflüchten gezwungen diese Meldung zu bestätigen. Entgegen dem Bundestagsbeschluss vom November letzten Jahres, der nur eine bis zu 100 Mann starke KSK-Einheit für den Afghanistan-Krieg genehmigte, bekannte jetzt der Vorsitzende des Verteidigungsausschusses Helmut Wieczorek (SPD), es befänden sich sogar bereits 200 Elitesoldaten im Einsatz.
Das KSK war 1997 nach dem Vorbild der amerikanischen Elitetruppe Delta Force und der britischen SAS geschaffen worden. Es handelt sich um eine tausend Mann starke, bestausgebildete Elitetruppe. Sie hat die Lizenz zum Töten und soll möglichst keine Gefangenen machen. In einem Armee-Magazin wird diese Elitetruppe mit den Worten beschrieben: "Keiner sieht sie kommen. Keiner weiß, dass sie da sind. Und wenn ihre Mission beendet ist, gibt es keinen Beweis dafür, dass sie jemals da waren."
Diese Spezialeinheiten sind niemandem Rechenschaft schuldig und werden von keinem gewählten Gremium kontrolliert. Der Hamburger Völkerrechtler Norman Paech äußerte in einem Gespräch mit der Frankfurter Rundschau die Befürchtung, sie bewegten sich in gefährlicher Nähe zu Kriegsverbrechen. In der US-Militärstrategie vor Ort spiele "die Unterscheidung von Zivilisten und Kämpfenden kein Rolle mehr", sagte er. Auch die UN-Menschenrechtskommissarin Mary Robinson hat den Vorwurf geäußert, es würden unangemessen zahlreiche zivile Opfer in Kauf genommen. Es ist nicht bekannt, was die KSK in Kandahar oder sonst wo bisher getan hat. Doch das überschwängliche Lob von Seiten amerikanischer Militärs über eine "wirklich gute Leistung" lässt Schlimmes befürchten.
Auch in Afrika und am Golf ist die Bundeswehr präsent.
1.200 Marinesoldaten befinden sich gegenwärtig am Horn von Afrika. In Dschibuti hat die deutsche Marine mit einem Verband von zwölf Schiffen einen Militärstützpunkt aufgebaut. Die drei Fregatten "Bayern", "Emden" und "Köln" mit 820 Marinesoldaten patrouillieren im südlichen Roten Meer und im Golf von Aden. Ihr offizieller Auftrag lautet: Seeräume freihalten und verdächtige Schiffe kontrollieren, um Nachschub und Fluchtwege von vermuteten Terrorgruppen abzuschneiden.
Bei einem US-Angriff auf den Irak oder Somalia wäre damit die deutsche Marine nahezu zwangsläufig als Hilfstruppe beteiligt. Auch die 150 Marinesoldaten, die in Kenia stationiert sind, sowie die drei deutschen Aufklärungsflugzeuge, die die somalische Küste kontrollieren, sind auf eine Kriegsbeteiligung ausgerichtet. Gegenwärtig finden Manöver der US-Streitkräfte in Kenia statt, nur 130 Kilometer südlich von der somalischen Grenze entfernt, und in einigen Presseberichten wird die Aufgabe der deutschen Truppen mit den Worten bezeichnet: "Somalia in die Zange nehmen".
In Kuwait nehmen zur Zeit 250 Bundeswehrsoldaten des ABC-Abwehrbataillons 7 an einer Übung zusammen mit amerikanischen Streitkräften teil. Dabei kommt der Spürpanzer Fuchs zum Einsatz, der zum Aufspüren chemischer und biologischer Waffen geeignet ist. Das Bundestagsmandat sieht bis zu 800 solcher ABC-Abwehrkräfte vor. Diese Übungen können nur als Bestandteil der weit fortgeschrittenen amerikanischen Kriegsvorbereitungen gegen den Irak betrachtet werden.