Weitere Hinweise auf Massaker an gefangenen Taliban
Von Peter Schwarz
29. Juni 2002
Die Hinweise häufen sich, dass während des Afghanistankriegs Tausende schlecht bewaffnete oder völlig wehrlose Taliban von den US-Truppen und ihren internationalen und lokalen Verbündeten gezielt getötet wurden.
Erste Beschuldigungen, dass die Bestimmungen der Genfer Konvention beim Umgang mit gefangenen Taliban systematisch gebrochen werden, wurden Ende November letzten Jahres in der internationalen Presse erhoben. Damals hatten amerikanische Flugzeuge und Hubschrauber einen angeblichen Gefangenenaufstand in der Festung Kala-i-Dschanghi bei Masar-i-Scharif niedergeschlagen, indem sie das Gefängnis aus der Luft bombardierten. Mehrere Hundert Gefangene wurden dabei getötet, lediglich 86 überlebten.
Bei den Opfern handelte es sich um Taliban, die sich zuvor in Konduz den Truppen des mit den USA verbündeten usbekischen Generals Raschid Dostum ergeben hatten, also in jeder Hinsicht den Status von Kriegsgefangenen erfüllten.
Von den rund 8.000 Kämpfern, die sich in Konduz ergeben hatten, waren aber nur 500 bis 800 nach Kala-i-Dschanghi verbracht worde. Bald tauchten erste Informationen auf, dass auch andere massakriert worden seien.
Im Januar und Februar besuchte ein Team der in Boston ansässigen Physicians for Human Rights (PHR) mehrere Gräber in der Gegend von Masar-i-Scharif und Scheberghan und gelangte zum Schluss, dass zwei der untersuchten Massengräber jüngeren Datums seien. Das Team zitierte Zeugenaussagen von Anwohnern, die Containerlastwagen beim Entladen und Bulldozer beim Verscharren von Leichen beobachtet hatten.
In einem Brief an den afghanischen Interimspräsidenten Hamid Karzai vom 1. März schrieben die PHR: "Das gerichtsmedizinische Team konnte in zwei der neun besuchten Grabstätten auch menschliche Überreste nachweisen, die erst kürzlich beseitigt wurden. Während wir nicht in der Lage waren, die Herkunft der Überreste in diesen Stätten nachzuweisen, hörten wir Vermutungen von gut informierten internationalen Beobachtern, dass eine dieser Stätten nahe der Stadt Scheberghan möglicherweise benutzt wurde, um Taliban-Gefangene loszuwerden, die sich im November und Dezember 2001 der Nordallianz ergeben hatten."
Der mit Fotos dokumentierte Untersuchungsbericht der PHR und der Brief an Karzai sind im Internet zugänglich (http://www.phrusa.org/research/afghanistan/report_graves.html#1 und http://www.phrusa.org/research/afghanistan/karzai_letter.html).
Anfang Juni führte dann der irische Dokumentarfilmer Jamie Doran an verschiedenen Orten in Europa seinen unvollendeten Film "Massaker in Scharif" vor, der wesentlich präzisere Zeugenaussagen über ein Massaker an bis zu 3.000 Taliban enthält.
Laut der von Doran interviewten Zeugen wurden die Gefangenen von Konduz jeweils zu 200 bis 300 in Container gepfercht, die sie zum Gefängnis Scheberghan bringen sollten. Unterwegs erstickte rund die Hälfte oder wurde getötet, weil Soldaten von außen auf die Container schossen. Andere wurden hingerichtet, als die Container bei einem Massengrab in der Wüste entladen wurden. Laut der Zeugen waren amerikanische Militärs anwesend, als das Massaker stattfand.
Mittlerweile hat auch die angesehene deutsche Wochenzeitung Die Zeit zwei Reporter, Giuliana Sgrena und Ulrich Ladurner, nach Masar-i- Scharif geschickt, um eigene Recherchen anzustellen. Sie bestätigen in vielen Punkten die in Jamie Dorans Film gemachten Aussagen.
"Es ist nicht schwierig, in Scheberghan Menschen zu finden, die von den Ereignissen in der Wüste Dascht-i-Laili erzählen können," schreiben die in der jüngsten Ausgabe der Zeit. "Sie berichten ohne große Aufregung von Exekutionen und in Containern erstickten Taliban."
Den Bewohner eines nahegelegenen Dorfes zitieren sie mit den Worten: "Ich habe mindestens 13 Container gezählt. Sie wurden auf Lastwagen transportiert. Es war Tag, als sie ankamen." Und auf die Frage: "Können Sie sagen, wie diese Menschen umgekommen sind?" antwortet er: "Uns sagte man, sie seien in den Containern erstickt. Aber einige Container waren mit Blut befleckt."
Auch an der Anwesenheit amerikanischen Personals gibt es laut dem Zeit -Bericht unter der örtlichen Bevölkerung keine Zweifel: "Wir fragen nach. Keiner äußert Zweifel an der Beteiligung der Amerikaner. Zweifel darüber gibt es nicht einmal an höherer Stelle."
Die Zeit setzt die Zahl der getöteten Taliban allerdings wesentlich niedriger an als Jamie Doran.
Laut Doran haben sich in Konduz 8.000 Taliban ergeben. Er beruft sich auf den usbekischen Befehlshaber, der die Kapitulation entgegennahm. In einem Interview mit dem WSWS sagte er: "8.000 Männer ergaben sich Amir Jahn, mit dem die Bedingungen der Kapitulation ausgehandelt worden waren. In dem Film sagt er, er habe die Gefangenen einzeln gezählt, und gibt ihre Zahl mit 8.000 an." Von diesen 8.000 seien aber lediglich 470 nach Kala-i-Dschangi gebracht worden und 3.015 im Gefängnis Scheberghan angekommen. Der Verbleib der übrigen sei nicht bekannt. Aus den von Doran gesammelten Zeugenaussagen geht hervor, dass mindestens 1.5000, wahrscheinlicher aber 3.000 bei dem Massaker umgekommen sind.
Die Zeit spricht dagegen von "rund 5.000 Taliban" die sich in Konduz ergeben hätten, ohne den Unterschied zu Dorans Angaben zu erläutern. Sie beziffert die Zahl der Opfer von Kala-i-Dschangi mit rund 600 und gelangt schließlich auf eine Zahl von mindestens 1000 Gefangenen, deren Verbleiben ungeklärt sei. "Dass ein Teil der 1000 Menschen verschwunden ist, ein anderer in den Containern erstickte, steht außer Zweifel," heißt es in dem Bericht.
Gleichzeitig weist die Zeit auf ein weiteres Gemetzel hin, bei dem 570 Taliban getötet wurden. Dieser "Fall von zumindest bemerkenswert rücksichtsloser Kriegsführung" habe sich in der Stadt Masar-i-Scharif selbst ereignet, als diese bereits von Truppen der Nordallianz besetzt war. Die Taliban hätten sich in der Schule Sultan Rasia im Zentrum der Stadt verschanzt und erbitterte Gegenwehr geleistet. Der Widerstand sei schließlich durch amerikanische Bomben gebrochen worden und das Rote Kreuz habe anschließend 570 Leichen eingesammelt.
Nimmt man all diese Berichte zusammen, so entsteht ein Bild, dass sich von der offiziellen Berichterstattung über den Afghanistankrieg deutlich unterscheidet: Das Bild eines brutalen, rücksichtslosen Kolonialkriegs, bei dem sich die kriegsführenden Großmächte über alle internationalen Konventionen hinwegsetzen.
Inzwischen mehren sich die Forderungen nach Aufklärung. Die Physicians for Human Rights verlangen, dass die Massengräber bewacht werden, so dass keine Spuren verwischt werden können. Die UN hat sich dieser Forderung angeschlossen. Doch weder die Regierung Afghanistans noch die der USA hat bisher darauf reagiert. Das Europaparlament will Anfang Juli über die Frage debattieren.