Rosa Luxemburgs Haltung gegenüber Lenin - eine Antwort
7. Dezember 2002
Die World Socialist Web Site erhielt kürzlich eine Anfrage, was Rosa Luxemburgs Haltung gegenüber Lenin war. Wir veröffentlichen hier eine Antwort von David North, dem Chefredakteur der WSWS.
Lieber Leser,
Die reichhaltige und komplexe Beziehung zwischen Rosa Luxemburg und Lenin, die sich über einen Zeitraum von zwanzig Jahren erstreckte, sollte nicht auf einige einfache Begriffe reduziert werden. Beide waren herausragende revolutionäre Theoretiker und standen in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg auf dem linken Flügel der europäischen Sozialdemokratie. Beide waren entschiedene Gegner des Opportunismus. Die Auseinandersetzungen zwischen ihnen waren größtenteils durch die besonderen Probleme bedingt, mit denen sie es in ihrem jeweiligen politischen Umfeld zu tun hatten.
So entprang Luxemburgs Misstrauen gegenüber Lenins Eintreten für eine starke, zentralisierte Parteiführung zum Teil ihrem bitteren Konflikt mit der stickigen bürokratischen Struktur der deutschen SPD. Ebenso ergab sich die unterschiedliche Haltung zur nationalen Frage zum Teil aus dem Umstand, dass die beiden die Frage aufgrund objektiver Voraussetzungen von unterschiedlichen Standpunkten betrachteten. Lenin, der sich um den Aufbau einer Arbeiterpartei im zaristischen Russland, dem "Gefängnis der Nationen", bemühte, hielt es für unverzichtbar, eine unüberbrückbare Kluft zwischen der marxistischen Bewegung und dem großrussischen Chauvinismus der bürgerlich liberalen Kadettenpartei zu schaffen. Luxemburg führte als theoretischer Kopfe der polnischen Sozialdemokratie einen unbeugsamen Kampf gegen die kleinbürgerlichen Pseudosozialisten der nationalistischen Pilsudski-Bewegung.
Das heißt nicht, dass diese Auseinandersetzungen nur konjunktureller Natur und ausschließlich von taktischen Überlegungen bestimmt waren. Die Erfahrungen des zwanzigsten Jahrhunderts, in dessen Verlauf der Anspruch zahlreicher nationaler bürgerlicher Bewegungen widerlegt worden ist, sie träten für freiheitliche Ziele ein, haben Luxemburgs Kritik der Selbstbestimmungsforderung deutlich unterstrichen. Betrachtet man hingegen die Auseinandersetzung über die Parteistruktur im größeren Rahmen des Kampfs gegen den Opportunismus in der internationalen sozialistischen Bewegung, dann war Lenins Kampf für einen neuen Parteitypus eine historisch herausragende politische und intellektuelle Leistung. Im Zeitraum von 1903 bis 1914 verstand er besser als irgendjemand sonst, einschließlich Luxemburg und Trotzki, dass eine revolutionäre Partei nur auf der Grundlage eines kompromisslosen Kampfs gegen den Revisionismus aufgebaut werden kann. Fragen der Parteiorganisation mussten, darauf beharrte Lenin, im Rahmen dieses grundlegenden Kampfs verstanden werden. Der Leninsche "Zentralismus" war ein Ausdruck des Kampfs gegen den opportunistischen Einfluss auf die Arbeiterbewegung.
Was schließlich Luxemburgs Kritik an der russischen Revolution betrifft, sollte man nie vergessen, dass ihre großartige Schrift zu dieser Frage von der bedingungslosen Verteidigung der Oktoberrevolution ausgeht. Lenins und Trotzkis "Fehler", darauf legte Luxemburg großen Wert, ergaben sich aus den unmöglichen Bedingungen, denen die Bolschewiki infolge des Verrats der Zweiten Internationale und der deutschen Sozialdemokratie gegenüberstanden. Ungeachtet ihrer Kritik an gewissen Aspekten der Politik und der Maßnahmen der Bolschewiki ließ sie keinen Zweifel daran aufkommen, dass sie die Arbeit Lenins und Trotzkis zutiefst bewunderte.
"Die Bolschewiki," schrieb sie, "haben gezeigt, dass sie alles können, was eine echte revolutionäre Partei in den Grenzen der historischen Möglichkeiten zu leisten imstande ist. Sie sollen nicht Wunder wirken wollen. Denn eine mustergültige und fehlerfreie proletarische Revolution in einem isolierten, vom Weltkrieg erschöpften, vom Imperialismus erdrosselten, vom internationalen Proletariat verratenen Lande wäre ein Wunder.
Worauf es ankommt, ist, in der Politik der Bolschewiki das Wesentliche vom Unwesentlichen, den Kern von dem Zufälligen zu unterscheiden. In dieser letzten Periode, in der wir vor entscheidenden Endkämpfen in der ganzen Welt stehen, war und ist das wichtigste Problem des Sozialismus geradezu die brennende Zeitfrage: nicht diese oder jene Detailfrage der Taktik, sondern: die Aktionsfähigkeit des Proletariats, die Tatkraft der Massen, der Wille zur Macht des Sozialismus überhaupt. In dieser Beziehung waren Lenin und Trotzki mit ihren Freunden die ersten, die dem Weltproletariat mit dem Beispiel vorangegangen sind, sie sind bis jetzt immer noch die einzigen, die mit Hutten ausrufen können: Ich hab's gewagt!
Dies ist das Wesentliche und Bleibende der Bolschewiki-Politik. In diesem Sinne bleibt ihnen das unsterbliche geschichtliche Verdienst, mit der Eroberung der politischen Gewalt und der praktischen Problemstellung der Verwirklichung des Sozialismus dem internationalen Proletariat vorangegangen zu sein und die Auseinandersetzung zwischen Kapital und Arbeit in der ganzen Welt mächtig vorangetrieben zu haben. In Russland konnte das Problem nur gestellt werden. Es konnte nicht in Russland gelöst werden, es kann nur international gelöst werden. Und in diesem Sinne gehört die Zukunft überall dem Bolschewismus." ("Zur russischen Revolution", Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, Band 4, S. 365)
Abschließend ein guter Rat: Lenin, Trotzki und Luxemburg sind keine Götter, die wir anbeten. Sie waren menschlich und, bei aller Genialität, auch fehlbar. Vertrauen in das historische Erbe der sozialistischen Bewegung erfordert nicht, dass man blind an die Richtigkeit jeder einzelnen Entscheidung glaubt, die Lenin und Trotzki oder Luxemburg getroffen haben.
Mit freundlichen Grüßen,
David North
für die Redaktion der WSWS