Zum ersten Todestag von Stefan Heym (1913-2001)
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Von Sybille Fuchs
19. Dezember 2002
Am 16. Dezember 2001 starb im Alter von 88 Jahren Stefan Heym. Diese dreiteilige Serie würdigt das Leben und Werk des bedeutenden Schriftstellers.
1976 fällt Heym verschärft in Ungnade, da er zu den Initiatoren und Unterzeichnern eines offenen Briefes gegen die Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann gehört. (11) Danach sieht er sich gezwungen, Einladungen in den Westen abzulehnen: "Solange die Frage nicht geklärt ist, ob die Wiedereinreisevisa der Deutschen Demokratischen Republik auch für Dichter und Schriftsteller Gültigkeit haben, ziehe ich es vor, innerhalb der Grenzen unseres Landes zu bleiben." (12)
In seiner Kritik am Regime bemüht sich Heym jetzt um eine gewisse Zurückhaltung. Er begründet dies damit, dass er nicht gezwungen werden will, das Land zu verlassen, wie viele seiner Kollegen. Er kann sich nicht vorstellen, im Westen ("auf der anderen Seite der Barrikade") zu leben. Er hofft unbeirrt, dass es irgendwann gelingen könnte, den Freiraum der Künstler und Schriftsteller im Osten zu erweitern, um ihnen zu ermöglichen, eine unabhängige Rolle im Aufbau des Sozialismus zu spielen. Die Veränderungen in der Sowjetunion unter Gorbatschow, "Glasnost" und "Perestroika", interpretiert er später als beginnende Hinwendung zu Demokratie und wirklichem Sozialismus und verkennt, dass dessen Reformen die Restauration des Kapitalismus einleiten.
Auch seine Analyse, weshalb die Bürokratie eine Freiheit von Kunst und Literatur nicht zulassen kann, greift zu kurz. So plastisch er seine eigenen Erfahrungen mit der Bürokratie darstellt und so präzise er die grotesken Auswirkungen ihrer Herrschaft zu schildern vermag, von einer marxistischen historischen Analyse und Perspektive ist er weit entfernt. Für ihn bleiben die Sowjetunion und die im Zuge des Sieges der Roten Armee über die Hitlertruppen entstandenen deformierten Arbeiterstaaten Osteuropas trotz allem unvollkommener "Sozialismus". "Der Sozialismus... ist unser Baby", erklärt er in einem Interview in Australien. "Wenn das arme Wurm schielt, O-Beine hat und Grind auf dem Kopf, so bringt man es deshalb doch nicht um, sondern man versucht, es zu heilen." (13)
Bis zuletzt hofft er, dass es sich um schlimme Anlauf- oder Übergangsprobleme beim Aufbau des Sozialismus handelt und dass die jeweils Verantwortlichen oder zumindest ihre Nachfolger es letztlich doch ernst meinen mit dessen Verwirklichung.
Während er Trotzki, den Gründer und führenden Kopf der Linken Opposition gegen den Stalinismus durchaus als positive historische Gestalt respektiert, bleiben ihm seine Gedanken doch fremd: dass die Kremlbürokratie und ihre Diadochen in Osteuropa ein konterrevolutionäres Krebsgeschwür im Arbeiterstaat darstellen, dessen Überwindung den Aufbau einer neuen Internationale auf marxistischer Grundlage erfordert. Darin liegt eine gewisse Tragik weniger des Schriftstellers als des Politikers Heym.
Das Ende der DDR
Am 4. November 1989, fünf Tage vor dem Mauerfall, spricht Heym zur Massenkundgebung auf dem Berliner Alexanderplatz. Er ist voller Hoffnung, dass es jetzt endlich gelingt, in der DDR eine wirklich sozialistische Gesellschaft aufzubauen:
"Es ist, als habe einer die Fenster aufgestoßen nach all den Jahren der Stagnation, der geistigen, wirtschaftlichen, politischen, den Jahren von Dumpfheit und Mief, von Phrasengewäsch und bürokratischer Willkür, von amtlicher Blindheit und Taubheit...
Einer schrieb mir - und der Mann hat recht: Wir haben in diesen letzten Wochen unsere Sprachlosigkeit überwunden und sind jetzt dabei, den aufrechten Gang zu erlernen.
Und das, Freunde, in Deutschland, wo bisher sämtliche Revolutionen danebengegangen, und wo die Leute immer gekuscht haben, unter dem Kaiser, unter den Nazis, und später auch. Aber sprechen, frei sprechen, gehen, aufrecht gehen, das ist nicht genug. Lasst uns auch lernen zu regieren. Die Macht gehört nicht in die Hände eines einzelnen oder ein paar weniger oder eines Apparates oder einer Partei. Alle müssen teilhaben an dieser Macht. Und wer immer sie ausübt und wo immer, muss unterworfen sein der Kontrolle der Bürger, denn Macht korrumpiert. Und absolute Macht, das können wir heute noch sehen, korrumpiert absolut. Der Sozialismus - nicht der Stalinsche, der richtige -, den wir endlich erbauen wollen zu unserem Nutzen und zum Nutzen ganz Deutschlands, dieser Sozialismus ist nicht denkbar ohne Demokratie. Demokratie aber, ein griechisches Wort, heißt Herrschaft des Volkes." (14)
Er unterschreibt den Aufruf Für unser Land, in dem er sich zusammen mit anderen DDR-Intellektuellen wie Christa Wolf, aber auch Egon Krenz, der für kurze Zeit Honecker ablösen sollte, für eine "erneuerte, verbesserte DDR" einsetzt. Zeitweilig ist er auch als möglicher DDR-Präsident im Gespräch.
Aber nur wenig später ist er bitter enttäuscht von den Massen, in die er soviel Hoffnung gesetzt hat. Aus dem "Volk", das einer verheißungsvollen revolutionären Zukunft zuzustreben schien, ist ihm unversehens "eine Horde von Wütigen" geworden, "die, Rücken an Bauch gedrängt, Hertie und Bilka zustrebten auf der Jagd nach dem glitzernden Tinnef. Welche Gesichter, da sie, mit kannibalischer Lust, in den Grabbeltischen, von den westlichen Krämern ihnen absichtsvoll in den Weg platziert, wühlten; welche geduldige Demut vorher, da sie, ordentlich und folgsam, wie's ihnen beigebracht worden war zu Hause, Schlange standen um das Almosen, das mit List und psychologischer Tücke Begrüßungsgeld geheißen war, von den Strategen des Kalten Krieges". (15)
Eine Vereinigung beider deutscher Staaten in Form des Anschlusses der DDR kommt für ihn nicht in Frage. Die DDR will er reformieren, ja revolutionieren, aber nicht aufgeben, er hält ihre Existenz für unverzichtbar als "Gegengewicht gegen die Daimler-Messerschmidt-Bölkow-Blohm-BASF-Höchst-Deutsche-Bank Republik" (16).
Seine Vorstellung eines vereinigten Deutschlands hatte er bereits 1984 umrissen. Ihm schwebte damals eine deutsche Konföderation vor, in der die sozialen Errungenschaften in der DDR hätten erhalten werden können. In einem Interview mit der Zeitung Freitag umschreibt er diese Vorstellung so: "In der Form demokratisch, und wirtschaftlich gesehen eine Kombination von sozialistischen und kapitalistischen Elementen. Im einzelnen hätte man sich darüber natürlich unterhalten müssen." (17)
Bald entwickelt er sich zu einem scharfen Kritiker des Vereinigungsprozesses, den er als große Enttäuschung erlebt. Er geißelt die Verschleuderung des staatlichen Eigentums durch die Treuhand. In dem Essayband Auf Sand gebaut (1990) fasst er seine Kritik an der Wiedervereinigung zusammen.
Zeitweilig ist Heym in dieser Zeit der Resignation nahe, als auch die westliche Presse ihn nicht mehr als "Dissidenten" hochhält, sondern versucht, sein Werk als ästhetisch unbefriedigend und "trivial" abzutun. Im Spiegel, der einst nicht müde wurde, ihn als "Ostexperten" zu zitieren, bezeichnet man ihn jetzt in Leserbriefen als "Sudel-Stefan" und hält ihm seine Privilegien in der DDR und seine angebliche Nähe zum SED-Regime vor. Biermann verleumdet ihn als "tapferfeigen Freiheitsfreund".
1992 gipfelt diese Hetze in dem brutalen tätlichen Angriff eines ehemaligen DDR-Bürgers auf ihn, als er in einem Kölner Restaurant mit seinem Freund Klaus Poche am Tisch sitzt. Poche berichtet, bei Heym seien "Urängste hochgekommen,... er wollte so schnell wie möglich Deutschland verlassen." Dann habe er sinngemäß zu dem Angreifer gesagt: "Im Krieg gegen die Faschisten hätte ich auch Ihren Vater vors Gewehr kriegen können. Das wäre schlimm gewesen. Aber dann hätte ich jetzt mit Ihnen keinen Ärger." Der Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Frank Schirrmacher unterstellt ihm daraufhin, er habe den Angreifer provoziert. (18)
Aber sein alter Kampfgeist erwacht, je mehr sich in der neuen Bundesrepublik die sozialen Gegensätze verschärfen und im Osten in riesiges Heer von Arbeitslosen entsteht. Gestärkt fühlt er sich durch die internationale Anerkennung, die ihm nach wie vor zuteil wird.
Er kritisiert in Filz. Gedanken über das neueste Deutschland (München 1992) die Wendehälse aus SED und Stasi ebenso scharf wie die westlichen Kapitalisten und Treuhandschmarotzer, die sich der noch vorhandenen Werte der DDR und der Subventionen bemächtigen. Besonders widerlich sind ihm ehemalige treue Diener der SED-Bürokratie, die jetzt jede Gelegenheit wahrnehmen, sich unter Ausnutzung ihrer alten Verbindungen zum Westen auf Kosten der Masse der Bevölkerung schamlos zu bereichern.
Er wird Mitglied im Komitee für Gerechtigkeit in Ostdeutschland und hofft vergeblich, dass sich daraus eine neue Partei gründen ließe, die den Ostdeutschen eine Stimme geben könnte.
Aus der gleichen Haltung heraus nähert er sich der PDS, der Erbin der SED-Bürokratie, ohne ihr allerdings beizutreten. 1994 entschließt er sich, für sie zum Deutschen Bundestag zu kandidieren. Als Gründe für seine Kandidatur nennt er u.a. seine Befürchtung, in Deutschland könne wie in Jugoslawien ein Bürgerkrieg drohen, wenn Neonazis ihre Zerstörungen fortsetzten oder das Land zur Anarchie der Weimarer Republik zurückkehre. Er glaubt, die PDS unterscheide sich wesentlich von der alten SED, die für den Tod von Tausenden Demokraten und Sozialisten verantwortlich gewesen sei. Mit seiner Kandidatur wolle er dazu beitragen, einen Sozialismus zu schaffen, der den Namen verdiene.
Es gelingt ihm, den SPD-Politiker und späteren Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse in dessen Wahlkreis Prenzlauer Berg in Berlin zu schlagen. Er wird gewählt und darf als Alterspräsident des Bundestags traditionsgemäß die Eröffnungsrede halten. Es wird eine politisch versöhnliche Rede, die trotzdem von den Regierungsparteien mit eisigem Schweigen bedacht wird. Sie erscheint auf Anordnung der Regierung Kohl nicht einmal als offizielle Bundestagsdrucksache.
"Arbeits- und Obdachlosigkeit, Pest und Hunger, Krieg und Gewalttat, Naturkatastrophen bisher unbekannten Ausmaßes begleiten uns täglich", heißt es darin. "Dagegen sind auch die besten Armeen machtlos. Hier braucht es zivile Lösungen, politische, wirtschaftliche, soziale, kulturelle. Reden wir nicht nur von der Entschuldung der Ärmsten. Entschulden wir Sie. Und nicht die Flüchtlinge, die zu uns drängen, sind unsere Feinde, sondern die, die sie in die Flucht treiben.
Toleranz und Achtung gegenüber jedem Einzelnen und Widerspruch und Vielfalt der Meinungen sind vonnöten. Eine politische Kultur, mit der unser Land, das geeinte, seine besten Traditionen einbringen kann in ein geeintes freies friedliches Europa... Die Menschheit kann nur in Solidarität überleben. Das aber erfordert Solidarität zunächst im eigenem Lande. West - Ost. Oben - Unten. Reich - Arm. Ich habe mich immer gefragt, warum die Euphorie über die deutsche Einheit so schnell verflogen ist. Vielleicht, weil ein jeder als erstes Ausschau hielt nach den materiellen Vorteilen, die die Sache ihm bringen würde. Den einen Märkte, Immobilien, billigere Arbeitskräfte, den andern bescheidener - harte Mark und ein grenzenloses Angebot an Gütern und Reisen." (19)
Kurz vor der Rede versucht man offenbar noch sehr gezielt, ihn als Stasizuträger zu diffamieren, was er allerdings rasch entkräften kann. Stefan Heym gehörte selbst zu dem wohl am lückenlosesten ausspionierten Individuen der DDR. Dies ist in seiner vielbändigen Akte gut dokumentiert. Von Inoffiziellen Mitarbeitern wie "Frieda" (Putzfrau der Familie Heym) wurde die Stasi über alle seine Bewegungen, Kontakte und Zusammenkünfte informiert. Jeder Winkel seines Hauses wurde in seiner Abwesenheit fotografiert.
"Als wir unsere Akten einsehen konnten, zu denen jetzt schon wieder neue Bände dazugekommen sind, waren kartonweise auch Fotos dabei", berichtete er später. "Die haben alles im Haus fotografiert, jede Tasse im Schrank, jeden Buchrücken und natürlich die Menschen, die hierher kamen oder zu meinem Geburtstagsfest in einem Restaurant. Man lebte in einer ganz merkwürdigen Öffentlichkeit, einer polizeilichen Öffentlichkeit." (20)
In Der Winter unseres Missvergnügens beschreibt Heym diese Bespitzelung mit den Worten: "Wir hatten gelebt wie unter Glas, aufgespießten Käfern gleich, und jedes Zappeln der Beinchen war mit Interesse bemerkt und ausführlich kommentiert worden." (21)
Zunehmend fühlt Heym sich im wiedervereinigten Deutschland nicht mehr wohl. Er fürchtet, dass ein neues Drittes Reich drohe. Schon seit Längerem hat er sich entschlossen, sein Privatarchiv an die Universitätsbibliothek von Cambridge in England zu geben, weil er es in Deutschland nicht mehr sicher glaubt und darauf vertraut, dass es in England keiner Zensur unterworfen sei.
Bereits 1995 gibt er das Bundestagsmandat wieder zurück, angeblich weil er keine andere Möglichkeit sieht, gegen die gerade beschlossene Diätenerhöhung der Abgeordneten zu protestieren. Thierse schreibt jedoch in einer SPD-Pressemitteilung, der eigentliche Grund für Heyms Rücktritt sei, dass die PDS ihn daran gehindert habe, an der Enquetekommission zur Aufarbeitung der Geschichte der DDR teilzunehmen, die für ihn "eine sehr lange und eine sehr interessante Fußnote der Geschichte" war.(22)
Letzte Romane
Nach dem Zwischenspiel als Politiker wendet sich Heym wieder seiner Arbeit als Schriftsteller zu. Es erscheinen noch zwei Bücher von ihm, Pargfrider und ein Roman über Karl Radek. Beides sind historische Romane, deren Helden nicht zu den Gewinnern gehören. Beide sind keine positiven Helden und eignen sich daher für den Schriftsteller, um den Fragen nachzuspüren, die ihn immer bewegt haben.
Radek ist eine zwar fiktive, aber sorgfältig recherchierte und packend geschriebene Biographie einer der schillerndsten Gestalten der Zweiten und Dritten Internationale, die Heym bewusst als "Roman" bezeichnet. Die Charakteristik des in Galizien geborenen polnischen Juden Lolek Sobelsohn, alias Karl Radek, kommt der historischen Figur vermutlich sehr nahe. Die Lebensgeschichte des 1937 in den Moskauer Prozessen verurteilten und im Gulag umgekommenen Revolutionärs führt den Leser an entscheidende historische Wendepunkte der Geschichte.
Radek nimmt teil an den Beratungen der sozialdemokratischen Opposition in Zimmerwald während des Ersten Weltkriegs, er fährt mit Lenin im plombierten Zug durch Deutschland. Er nimmt mit Adolf Joffe und Leo Trotzki an den Friedensverhandlungen in Brest-Litowsk teil. Er ist 1918/19 in Deutschland, als Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg ermordet werden, und auch 1923, als die revolutionäre Situation in Deutschland durch die zögerliche und unentschlossene Politik von KPD-Führung und Kommintern verpasst wird. Er spricht mit dem todkranken Lenin, wird Mitglied der Linken Opposition, kapituliert aber nach Trotzkis Ausweisung vor Stalin, schreibt die widerlichsten Elogen auf den Diktator und seine Politik und verteufelt Trotzki, dessen Anhänger er noch bis vor kurzem gewesen war.
Heym deutet dies allerdings so, dass Radek bewusst übertrieben habe, um der Nachwelt zu zeigen, was für ein Schurke Stalin war. Und wenn Radek im Prozess schließlich selbst die Regie übernimmt und Stalins stümperhaftes Drehbuch durch sein eigenes ersetzt, um der Welt die Absurdität dieser Veranstaltung vor Augen zu führen, obwohl er sich selbst dadurch das sichere Todesurteil spricht, dann drückt sich darin wohl auch ein Stück Resignation und ein gewisser Zynismus des Autors angesichts des "Scheiterns des Sozialismus" aus, das 1989 in aller Welt lauthals verkündet wird.
Radek ist der Roman einer tragisch gescheiterten, isoliert gebliebenen Revolution. Die historische Rolle Trotzkis, des Gründers der Linken Opposition und der Vierten Internationale, bleibt unscharf, daher dominiert in diesem Buch eine pessimistische Stimmung. Mit Radek - wie mit vielen seiner Helden - identifiziert sich Heym offensichtlich zumindest teilweise. Wie Radek hat auch sein Autor nichts weiter erreicht, als dem Regime, das er nie ganz verurteilt, aber auch nie ganz akzeptiert hat, den kritischen Spiegel vorzuhalten.
Diese pessimistische Haltung drückt sich bereits in der sehr distanzierten Darstellung der Oktoberrevolution aus, die durch die Brille Radeks, des mitten im Kampfgetümmel seltsam außerhalb stehenden Beobachters, gesehen wird. Auch die starke Überbetonung der Bedeutung der finanziellen und politischen Manöver eines Parvus (Alexander Helphand) für das Gelingen der Revolution deutet auf das ambivalente Verhältnis hin, das der Autor zu diesem historischen Eingreifen der Massen in die Geschichte und der Rolle der Bolschewiki unter Lenin und Trotzki hat.
Pargfrider, ebenfalls eine historische Gestalt, ein bedeutender jüdischer Tuchhändler, dem die gesellschaftliche Anerkennung verweigert wird, spielt in der nachnapoleonischen Zeit . "Was ist von den großen Ideen geblieben, mit denen dieses Jahrhundert antrat, was aus dem Menschheitswohl, das es zu bringen versprach?", sagt Pargfrider einmal über die französische Revolution und Napoleon.
Diese großen Ideen, vor allem die des Sozialismus, die Oktoberrevolution und ihr historisches Schicksal, die das zwanzigste Jahrhundert prägten, haben den Schriftsteller Stefan Heym nie losgelassen, auch wenn die Hoffnung auf ihre Verwirklichung immer schwächer wurde. In seinem letzten Vortrag in Jerusalem schildert er seinem Publikum den Dichter Heinrich Heine, der auch sein Leben lang gekämpft habe, ohne zu siegen, aber auch ohne aufzugeben, und der seinen Schmerz hinter Witz und Ironie versteckte, eine Haltung, die auch für Leben und Werk von Stefan Heym charakteristisch war, der sich an den Widersprüchen seiner Zeit abgearbeitet hat:
"Wenn mich einer fragte: In welcher Zeit hättest du gerne gelebt? würde ich ihm antworten: In unserer. Denn noch nie, glaube ich, gab es eine Zeit mit so raschen, so tief einschneidenden Veränderungen, mit so enormen Widersprüchen, so fürchterlichen Verstrickungen und Verteufelungen des Menschen, nie aber auch eine Zeit, in der der Mensch so sehr über sich hinauswächst und mit solcher Kühnheit eine neue, kaum erahnte Welt schafft: eine Zeit also, wie ein Schriftsteller für seine Zwecke sie sich nicht schöner wünschen könnte, selbst auf die Gefahr hin, dass er in ihre Strudel gerät... Durch die Darstellung von Gefühlen und Schicksalen habe ich mich bemüht, den Menschen etwas zu geben, ihnen vielleicht auch ein wenig vorwärts zu helfen und so zur Veränderung unserer Welt beizutragen. Dabei war mir natürlich klar, dass der Einfluss des Wortes beschränkt ist, dass er sich oft auch nur indirekt auswirkt, und dass der einzelne überhaupt nur wirken kann in Wechselbeziehung zur Gruppe, zum Kollektiv, zum Ganzen. Der Rufer in der Wüste wirkt immer leicht komisch, er muss sich schon dorthin bemühen, wo die anderen sind, aber manchmal ist es auch notwendig zu rufen, wenn es scheint, als ob nichts als Wüste um einen herum ist." (23)
Ende
Anmerkungen:
11) Darin heißt es: "Wolf Biermann war und ist ein unbequemer Dichter - das hat er mit vielen Dichtern der Vergangenheit gemein. Unser sozialistischer Staat, eingedenk des Wortes aus Marxens 18. Brumaire, demzufolge die proletarische Revolution sich unablässig selbst kritisiert, müsste im Gegensatz zu anachronistischen Gesellschaftsformen eine solche Unbequemlichkeit gelassen nachdenkend ertragen können. Wir identifizieren uns nicht mit jedem Wort und jeder Handlung Wolf Biermanns und distanzieren uns von den Versuchen, die Vorgänge um Biermann gegen die DDR zu missbrauchen. Biermann selbst hat nie, auch nicht in Köln, Zweifel darüber gelassen, für welchen der beiden deutschen Staaten er bei aller Kritik eintritt. Wir protestieren gegen seine Ausbürgerung und bitten darum, die beschlossenen Maßnahmen zu überdenken." Unterzeichnet haben auch Sarah Kirsch, Christa Wolf, Erich Arendt, Jurek Becker, Volker Braun, Franz Fühmann, Stephan Hermlin, Stefan Heym, Günter Kunert, Heiner Müller, Rolf Schneider, Gerhard Wolf. (Klaus Wagenbach u.a. (Hg.): Vaterland, Muttersprache. Deutsche Schriftsteller und ihr Staat von 1945 bis heute, Berlin 1979, S. 303)
12) Nachruf, S. 802
13) ebd , S. 773
14) Rede auf der Demonstration am 4. November. In: Stefan Heym: Einmischung. Gespräche, Reden, Essays. Ed. Inge Heym und Heinfried Henniger. München: 1990 S. 288
15) Aschermittwoch in der DDR. In: Der Spiegel 1990
16) Die Zeit, 13. Okt. 1989
17) Freitag, 8.Oktober 1999
18) Reinhard K. Zachau: Stefan Heym und die deutsche Einheit. Eine Fußnote der Geschichte ?: www.goethe.de/os/hon/aut/dehey.htm
19) 1994 Rede zur Eröffnung des Bundestags
20) Das Interview mit Stefan und Inge Heym erschien im Spiegel online, 18. Dezember 2001
21) Stefan Heym: Der Winter unseres Missvergnügens, Goldmann Taschenbuch, 1996, S.14
22) vergl . Zachau a.a. O
23) Heym: Stalin verlässt den Raum, a.a.O., S. 5f