Europäische Solidaritätsbekundungen mit den USA überdecken tiefe Spannungen
Von Peter Schwarz
18. September 2001
Der Atlantikrat hat am vergangenen Mittwoch erstmals in der 52-jährigen Geschichte der Nato das Eintreten des kollektiven Verteidigungsfalls beschlossen. Keine 48 Stunden nach den Anschlägen auf das World Trade Center und das Pentagon, und bevor irgendwelche Einzelheiten über deren Hintermänner bekannt waren, verpflichteten sich die 19 Mitglieder der Allianz, die Anschläge in den USA wie einen Angriff auf das eigene Land zu werten.
Der Beschluss kommt einem Persilschein für die Kriegsvorbereitungen der USA gleich. Ohne dass der Gegner überhaupt bekannt war, sprach die Nato eine Kriegserklärung aus und übernahm damit im voraus die politische Verantwortung für die militärischen Vergeltungsschläge, die die US-Regierung zur Zeit vorbereitet. Praktisch hat der Beschluss allerdings keine unmittelbaren Konsequenzen. Die Entscheidung über die Form der Unterstützung für die USA, einschließlich des Einsatzes eigener Streitkräfte, bleibt den Regierungen der einzelnen Mitgliedsländer vorbehalten.
Diese sind seither nicht müde geworden, öffentlich ihre Verbundenheit mit der US-Regierung zu bekunden. Bundeskanzler Gerhard Schröder hat während der vergangenen Tage wiederholt seine "uneingeschränkte, ich wiederhole: uneingeschränkte Solidarität" bekräftigt und dabei ausdrücklich hervorgehoben, dass er auch einen militärischen Beitrag Deutschlands zu einem US-Gegenschlag für denkbar halte.
Schröder wird dabei nicht nur von der eigenen Partei und den Grünen unterstützt, sondern auch von der Opposition. Die heftigen Auseinandersetzungen der vergangenen Woche - über das Verhalten von Verteidigungsminister Scharping, das geplante Zuwanderungsgesetz und die wirtschaftliche Lage - sind wie vom Tisch gewischt. Unionsfraktionschef Friedrich Merz bot der Bundesregierung eine "nationale Allianz der Entschlossenheit" an und sicherte ihr die "uneingeschränkte Unterstützung" seiner Fraktion zu. CSU-Chef Edmund Stoiber erklärte, die Union sei "zur Teilhabe an der Verantwortung bereit", CDU-Vize Volker Rühe beschwor die Gemeinsamkeiten der "großen Volksparteien SPD und Union" und Fraktionsvize Wolfgang Bosbach sprach sogar von einer "großen Koalition der Vernunft" - was Spekulationen über eine Einbeziehung der Union in die Regierung auslöste.
Selbst Gregor Gysi, dessen PDS als einzige im Bundestag vertretene Partei den Nato-Beschluss ablehnt, sprach sich am Montag in der Berliner Zeitung für "begrenzte militärische Aktionen" aus.
Ähnlich wie Schröder hat auch der französische Staatspräsident Jacques Chirac in einem Interview mit dem US-Sender CNN die "totale Solidarität" Frankreichs mit den USA betont.
Wie sind diese demonstrativen Solidaritätsbekundungen zu werten?
Zum einen sind sie ein Ergebnis davon, dass sich auch die europäischen Regierungen durch die Terroranschläge bedroht fühlen. So reaktionär und verabscheuenswürdig diese Anschläge sind, liegen ihre politischen Wurzeln doch in der jahrzehntelangen kolonialen Unterdrückung und Ausplünderung des Nahen Ostens. Und daran waren die europäischen Mächte ebenso und noch länger beteiligt als die USA - von der Aufteilung des osmanischen Reiches zwischen Großbritannien und Frankreich zu Beginn bis zum Krieg gegen den Irak am Ende des 20. Jahrhunderts.
Viele Pressekommentare treten deshalb auch weiterhin für eine bedingungslose Unterstützung der angekündigten amerikanischen Militärschläge ein.
So erklärt Peter Münch in der Süddeutschen Zeitung vom Montag, der fundamentalistische Terror richte sich "gegen die gesamte westliche Zivilisation" und folgert daraus: "Diese Bedrohung rechtfertigt und verlangt eine entschlossene Antwort. Appeasement hilft nicht weiter. Es ist, so martialisch das klingt, der Zeitpunkt gekommen, den aufgezwungenen Kampf anzunehmen."
Kurt Kister wettert in derselben Zeitung gegen die "Schlaumeier", die "die internationale Politik nach juristischen Kriterien" beurteilen: "Sie können sich endlos darüber auslassen, wann ein Krieg wirklich ein Krieg ist und ob ein Präsident nicht zuerst einen Durchsuchungsbefehl der UN erwirken sollte, bevor er die Special Forces in Marsch setzt. Leider wird die Welt nicht von einem allgemein gültigen Gesetz oder einem globalen Strafgesetzbuch regiert - schon allein, weil es niemand frei von eigenen Interessen durchsetzen könnte. Die meisten Juristologen wissen immer genau, was man nicht tun darf - was dagegen zu tun ist, zum Beispiel nach dem Blutbad von Manhattan, wissen sie nicht."
Wer erinnert sich noch daran, dass der Krieg gegen den Irak damit gerechtfertigt wurde, dass Saddam Hussein das Völkerrecht gebrochen habe!
Es mehren sich aber auch die Stimmen, die vor den Folgen eines militärischen Gegenschlages warnen. Bundespräsident Johannes Rau sagte am Freitag in einer Ansprache vor dem Brandenburger Tor, zu der sich etwa 200.000 Personen versammelt hatten, die Bekämpfung des Terrorismus benötige einen "langen Atem". Nur durch politische Handeln könne "den Propheten der Gewalt" der Boden entzogen werden. Man müsse der Armut, Ausbeutung, dem Elend und der Rechtlosigkeit begegnen, die Menschen verzweifeln lasse und manchen zu Gewalt und Terror verführe.
Zwei Tage später warnte er in einem Radiointerview davor, "dass wir uns jetzt nicht in einen Krieg hineinreden". Die Attentäter müssten nicht in einer Militäraktion bestraft, sondern aufgespürt und vor Gericht gestellt werden. Im Gegensatz zu Schröder äußerte Rau die Erwartung, dass sich die Bundeswehr nicht militärisch an Aktionen der USA beteilige.
Auch französische Regierungsmitglieder äußerten sich kritisch. Premierminister Lionel Jospin hob in einer Kabinettssitzung hervor, dass Frankreichs Solidarität mit den USA keinen Verzicht auf seine eigene Beurteilung und Souveränität bedeute. Er warnte davor, eine "Konfrontation zwischen der westlichen Welt und der islamischen Welt als solcher" herbeizureden. "Wir haben Freunde und Partner dort, wir müssen unseren Kopf behalten," sagte er.
Außenminister Hubert Védrine erklärte vor dem Parlament: "Unsere Solidarität schließt nicht aus, dass jede Seite selbst darüber befindet, welche Aktionen, einschließlich der militärischen Gewalt, sie für notwendig hält." Und Verteidigungsminister Alain Richard betonte, Entscheidungen im Rahmen der Allianz seien nationale Entscheidungen.
Gesundheitsminister Bernard Kouchner, früher Vorsitzender der "Ärzte ohne Grenzen", sagte, dass "eine Reihe von Irrtümern" der USA für die Anschläge verantwortlich seien. "Amerika hat in Afghanistan und Pakistan einen wirklichen Fehler gemacht, indem es die Taliban ausbildete... Wer glaubt, es gebe eine Art Übereinstimmung von ehrenhaften' Nationen gegen schlechte' Terroristen, liegt schlicht daneben," betonte er.
Hinter dieser Kritik verbirgt sich zum einen die Angst, dass amerikanische Militärschläge in einem Desaster enden könnten, den gesamten Nahen Osten destabilisieren und auf Europa zurückwirken.
Massive Militäraktionen gegen nahöstliche Staaten - wie den Irak - würden gesellschaftliche Kräfte in Bewegung setzen, die weit umfangreicher sind als die Terroristengruppen, die hinter den Anschlägen in den USA stecken. Diese Furcht treibt nicht nur die europäischen Regierungen um, sondern auch die äußerst instabilen Regime in Saudiarabien, Jordanien, Ägypten und anderen nahöstlichen Ländern, auf die sich die USA ebenso wie die Europäer stützen. Die Rückwirkungen einer solchen Bewegung auf die Millionen in Europa lebenden Menschen moslemischen Glaubens und anschwellende Flüchtlingsströme würden auch den europäischen Regierungen erhebliche Schwierigkeiten bereiten.
Zum anderen sind der Nahe Osten und Mittelasien mit ihren riesigen Ölreserven seit langem das Objekt strategischer und ökonomischer Konkurrenz zwischen den Großmächten. Zumindest die strategischen Köpfe in den europäischen Regierungen gehen davon aus, dass die USA unter dem Deckmantel des Kampfes gegen den Terrorismus versuchen, ihre eigene Vorherrschaft über die Region zu festigen.
Die öffentlich bekundete Solidarität mit den USA entspringt daher zu einem großen Teil auch taktischem Kalkül. Ein offener Konflikt in der gegenwärtigen Lage, so die Überlegung, würde die Europäer jeder Möglichkeit berauben, die USA zu beeinflussen und zu zügeln, und den Bestand des Nato-Bündnisses insgesamt gefährden.
"Wenn die europäischen Alliierten sich zurückhalten oder ein retardierendes Moment in die Krisenaktion einführen sollten, würde das euro-atlantische' Bündnis zum ersten Mal in die Gefahr einer Lockerung der transatlantischen Bindung kommen," schreibt Lothar Rühl in einem Beitrag für die Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom Montag , der sich mit den Auswirkungen der gegenwärtigen Krise auf die Nato befasst. Rühl ist der Ansicht, dass "die vom Terrorangriff auf Amerika verursachte internationale Krise die Auflösung der aus der Ost-West-Konfrontation überkommenen Formationen der internationalen Politik beschleunigt".
Europa und insbesondere Deutschland und Frankreich bemühen sich seit zehn Jahren um eine größere militärische Selbständigkeit gegenüber den USA, um ihre eignen Großmachtinteressen verstärkt wahrnehmen zu können. Es ist in dieser Zeit zu scharfen Spannungen gekommen - über die Haltung zur UCK im Kosovo und Mazedonien, über das geplante Raketenabwehrsystem und viele andere Fragen. Doch nun fürchten sie, dass es zum Auseinanderbrechen kommt, bevor sie genügend darauf vorbereitet sind. "Die EU ist weder stark genug noch bereit, die strategische Autonomie' im Bündnis mit Washington zu verwirklichen," schreibt Rühl.
Es gibt allerdings auch schon Stimmen, die den Versuch einer weiteren Zusammenarbeit mit den USA im Rahmen der Nato für kontraproduktiv halten.
Nach dem Beschluss für den kollektiven Verteidigungsfall, heißt es zum Beispiel im Spiegel, sitze die Nato "in einer militärischen Eskalations- und Solidaritätsfalle": "Schon früher scherten sich die USA wenig um kollektive Interessen, wenn es um eigene ging. Die neue Dimension des Terrors, der als kriegerischer Akt empfunden wird, zwingt die Nato-Partner zwar zu Recht an die Seite der Amerikaner. Aber erfahrungsgemäß handeln die nach eigenen Maßstäben."
Schon jetzt ist absehbar, dass die gegenwärtige Krise die Entwicklung des Militarismus auch in Europa und Deutschland enorm beschleunigen wird. Die Bundesregierung diskutiert bereits eine Lockerung ihres bisherigen Sparkurses zugunsten einer besseren Finanzierung der Bundeswehr. Aber auch viele Kritiker der US-Politik unterstützen eine verstärkte militärische Aufrüstung Europas.