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Tony Blairs Dossier gegen bin Laden: keine Beweise, sondern ein Kriegsvorwand

Von Chris Marsden und Barry Grey
8. Oktober 2001

Das Dokument, das Premierminister Tony Blair am 4. Oktober dem britischen Parlament vorstellte, wurde von den Medien als Beweis gewertet, dass Osama bin Laden und seine Organisation al-Qaida die Terroranschläge vom 11. September in New York und Washington geplant und durchgeführt hätten. Doch bei Licht betrachtet besteht Blairs Dossier aus stümperhaft zusammengeschusterten Behauptungen, mit denen weder die Schuld bin Ladens noch die Komplizenschaft seiner Beschützer, der Taliban, schlüssig nachgewiesen werden kann.

Wenn man das Dokument sorgfältig liest, erweist es sich als Versuch, allen weiteren Forderungen nach Beweisen für bin Ladens Schuld einen Riegel vorzuschieben, ohne ihnen wirklich nachzukommen. Auf diese Weise soll es den USA und Großbritannien erleichtert werden, einen Krieg gegen Afghanistan zu beginnen.

Vergangene Woche brach die Bush-Regierung ihr Versprechen, der Öffentlichkeit die Beweise, die ihr für bin Ladens Schuld angeblich vorlagen, im Einzelnen zu präsentieren. Wenn alles nach Plan verlaufen wäre, dann wäre es dabei zweifellos auch geblieben. Es hätte Bomben auf Afghanistan geregnet, ohne dass man auch nur versucht hätte, die Vorwürfe gegen bin Laden und die Taliban zu untermauern.

Doch die Regierungen Pakistans und der arabischen Länder stellten sich Bush entgegen. Sie befürchteten eine explosive Reaktion in ihren eigenen Ländern, falls die USA ohne jeden konkreten, rechtfertigenden Beweis anfangen sollten, ein muslimisches Land zu bombardieren. Das von Blair vorgestellte Dokument war Bestandteil eines internationalen Vorstoßes, der Amerikas schwankende Verbündete zufrieden stellen und ihnen etwas an die Hand geben sollte, das sie der eigenen Bevölkerung präsentieren konnten.

Das Dossier beginnt mit folgendem Vorbehalt: "Dieses Dokument erhebt nicht den Anspruch, Anklagen gegen Osama bin Laden zu begründen, die für einen Gerichtsprozess ausreichen würden." Dieses Eingeständnis wird damit gerechtfertigt, dass "geheimdienstliche Erkenntnisse aufgrund strenger Zulässigkeitsregeln und des notwendigen Schutzes der Quellen oft nicht als Beweismaterialien verwendet werden können".

Drei Feststellungen sind an dieser Stelle angebracht.

Erstens: Die Behauptung, zur Rechtfertigung eines Krieges genügten Beweise von geringerer Qualität, als sie einem Gericht zur Entscheidung über Schuld und Unschuld im Allgemeinen vorliegen müssen, ist bestenfalls zweifelhaft. Angesichts der nicht absehbaren Folgen eines militärischen Angriffs sollten an die Beweislage in diesem Fall mindestens ebenso strenge Anforderungen gestellt werden wie in einem Gerichtsprozess. Vor Gericht geht es um das Schicksal von Angeklagten als Einzelpersonen, die vorgesehenen Militärschläge der USA und Großbritannien hingegen gefährden das Leben einer unabsehbaren Anzahl unschuldiger Zivilisten.

Zweitens: Die Behauptung, dass Regierungen, die in Kürze einen Krieg beginnen werden, aufgrund geheimdienstlicher Erwägungen keine Beweise vorlegen müssen, um ihr Vorgehen zu rechtfertigen, ist ein Blankoscheck für jede erdenkliche Militäraktion. Selbst wenn man zugestehen wollte, dass gewisse Beweise zu Recht unter Verschluss bleiben sollten, ist es nicht glaubwürdig, dass aus Sicherheitsgründen überhaupt kein konkreter Beweis an die Öffentlichkeit gelangen dürfe. Wer einen solchen Standpunkt vertritt, maßt sich das Recht an, Richter, Jury und Vollstrecker in einer Person zu sein.

Drittens: Blairs Dokument ist keine seriöse Darlegung von Beweisen, die lediglich den strengen Normen juristischer Anklageschriften nicht entsprechen würde. Sie enthält keine von unabhängiger Seite verifizierbaren Tatsachen, aus denen eine Schuld bin Ladens, der al-Qaida oder der Taliban im Zusammenhang mit den Terroranschlägen vom 11. September hervorgehen würde.

Die meisten in dem Dokument beinhalteten Aussagen waren bereits zuvor in den Medien berichtet worden. Für keine einzige Anschuldigung wird ein Beweis angeführt. Dem Leser wird zugemutet, alle Behauptungen auf Treu und Glauben zu übernehmen.

Das Dokument ist in drei Abschnitte untergliedert. Der wichtigste Teil ist derjenige, der vorgeblich die Rolle der al-Qaida in den Terroranschlägen vom 11. September behandelt. Er umfasst nur neun der siebzig Punkte, aus denen das 15-seitige Papier besteht.

Die Verfasser haben offenbar versucht, den fadenscheinigen Inhalt dieses zentralen Abschnitts zu bemänteln. Seite um Seite wird ausgeführt, wie die al-Qaida in frühere Terroranschläge gegen die USA verwickelt gewesen sei. Ergänzt wird dies durch Ausführungen über die historischen Wurzeln des von bin Laden geführten Netzwerks und des Taliban-Regimes.

In dem Abschnitt über den 11. September wird ein einziger scheinbar konkreter Zusammenhang zwischen der al-Qaida und den Anschlägen hergestellt. Er besteht in der Behauptung, dass von den 19 identifizierten Luftpiraten "mindestens drei eindeutig als Gefolgsleute der al-Qaida identifiziert worden sind. Einer spielte erwiesenermaßen eine Schlüsselrolle sowohl bei dem Angriff auf die Botschaft in Ostafrika als auch auf die USS Cole."

Doch diese Aussage wirft mehr Fragen auf, als sie beantwortet. Wenn die Identität dieser drei Männer bekannt ist, weshalb werden ihre Namen nicht genannt? Welchen Schaden könnte das nach sich ziehen?

Zweitens ist die Bezeichnung "Gefolgsleute der al-Qaida" derart breit gefasst und verschwommen, dass sie geradezu bedeutungslos wird. Das Dokument räumt ein, dass die al-Qaida eine lose gefügte Organisation ist, die aus zahlreichen verschiedenen Gruppierungen besteht. Selbst wenn sich die drei Genannten in irgend einer Weise zur al-Qaida bekannt hätten, würde dies an sich noch nicht beweisen, dass die al-Qaida oder bin Laden persönlich die Anschläge vom 11. September geplant oder angeordnet hätten. Und schließlich wird die bloße Behauptung aufgestellt, es gebe Beweise für eine Verbindung der drei zur al-Qaida, doch das Dokument nennt sie nicht.

Gerade die Bush-Regierung bewegt sich auf dünnem Eis, wenn sie unbestimmt von "Verbindungen" zwischen bin Laden, bin Ladens Verbündeten und verschiedenen anderen Individuen spricht. Ausgerechnet das Wall Street Journal berichtete am 27. September, es gebe dokumentierte Verbindungen zwischen führenden Figuren der Republikanischen Partei - unter ihnen George W. Bushs Vater, der ehemalige Präsident - und der Familie bin Laden.

Das Journal schrieb: "Im Rahmen ihrer weit gespannten Geschäftsinteressen investiert der wohlbestallte saudi-arabische Clan - der sich nach eigenen Angaben von Osama losgesagt hat - in einen Fonds, den die Carlyle Group gegründet hat, eine gut eingeführte Handelsbank in Washington, die sich auf Übernahmen von Unternehmen der Verteidigungs- und Luftfahrtindustrie spezialisiert hat."

"Durch diese Investitionen und ihre Verbindungen zum saudischen Königshaus lernte die Familie bin Laden einige Spitzenpolitiker der Republikanischen Partei kennen. In den letzten Jahren sind der ehemalige Präsident Bush, der ehemalige Außenminister James Baker und der ehemalige Verteidigungsminister Frank Carlucci zur Hauptresidenz der Familie bin Laden in der saudi-arabischen Stadt Jeddah gepilgert."

Hinsichtlich der Ereignisse vom 11. September werden in dem Dokument noch weitere Behauptungen aufgestellt: bin Laden habe persönlich kurz vor dem 11. September gesagt, dass er einen groß angelegten Angriff auf Amerika vorbereite, und enge Verbündete aufgefordert, bis zum 10. September aus anderen Teilen der Welt nach Afghanistan zurückzukehren. Weiter heißt es: "Seit dem 11. September haben wir erfahren, dass einer der engsten und hochrangigsten Vertrauten bin Ladens für die detaillierte Planung der Angriffe verantwortlich war."

Auch hier wird ein Mann, der angeblich der Führungsspitze von bin Ladens Organisation angehört und direkt für den entsetzlichen Terror verantwortlich ist, nicht namentlich genannt. Weshalb nicht?

Folgende aufschlussreiche Aussage schließt sich an: "Gewisse Beweise für die Schuld bin Ladens und seiner Verbündeten sind so beschaffen, dass sich ihre Veröffentlichung verbietet."

Ob sich die Verfasser des Papiers darüber bewusst sind oder nicht, dieser Satz ist ein stillschweigendes Eingeständnis, dass sie nichts vorgelegt haben, das "so beschaffen" wäre, dass es einen Zusammenhang zwischen bin Laden und den Anschlägen vom 11. September erkennen ließe.

Die Beweise hinsichtlich früherer Terroranschläge sind kaum stichhaltiger. Im Zusammenhang mit einigen bekannten Anschlägen werden Namen und Vorfälle angeführt, die aus gerichtlichen Aussagen einiger einzelner Angeklagter zusammengestellt wurden, die unter erheblichem Druck zustande gekommen waren.

Um die augenfälligen Lücken zu schließen, wird im Rahmen eines ausführlichen Vorworts über die Geschichte der al-Qaida folgende Behauptung aufgestellt: "Osama bin Laden hat die Verantwortung für den Anschlag auf US-Soldaten in Somalia vom Oktober 1993 übernommen, bei dem 18 Personen getötet wurden, für den Anschlag auf die US-Botschaften in Kenia und Tansania vom August 1998, bei dem 224 Menschen getötet und nahezu 5000 verletzt wurden, und stand in Zusammenhang mit dem Anschlag auf die USS Cole vom 12. Oktober 2000, bei dem 17 Besatzungsmitglieder ums Leben kamen und 40 weitere verwundet wurden."

Tatsache ist, dass Osama bin Laden niemals die Verantwortung für diese Anschläge übernommen hat. Das Dokument enthält auch keine entsprechenden Zitate. Stattdessen wird der Leser auf diverse anti-amerikanische Aussagen und Bemerkungen bin Ladens verwiesen, in denen er die gegen die USA gerichteten Terroranschläge unterstützte.

(Der Angriff auf amerikanische Soldaten in Somalia gehört überhaupt nicht in diesen Zusammenhang. Dieser Vorfall kann nicht als Terroranschlag im eigentlichen Sinne gewertet werden, denn die daran beteiligten Somalis griffen keine Zivilisten, sondern amerikanische Soldaten an, und beteiligten sich damit am Widerstand gegen die amerikanische Besatzung ihres Landes. Darüber hinaus befanden sich die US-Truppen gerade in einer aggressiven Aktion, um somalische Funktionäre zu fangen, die sich den Plänen Amerikas widersetzt hatten.)

Das in dem Papier selbst dargelegte Material widerspricht der Behauptung, dass bin Laden die Verantwortung für die genannten Terroranschläge übernommen habe. Als das Time -Magazin bin Laden Fragen über die Bombenangriffe auf die amerikanischen Botschaften in Nairobi (Kenia) und Dar es Salaam (Tansania) vom August 1998 stellte, wollte er die Verantwortung dafür weder übernehmen noch ablehnen. In seiner von der Zeitung zitierten Antwort wiederholte er einfach in anderen Worten seine Fatwa, gefolgt von der Erklärung: "Unsere Aufgabe besteht darin, anzustiften. Das haben wir bei der Gnade Gottes getan, und bestimmte Leute haben auf diese Anstiftung reagiert." Auf die Frage, ob er die Angreifer kenne, bezeichnete bin Laden sie einfach als "echte Männer". So bedauerlich diese Aussagen auch sein mögen, sie stellen keine Übernahme der Verantwortung dar.

In Punkt 51 des Papiers wird von der Existenz von Dokumenten gesprochen, in denen eine getrennte Gruppe, die Islamische Armee für die Befreiung der heiligen Stätten, die Verantwortung für die Bombenanschläge auf die Botschaft in Ostafrika übernimmt. Diese nicht ins Bild passende Information wird mit der Bemerkung, es handele sich um eine "fiktive" Organisation, einfach beiseite gewischt.

Es gibt eine Stelle in dem Papier, die seiner eigenen Grundaussage widerspricht, dass aus Sicherheitserwägungen heraus keine spezifischen Beweise genannt werden könnten. In Punkt 14 des Dossiers wird behauptet, dass die amerikanische Regierung den Taliban "lange vor dem 11. September 2001" Beweise für al-Qaidas Schuld als Drahtzieher der Anschläge auf die ostafrikanische Botschaft überreicht habe.

Wenn sich die US-Regierung in der Lage sah, den Taliban - die sie mittlerweile der Unterstützung einer globalen Mordagentur gegen Amerika beschuldigt - geheimdienstliche Erkenntnisse zu übermitteln, wie kann es dann sein, dass sie jetzt die Notwendigkeit von Geheimhaltung und Quellenschutz anführt, um zu rechtfertigen, dass ihren eigenen Bürgern und dem Rest der Welt entscheidende Beweise vorenthält?

In politischer Hinsicht ist derjenige Abschnitt von Blairs Dossier am aufschlussreichsten, der beansprucht, die historischen Wurzeln der al-Qaida und des Taliban-Regimes aufzuzeigen. Diese zusammengestückelte Geschichtsschreibung weist deutliche Lücken auf und lässt damit erkennen, dass sowohl die USA als auch Großbritannien entscheidende Tatsachen verschleiern wollen, weil aus diesen hervorgehen würde, dass die früheren und heutigen Regierungen in Washington und London für den Aufstieg bin Ladens und der Taliban ebenso verantwortlich sind wie dafür, dass sich der von ihnen vertretene reaktionäre Nationalismus und religiöse Obskurantismus in ganz Zentralasien und dem Nahen und Mittleren Osten verbreitet hat.

Ausgangspunkt des Papiers ist das Jahr 1989, in dem bin Laden und andere die al-Qaida gegründet haben sollen. Auf diese Weise vermeiden die Verfasser elegant jeden Hinweis auf das vorangegangene Jahrzehnt, in dem die amerikanische CIA mit Hilfe des britischen Special Air Service die Mudschaheddin finanziert, ausgebildet und bewaffnet hatte. Dies geschah im Rahmen des Kalten Krieges gegen die Sowjetunion, die 1979 in Afghanistan einmarschiert und zehn Jahre später wieder abgezogen war. Ein Partner, mit dem die Amerikaner zusammenarbeiteten, um den sowjetischen Einfluss zu untergraben, war Osama bin Laden.

Das ist die wirkliche Geschichte, die man kennen muss, um zu verstehen, weshalb die säkularen politischen Kräfte in Afghanistan vernichtet wurden und wie aus dem Nichts die Taliban aufstiegen. Ihre ideologischen und politischen Wurzeln liegen in den Mudschaheddin-Gruppen, die von den USA gezüchtet worden waren. (Die alte Verbindung zwischen den USA und den Taliban zeigte sich daran, dass Washington die Machtübernahme der Taliban 1996 zunächst stillschweigend unterstützte.)

Wenn diese unausgegorene Mischung aus unbewiesenen Behauptungen und Geschichtsfälschungen alles ist, was nach dreieinhalb Wochen der Öffentlichkeit vorgelegt werden kann, dann gibt es dafür nur zwei denkbare Erklärungen:

Entweder die US-Regierung hat keine Beweise für eine direkte Verbindung zwischen Osama bin Laden, den Taliban und den Anschlägen vom 11. September, oder sie kann die ihr vorliegenden Beweise nicht veröffentlichen, weil dadurch Individuen oder Organisationen mit dem Anschlägen in Zusammenhang gebracht würden, die mit den Geheimdiensten Amerikas oder eines verbündeten Staates in Verbindung stehen.

Das World Socialist Web Site deckt den unaufrichtigen Charakter des Blair-Dossiers keineswegs deshalb auf, weil es bestrebt wäre, bin Laden oder die Taliban zu beschützen oder für ihre Unschuld hinsichtlich der Angriffe des vergangenen Monats zu plädieren. Es ist durchaus möglich, dass sie an diesen Anschlägen beteiligt waren. Ihre Politik und ihre Methoden sind zutiefst reaktionär. Sie stehen den Interessen der Arbeiterklasse und der unterdrückten Massen im Nahen Osten, in Zentralasien und in jedem anderen Teil der Welt feindlich gegenüber.

Doch unsere Ablehnung des islamischen Fundamentalismus und Terrorismus mindert nicht im Geringsten unsere Opposition gegen die amerikanische und die britische Regierung sowie deren militaristische Pläne. Die Tatsache, dass sie der Öffentlichkeit keine ernst zu nehmenden Beweise für die Schuld derjenigen präsentieren, die sie zum Objekt ihrer Rache erkoren haben, ist von enormer Bedeutung. Sie zeigt, dass sie die Tragödie vom 11. September ausnutzen, um weltpolitische Pläne in die Tat umzusetzen, die schon seit langem bestehen. Sie versuchen ein Kriegsfieber zu schüren, damit sie ihre geostrategischen Ziele in den ölreichen Regionen des Nahen und Mittleren Ostens und Zentralasiens mit Methoden verfolgen können, die vor dem 11. September politisch nicht durchsetzbar gewesen wären.