In Afghanistan entwickelt sich eine humanitäre Katastrophe
Korrespondentenbericht
2. Oktober 2001
aus dem Englischen (25. September 2001)
Welcher Art auch immer der Militärschlag sein wird, den die USA und ihre Verbündeten gegen Afghanistan führen werden - sicher ist, dass er für das verarmte Land, das sowieso schon von über zwanzig Jahren Bürgerkrieg, von Dürre und einer langen Zeit wirtschaftlicher Rückständigkeit und Verarmung gezeichnet ist, eine humanitäre Krise bedeutet.
Rund drei Millionen Afghanen leben in primitiven Flüchtlingslagern in den Nachbarländern Pakistan und Iran. In Afghanistan selbst werden schätzungsweise eine Million Menschen als "Flüchtlinge im eigenen Land" vermutet - verzweifelt auf der Suche nach Nahrung und Unterkunft. Mehreren Berichten zufolge befinden sich viele, die in den Dörfern festsitzen und denen grundlegende Versorgung und die Möglichkeit zum Entkommen fehlen, in einer noch schlimmeren Situation.
Jetzt haben die drohenden Angriffe der USA und die zunehmenden Kämpfe der islamisch-fundamentalistischen Taliban mit der oppositionellen Nordallianz weitere Tausende auf die Straße getrieben. Obwohl Pakistan und der Iran ihre Grenzen geschlossen haben, sind einige zehntausend Flüchtlinge auf kleinen Straßen und Wegen nach Pakistan eingesickert. Hilfsagenturen schätzen, dass schon über eine Million Menschen versuchen, das Land zu verlassen - eine Zahl, die in die Höhe schnellen wird, wenn der Konflikt eskaliert.
Berichte aus Afghanistan deuten darauf hin, dass sich die Städte zu leeren beginnen. Der UNO-Hochkommissar für Flüchtlingsfragen (UNHCR) berichtet, dass Kandahar, wo die Taliban ihr Hauptquartier haben, schon halb leer sei. Auch Kabul und Jalalabad würden entvölkert.
Der Sprecher von Unicef, Gordon Weiss, warnte in der pakistanischen Hauptstadt Islamabad: "Wir wissen immer weniger, was vor sich geht, da unsere Informationsquellen versiegen. Tausende Frauen und Kinder sind ohne Nahrung, medizinische Versorgung oder sogar ohne ausreichende Kleidung unterwegs... Frauen werden auf der Straße Kinder bekommen und sterben und Kleinkinder, selbst schwach und krank, in Lumpen und hungrig, werden die Babies mitnehmen."
Hilfsagenturen legen in Erwartung eines Stroms Hunderttausender neuer Flüchtlinge Lebensmittellager entlang der pakistanischen Grenze zu Afghanistan an. Das Leben in den staubigen Lagern in Pakistan ist schlimm genug. Aber in Afghanistan selbst ist ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung von 20 Millionen von Krankheit und Hunger bedroht. Hilfsorganisationen warnen, dass etwa 7,5 Millionen Menschen - in der Mehrzahl Frauen und Kinder - bedroht sind.
Einem aktuellen Programm der australischen Sendung "Four Corners" zufolge kann sich ein Drittel der afghanischen Bevölkerung nicht mehr ausreichend ernähren. In Pakistan neu angekommene Flüchtlinge, die in der Sendung interviewt wurden, machten den Bürgerkrieg und die dreijährige Dürreperiode verantwortlich. Vorher, erklärte ein Mann, hätten sie genug zum Überleben gehabt und trotz der Kämpfe wieder aufbauen können. "Dieses Mal haben wir nichts übrig" sagte er. Ein anderer sagte, das Wasser sei ihnen ausgegangen und sie hätten nichts zum Überleben.
Die Lage in den Flüchtlingslagern in Afghanistan ist katastrophal. Anfang des Jahres berichteten Hilfsorganisationen über den Tod von fast 500 Menschen in einem Lager nahe der Stadt Herat. Die meisten waren Kinder, die in dem bitter kalten Winter wegen unzureichender Kleidung, Nahrung, Unterkunft und medizinischer Versorgung zu Grunde gingen.
Die Flüchtlinge, die sich auf dem Gebiet der oppositionellen Nordallianz in Sicherheit zu bringen versuchen, erwartet nichts Besseres. Ungefähr 6000 Flüchtlinge existieren unter erbärmlichen Bedingungen im Anoba Camp im Panjir Tal, das sich unter der Kontrolle der Opposition befindet. Der Leiter des Lagers, Mohammad Tareq, sagte, er habe in Zelten nur Platz für 800 Menschen, die anderen lebten in primitiven Unterständen, und der Winter steht vor der Tür. Nahrungsmangel zwingt sie, nach Samen, Nüssen und Beeren zu suchen, was wiederum zum Ausbruch von Hautkrankheiten geführt hat.
Bevor noch die USA den ersten Schuss abgegeben haben, sind verschiedene Hilfsprogramme in Afghanistan den Kriegsvorbereitungen zum Opfer gefallen. Am 12. September, dem Tag nach den Terrorangriffen von New York und Washington, gab das Welternährungsprogramm der UNO (WFP) - von dem schätzungsweise vier Millionen Afghanen als wichtigster Nahrungsquelle abhängen - die Unterbrechung der Lieferung von Lebensmitteln in das Land bekannt.
Der Sprecher des Programms, Khaled Mansour, wies auf die mangelnden Transportkapazitäten hin, mit denen die Versorgungsgüter in die ländlichen Gebiete transportiert werden müssen. Aber er machte auch klar, dass es eine politische Entscheidung war, um zu verhindern, dass Nahrungsmittel den Taliban oder ihren Milizen in die Hände fallen. "Wir können nicht erlauben, dass Lebensmittel umgeleitet werden," sagte er. Wir müssen sicherstellen, dass die Menschen, die die Lebensmittel brauchen, sie auch bekommen." Trotz Protesten von Nicht-Regierungsorganisationen hat das WFP die Lebensmittellieferungen nicht wieder aufgenommen.
Mansour ist sich sehr wohl über die Konsequenzen bewusst, weil er weiß, dass die Nahrungsmittelvorräte des WFP in den afghanischen Städten nur noch für drei Wochen reichen. "Noch stehen wir erst vor einer Hungersnot. Wenn wir längere Zeit nicht nach Afghanistan hineinkommen,... dann fürchte ich, werden Menschen verhungern," sagte er. "Ungefähr eine Million Menschen wären am stärksten bedroht.... Als ich das letzte Mal dort war, sah ich Menschen Heuschrecken, Tierfutter und Gras essen. Die Menschen versuchen mit dem zu überleben, was da ist. Auf Grund der Dürre vor drei Jahren haben sie erst ihre Ersparnisse aufgebraucht. Im Jahr danach verkauften sie ihre Häuser."
Die Taliban selbst haben alle internationalen Hilfskräfte aufgefordert, das Land zu verlassen, weil sie ihre Sicherheit nicht garantieren könnten, und haben den zurückbleibenden einheimischen Beschäftigten der Hilfsorganisationen verboten, Telekommunikationsmittel zu benutzen. Am Montag schlossen sie das Nachrichtensystem der UNO im Land, besetzten die UN-Büros in Kandahar und beschlagnahmten 1.400 Tonnen Lebensmittel des WFP. Die UNO-Sprecherin Stephanie Bunker sagte: "Einige Aktivitäten der UN gehen zwar weiter, aber die meisten werden behindert oder haben ganz aufgehört."
Ein rückständiges und verarmtes Land
Afghanistan ist schon seit langer Zeit das Objekt von Rivalitäten der Großmächte im Kampf um die Kontrolle über die strategisch bedeutsame zentralasiatische Region. Es ist eines der ärmsten und rückständigsten Länder der Welt. Seine gesellschaftliche und ökonomische Auflösung ist durch den ununterbrochenen Kriegszustand seit der Invasion durch die Sowjetunion im Jahre 1979 beschleunigt worden - den Krieg, der zuerst zwischen der Sowjetunion und den islamischen Mudjahedin geführt und von den USA und Pakistan finanziert wurde, und dann nach dem Zusammenbruch des Regimes in Kabul 1992 zwischen den verschieden Clan-, Sprach- und Religionsgruppen.
Die von Pakistan mit der stillschweigenden Zustimmung der USA unterstützten islamisch-fundamentalistischen Taliban übernahmen 1996 die Kontrolle in Kabul und kontrollieren heute den größten Teil des Landes. Die buntscheckige Koalition von Oppositionskräften, aus denen die Nordallianz besteht, die in unterschiedlichem Maß von Russland, dem Iran und Indien unterstützt wird, kontrolliert von ihren Stützpunkten entlang der Grenze zu den zentralasiatischen Republiken Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan aus gerade einmal zehn Prozent des Landes.
Seit Jahrzehnten ist Afghanistan stark von wirtschaftlicher Hilfe abhängig. Ende der achtziger Jahre machte nach Angaben der Regierung selbst die finanzielle Unterstützung durch die Sowjetunion 40 Prozent des zivilen Staatshaushalts aus. Die Ostblockländer bestritten 1986/87 70 Prozent des Außenhandels. Aber diese Beziehungen brachen nach der Auflösung der Sowjetunion 1991 sehr schnell zusammen. Die darauf folgende finanzielle Unterstützung durch die UNO und die EU ist auf Grund der auf Betreiben der USA verhängten Sanktionen gegen das Taliban-Regime in den letzten Jahren stark zurückgegangen.
Schon vor der sowjetischen Invasion fristeten 67 Prozent der afghanischen Arbeitskräfte ihr Dasein auf den zwölf Prozent der Fläche des Landes, die landwirtschaftlich nutzbar sind. Durch die ständigen Kriegshandlungen wurde die Landwirtschaft jedoch massiv behindert. Mitte der neunziger Jahre war die Produktion traditioneller Feldfrüchte wie Weizen, Obst und Nüssen stark zurückgegangen und die Anbaufläche der Opiumpflanze Mohn war um 50 Prozent angestiegen.
Ein großer Teil der traditionellen Wirtschaft Afghanistans ist durch die Herstellung und den Schmuggel von Drogen ersetzt worden. 1999 war das Land der weltweit größte Opiumproduzent und bis zu einer Million Afghanen waren am Opiumhandel beteiligt. Um noch strengere UNO-Sanktionen zu vermeiden, haben die Taliban, die bis dahin tief in den Opiumhandel verwickelt waren, den Mohnanbau verboten.
Afghanistans Industrie ist in den letzten beiden Jahrzehnten weitgehend zerstört worden. Vor der sowjetischen Invasion gab es etwa 220 Staatsbetriebe, und die Industrie beschäftigte ungefähr elf Prozent der afghanischen Arbeitskräfte. 1999 arbeiteten nur noch eines der vier Zementwerke und ca. 10 Prozent der Textilfabriken. Das jährliche Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt beträgt nur etwa 800 US-Dollar.
Eine medizinische Grundversorgung, die schon vor dem Ausbruch des Bürgerkriegs sehr schwach war, steht jetzt nur noch einer winzigen Minderheit zur Verfügung. Es gibt nur einen Arzt für 7.357 Menschen. Die Lebenserwartung gehört zur niedrigsten der Welt - 46 Jahre bei den Männern und 45 bei den Frauen. Die Kindersterblichkeit ist die höchste in Asien - 250 pro 1.000 Lebendgeburten, dreimal so hoch wie im benachbarten Pakistan und 100 mal so hoch wie in Großbritannien.
Es gibt eine sehr reale Gefahr von Epidemien. Die Repräsentantin der Weltgesundheitsorganisation (WHO), Hilary Bower, sagte letzte Woche, dass schon 5.000 Cholerafälle und 100 Choleratote gemeldet worden seien. "Diese Zahlen geben die Situation nur eingeschränkt wieder: Sie sind zu niedrig, weil in der gegenwärtigen Situation ein Meldedefizit existiert."
Afghanistan hat mit die höchste Erwachsenenanalphabetenrate der Welt - geschätzte 53 Prozent bei Männern und 85 Prozent bei Frauen. Die reaktionären gesellschaftlichen Maßnahmen der Taliban, die sich gegen Frauen richten - z.B. das Verbot für Frauen, zu arbeiten, und für Mädchen über acht, die Schule zu besuchen - haben zu einem starken Exodus von Lehrern geführt. Zusätzlich sind in Folge der jahrelangen Kriege fast zweitausend Schulgebäude zerstört worden; im Moment sind nur 600 Grund- und weiterführende Schulen in Betrieb.
Bis zu diesem Monat hat die pakistanische Regierung trotz der Zerstörung der afghanischen Infrastruktur einen Teil der zwei Millionen afghanischen Flüchtlinge in pakistanischen Lagern zwangsweise repatriiert. Ein Sprecher des UNHCR berichtete, dass die Massendeportationen unter den Flüchtlingen ein Klima ständiger Angst geschaffen hätten. Es wird über mindestens einen toten afghanischen Flüchtling berichtet, dem die Polizei eine Flasche über den Kopf geschlagen und den sie dann aus einem Polizeiauto geworfen hatte.
Mohammad Zahin Jabarkhil zufolge, dem Leiter des Lagers Nasir Bagh, in dem 100.000 afghanische Flüchtlinge leben, wollen achtzig Prozent der Lagerbewohner nicht nach Afghanistan zurückkehren, weil es dort nicht sicher ist. Jabarkhil sagte, Pakistan habe Nasir Bagh in den achtziger Jahren als Vorzeigeobjekt benutzt. "Als wir gegen die Sowjets kämpften, kamen Präsident Carter und Vizepräsident Bush hierher. Die Flüchtlinge wurden 'Helden der ganzen Welt' genannt. Aber diese Zeiten sind jetzt vorbei. Jetzt will die Regierung, dass wir verschwinden."
Die Westmächte unterstützen zwar die amerikanischen Kriegspläne, weigern sich aber, mehr als eine Handvoll Afghanen in ihr Land zu lassen; sie überlassen sie lieber ihrem Schicksal in ihrem eigenen Land oder in den wuchernden Lagern in Pakistan und Iran, die beide selbst zu den ärmsten Ländern der Welt gehören.
Bei der umfangreichen Berichterstattung der Medien über die Kriegsvorbereitungen der US-Regierung gegen Afghanistan hat das Schicksal der afghanischen Bevölkerung nur geringe Aufmerksamkeit auf sich gezogen. 1999 wurden herzerweichende Bilder von Flüchtlingen im Kosovo zynisch dazu benutzt, das Nato-Bombardement Jugoslawiens zu rechtfertigen, obwohl der humanitäre Vorwand für den Krieg die USA nicht davon abhielt, Gräueltaten gegen die serbische Zivilbevölkerung zu begehen und einen großen Teil seiner Infrastruktur zu zerstören. Aber es ist ein düsteres Vorzeichen, wenn bei den Kriegsvorbereitungen der USA gegen eins der ärmsten Länder der Welt in der Rhetorik Washingtons und Londons nicht einmal mehr ein Lippenbekenntnis zu humanitären Überlegungen abgelegt wird.