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Bombenanschlag in Kaschmir erhöht die Spannungen zwischen Indien und Pakistan

Von Peter Symonds
18. Oktober 2001
aus dem Englischen (4. Oktober 2001)

Der verheerende Anschlag auf das Parlamentsgebäude in der von Indien kontrollierten Provinz Jammu und Kaschmir am 1. Oktober hat die Spannungen in der Provinz enorm verschärft und bedeutet eine zunehmende Belastung für die Beziehungen zwischen Indien und Pakistan, die durch den von den USA geplanten Militärschlag gegen Afghanistan bereits angespannt waren.

Laut Berichten in den indischen Medien haben mehrere bewaffnete Männer ein Fahrzeug der staatlichen Telekommunikationsbehörde gestohlen, mit Sprengstoff beladen und fuhren dann gegen 14 Uhr durch die Sicherheitssperre des sehr gut überwachten Gebäudekomplexes in Srinagar. Der Fahrer zündete den Sprengstoff und in dem allgemeinen Durcheinander konnten seine Komplizen als Polizisten verkleidet in das Gebäude hineinrennen, wo sie mit ihren Waffen das Feuer eröffneten und Granaten zündeten. In einem der Gebäude verbarrikadierten sie sich und wurden nach einem siebenstündigen Schusswechsel mit indischen Soldaten und Polizisten getötet.

Die Zahl der Toten stieg schließlich auf 38, da immer mehr Leichen aus den Trümmern geborgen wurden. Unter den Toten waren auch Mitglieder der indischen Sicherheitskräfte, Parlamentsbeschäftigte und eine Reihe von Zivilisten. Mindestens 75 Personen wurden bei der Detonation und den darauffolgenden Schusswechseln verletzt - zehn Personen wurden ins Krankenhaus eingeliefert und befinden sich in kritischem Zustand. Die meisten der Politiker, die als wahrscheinliches Ziel des Anschlags gelten, waren zum Zeitpunkt des Anschlags jedoch nicht vor Ort und hatten erst kurz zuvor ein benachbartes Gebäude verlassen. Durch die Explosion wurden an die 150 Gebäude und Läden beschädigt.

In den Wochen vor dem Anschlag waren die Auseinandersetzungen zwischen den indischen Sicherheitskräften und verschiedenen bewaffneten kaschmirischen Separatistenorganisationen zunehmend eskaliert. Mindestens 70 Menschen waren allein in der Woche vor dem ersten Oktober in einer Reihe von Zusammenstössen ums Leben gekommen. In den vergangenen zwölf Jahren, seitdem die Kämpfe über den Status Kaschmirs anhalten, sind über 30.000 Menschen getötet worden. Kaschmir ist seit der Aufteilung des Subkontinents und der Unabhängigkeit von der britischen Kolonialherrschaft im Jahre 1947 eine Quelle ständigen Konflikts zwischen Indien und Pakistan.

In einem in Srinagar veröffentlichten Medienbericht hatte die extremistische islamische Organisation Dschaish-e-Mohammad zunächst die Verantwortung für den jüngsten Anschlag übernommen und die Namen der am Anschlag Beteiligten genannt. Gründer dieser Organisation ist Massood Azhar. Vor Jahren hatte die indische Regierung ihn zusammen mit zwei weiteren kaschmirischen Untergrundkämpfern im Rahmen einer Vereinbarung freigelassen, mit der Ende 1999die Entführung eines Flugzeugs der indischen Luftfahrtgesellschaft nach Afghanistan beendet wurde. Über einen Sprecher der Organisation in Pakistan versucht die Organisation jedoch inzwischen, sich von einer Beteiligung an dem Anschlag loszusagen.

Die Vorbereitungen der USA auf einen Militärschlag gegen das Taliban-Regime in Afghanistan haben die politische Lage in Kaschmir weiter zugespitzt. Eine Reihe von kaschmirischen Separatistenorganisationen unterhalten Verbindungen zu den Taliban und islamisch-fundamentalistischen Organisationen in Pakistan und sind vehement gegen die Unterstützung, die das pakistanische Militärregime unter General Pervez Musharraf dem US-Militär gewährt.

Am 21. September hat die Dschaish-e-Mohammad zusammen mit der Lashkar-e-Toiba, der Harkat-ul-Mudschahideen und anderen islamisch-fundamentalistischen Organisationen einen Streik in Jammu und Kaschmir organisiert, um die Protestbewegung gegen Musharraf in Pakistan selbst zu unterstützen. Protestler in Srinagar verbrannten US-Flaggen und riefen Parolen in Unterstützung der Taliban. Die Organisation Al Umar Mudschahideen veröffentlichte eine Erklärung, die dazu aufrief, "dass die muslimische Welt sich vereinen und gegen Amerika kämpfen" solle, falls es zu einem Militärschlag der USA auf Afghanistan komme.

Der Streik brachte die tiefen Spaltungen innerhalb der Kaschmir-Organisationen an die Oberfläche. Die Führung der Hurriyat-Allparteienkonferenz (APHC) rief die Bewohner von Jammu und Kaschmir dazu auf, die Protestaktion nicht zu unterstützen und betonte, dass die Organisation Musharrafs "realistische, mutige und offene Haltung" einmütig unterstütze. Der Vorsitzende der APHC Abdul Ghani Bhat hatte zuvor die Anschläge in New York und Washington vom 11.September verurteilt.

Der Bombenanschlag auf das Parlament in Kaschmir richtet sich nicht nur gegen die indische Herrschaft in Jammu und Kaschmir, sondern auch gegen Kaschmir-Organisationen wie die APHC, die in der Vergangenheit Verhandlungen mit der indischen Regierung über den politischen Status Kaschmirs befürwortet haben und nun die Position von Musharraf unterstützen. Nachdem sich Bhat gegen den Streik vom 21.September gestellt hatte, wurde er von einer Koalition islamischer Organisationen gewarnt, er müsse sich "darauf einstellen, dafür einen hohen Preis zu bezahlen".

Auch haben die kommunalistischen Maßnahmen der indischen Regierung - einer Koalition unter der Führung der hindu-fundamentalistischen Partei Bharatiya Janata Party (BJP) - dazu beigetragen, die Spannungen zu verstärken. So hat die Regierung in der vergangenen Woche die Studentenorganisation Islamic Students Movement of India (SIMI) verboten und ihre Mitglieder wurden landesweit von der Polizei verfolgt. Mindestens 240 Aktivisten der SIMI wurden festgenommen, darunter auch ihr Vorsitzender Shahid Badr. Im indischen Bundesstaat Uttar Pradesh hat die Polizei vier Menschen getötet, als sie Feuer auf Protestler eröffnete, die sich gegen das Verbot wandten.

Die Regierung von Premierminister Atal Behari Vajpayee beschuldigte die SIMI, "Kommunalismus zu schüren" und Verbindungen zu Osama bin Ladens Organisation al-Quaida zu unterhalten, erbrachte dafür jedoch keinen Beweis. Indische Oppositionsparteien einschließlich der Indischen Kongresspartei, der Samjwadi Party und der Kommunistischen Partei Indiens (Marxisten) kritisierten das Verbot umgehend als einen Schachzug der BJP, um die hinduistische Wählerschaft zu polarisieren und ihre Wählerschaft für die nächsten bundesstaatlichen Wahlen zu festigen. In Kaschmir hat der APHC-Vorsitzende Syed Ali Geelani die Anschuldigungen gegen die SIMI mit der Begründung zurückgewiesen, dass es für sie "keinerlei Grundlage" gäbe.

Ein Segen für Vajpayee

Unabhängig davon, ob der Anschlag in Srinagar tatsächlich von der Dschaish-e-Mohammad verübt wurde, war dieser Anschlag mit Sicherheit ein Segen für Vajpayee. Das indische Regime nahm den Anschlag zum Anlass, um strengere Sicherheitsmaßnahmen in Jammu und Kaschmir durchzusetzen, Pakistans Unterstützung kaschmirischer Separatisten zu verurteilen und die USA zu drängen, ihren Rivalen als "Nation, die Terroristen unterstützt", zu brandmarken.

Die Regierung in Neu-Delhi ist verzweifelt bemüht, bei der amerikanischen Regierung wieder an Einfluss zu gewinnen, nachdem die Bush-Regierung nach den Anschlägen vom 11. September ihre Haltung gegenüber Pakistans abrupt geändert hat. In den vergangenen drei Jahren hatte die USA ihre Unterstützung für Pakistan, ihrem Verbündeten in der Zeit des Kalten Krieges, zunehmend und erkennbar zurückgenommen und eine engere strategische und ökonomische Beziehung mit Indien etabliert - eine Haltung, die von der Vajpayee-Regierung mit offenen Armen begrüßt worden war. Innerhalb nur weniger Wochen hat die US-Regierung ihre Kritik an der Militärjunta in Pakistan jedoch fallen gelassen und dem Land stark benötigte Wirtschaftshilfe zuteil werden lassen - als Gegenleistung für Musharraffs Unterstützung für den von den USA geplanten Krieg gegen Afghanistan. Damit hat die US-Regierung Indiens Partnerschaftsangebot für einen gemeinsamen Kampf gegen den islamischen Extremismus nachhaltig ausgeschlagen.

In den herrschenden Kreisen Indiens machen sich bereits Bedenken breit bezüglich der Folgen, die diese neue Hinwendung der USA zur pakistanischen Regierung haben könnte. In einer Erklärung begrüßte die indische Regierung die kürzliche Entscheidung der USA, das Vermögen von Organisationen einzufrieren, die unter dem Verdacht stehen, Beziehungen zu bin Laden zu unterhalten (darunter die kaschmirische Organisation Harkat-ul-Mudschaheddin), forderte aber noch zusätzliche Maßnahmen. "Wir hoffen, dass die USA noch viele weitere Organisationen dieser Art zur Zielscheibe macht, wenn sie das Netz für Organisationen, die für terroristische Aktivitäten bekannt sind und über riesige Finanznetze verfügen, noch breiter spannt", sagte ein Sprecher der Regierung.

Indien hat Pakistan offen beschuldigt, für den Anschlag in Srinagar verantwortlich zu sein, und fordert von Pakistan Maßnahmen, um die Aktivitäten von kaschmirischen Separatistenorganisationen auf pakistanischem Boden zu unterbinden. Das indische Außenministerium veröffentlichte am 1. Oktober eine Erklärung, die betonte, dass Pakistan "weiterhin ein Land ist, das Terrorismus und terroristische Netze schützt, unterstützt und fördert". Dann hieß es warnend: "In einer Zeit, in der die demokratische Welt eine breite und entschlossene Koalition gegen den internationalen Terrorismus bildet, kann Indien nicht akzeptieren, dass gleich hinter seinen Grenzen Bekundungen von Hass und Terror existieren."

Zwei hochrangige indische Minister - der Minister für Nationale Sicherheit Brajesh Mishra und der Außenminister Jaswant Sing - haben Washington in der vergangenen Woche einen Besuch abgestattet, um die Zusicherung der Bush-Regierung einzuholen, dass die USA noch immer an engen Beziehungen zur indischen Regierung interessiert ist und um die USA zu drängen, im Rahmen ihres "Kriegs gegen den Terrorismus" weitere Maßnahmen gegen kaschmirische Separatistenorganisationen zu ergreifen.

Ein spezielles Schreiben, das Außenminister Singh dem US-Präsidenten Bush am 1. Oktober persönlich aushändigte, enthielt eine kaum verhüllte Vergeltungsdrohung Vajpayees gegenüber Pakistan. Bezugnehmend auf den von den USA geplanten Militärschlag gegen Afghanistan meinte der indische Premierminister, er habe sehr wohl Verständnis für die "zentrale Verantwortung", die die USA für die Sicherheit der amerikanischen Bevölkerung habe. Im weiteren fügte er hinzu: "Dieser mutwillige Gewaltakt hat eine verständliche Wut ausgelöst. Vorfälle dieser Art lassen Fragen nach unserer Sicherheit aufkommen, denen ich mich als demokratisch gewählter Führer Indiens in oberstem nationalem Interesse stellen muss. Pakistan muss verstehen, dass die Geduld der indischen Bevölkerung ihre Grenzen hat."

Der indische Innenminister L.K. Advani, ein hindu-chauvinistischer Hardliner ging sogar noch einen Schritt weiter. Am 2. Oktober brandmarkte er Pakistan erneut als "terroristisches Land" und forderte, "wenn Pakistan beweisen will, dass es ihm (mit der Bekämpfung des Terrorismus(ernst ist... muss es die Führer der Dschaish-e-Mohammad Indien ausliefern". Die Parallele mit der Forderung der USA, die von der Taliban die Auslieferung bin Ladens und seiner Anhänger fordern, ist ganz offensichtlich. Das Gleiche gilt für die Schlussfolgerungen - wenn Pakistan dieser Forderung nicht nachkommt, wird Indien eine militärische Antwort geben. Advani wiederholte auch die Forderung Indiens, dass die USA sich nicht nur auf Afghanistan konzentrieren solle, sondern gegen alle terroristischen Lager, Organisationen und Länder vorgehen solle, die Terroristen Unterschlupf gewähren.

Der Staatssekretär des indischen Außenministeriums Omar Abdullah meinte gestern in der Sendung Question Time India der BBC, dass Indien seine Truppen nach Pakistan senden solle, um "terroristische Ausbildungslager" zu zerstören. "Hier muss gar nicht offen vorgegangen werden," sagte er. "Man kann das im Geheimen tun und diese Lager zerstören, denn ein offenes Zuschlagen auf zu breiter Ebene wäre nicht das richtige Vorgehen." Der Staatssekretär des Innenministeriums I.D. Swami verstärkte diese Botschaft, indem er sagte: "Es war schon immer möglich, einen Schlag gegen die terroristischen Lager in PoK (im von Pakistan besetzten Kaschmir(zu verüben."

Die Bush-Regierung verurteilte den Anschlag in Srinagar und versicherte gegenüber Indien in allgemeinen Worten, dass der "Krieg gegen den Terrorismus" nicht nur "eine Richtung" und in Zukunft auch andere Ziele habe als nur Afghanistan. Die indischen Medien maßen der Tatsache, dass Bush während eines Treffens zwischen Singh und der US-Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice im Weißen Haus persönlich vorbeischaute und informelle Gespräche mit dem indischen Außenminister führte, ein großes Gewicht bei. Da die USA jedoch das bereits erschütterte Regime in Pakistan keinen weiteren Problemen aussetzen will, hat sie der indischen Regierung keine festen Zusagen gemacht.

Pakistan wiederum hat den Anschlag in Srinagar verurteilt und jegliche Beteiligung zurückgewiesen. In einer Erklärung des pakistanischen Außenministers hieß es, dass der Anschlag "besonders verwerflich sei, weil er insbesondere darauf abzuzielen schien, den rechtmäßigen Kampf der Bevölkerung Kaschmirs um das Recht auf Selbstbestimmung zu verunglimpfen". Andere führende Regierungsvertreter Pakistans haben Indien offen vorgeworfen, den Anschlag organisiert zu haben, um die Unterstützung der USA für den Kampf gegen die kaschmirischen Organisationen zu gewinnen.

Musharraf befindet sich jedoch auf einer Gratwanderung. Mit Hilfe der obersten militärischen Führung und islamischer Parteien hatte er 1998 Narwaz Shariff des Amtes enthoben, nachdem der frühere pakistanische Premierminister den Forderungen der USA nachgegeben hatte, die kaschmirischen Separatistenkämpfer im Gebiet Kargil in Jammu und Kaschmir im Zaum zu halten. Nun ist er mit wachsenden Protesten in Pakistan konfrontiert, da er amerikanische Militärschläge gegen die Taliban unterstützt.

Nachdem die USA das Vermögen der Harkat-ul-Mudschaheddin eingefroren haben, war Pakistan gezwungen die Büros der Organisation zu schließen. Sollte Musharraf gezwungen sein, weitere Maßnahmen gegen die kaschmirischen Organisationen zu unternehmen, könnte ihm durchaus das gleiche politische Schicksal bevorstehen wie seinem Vorgänger.

Die Ereignisse der vergangenen Woche zeigen, dass Kaschmir, in den vergangenen fünfzig Jahren bereits Auslöser zweier Kriege zwischen Indien und Pakistan, einem Pulverfass gleicht. Ein US-Militärschlag gegen Afghanistan wird unmittelbare politische Auswirkungen in Kaschmir haben, die wiederum auf dem indischen Subkontinent die Gefahr eines offenen Konfliktes zwischen den beiden mit Nuklearwaffen ausgestatteten Rivalen auf die Tagesordnung setzen.

Siehe auch:
Krieg zwischen Indien und Pakistan rückt näher
(1. Juli 1999)
Das hinduistische Regime in Indien schürt kommunalen Hass gegen Muslims
( 5. Oktober 2001)