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Schröder verknüpft Kriegseinsatz mit Vertrauensfrage

Ein Ultimatum an Parlament und Bevölkerung

Von Peter Schwarz
15. November 2001

Am morgigen Freitag entscheidet der Bundestag über einen Antrag, der den Einsatz der Bundeswehr im Afghanistan-Krieg mit der Vertrauensfrage verbindet. Bundeskanzler Schröder hat sich für dieses in der Geschichte der Bundesrepublik einmalige Vorgehen entschieden, um kritische Stimmen gegen den bisher größten Militäreinsatz der Bundeswehr einzuschüchtern und zum Schweigen zubringen.

Vordergründig richtet sich die Verknüpfung der Abstimmung über den Bundeswehreinsatz mit der Vertrauensfrage gegen Abgeordnete der SPD und der Grünen, die angekündigt haben, gegen den Einsatz zu stimmen. Sie werden vor ein Ultimatum gestellt: Wer gegen den Kriegseinsatz stimmt, muss gleichzeitig dem Kanzler das Misstrauen aussprechen, und stellt damit die Zukunft der rot-grünen Koalition in Frage; wer für die Fortsetzung der Koalition eintritt und dem Kanzler das Vertrauen ausspricht, muss für den Kriegseinsatz stimmen.

Noch am vergangenen Wochenende hatte Schröder verlauten lassen, er werde sich mit einer Kanzlermehrheit zufrieden geben und nicht auf einer Mehrheit aus dem eigenen Lager für den Bundeswehreinsatz bestehen. Da Union und FDP ihre Zustimmung bereits signalisiert hatten, war ihm eine breite Zustimmung sicher. Doch am Dienstag entschied er nach Beratungen mit Altkanzler Helmut Schmidt und dem früheren SPD-Vorsetzenden Hans-Jochen Vogel, den Kriegseinsatz mit der Vertrauensfrage zu verbinden. Union und FDP gaben darauf erwartungsgemäß bekannt, sie würden mit Nein stimmen. Da die PDS den Kriegseinsatz generell ablehnt, hängt Schröders Mehrheit nun ausschließlich vom Verhalten der sozialdemokratischen und grünen Abgeordneten ab.

Gewinnt Schröder die Abstimmung, stärkt dies seine Autorität und bringt die kritischen Stimmen in den eigenen Reihen - zumindest für einig Zeit - zum Schweigen. Verliert er sie, kann er dem Bundespräsidenten vorschlagen, binnen 21 Tagen den Bundestag aufzulösen. Neuwahlen würden dann Anfang nächsten Jahres stattfinden. Der Bundestag kann aber auch in seiner jetzigen Zusammensetzung einen neuen Kanzler wählen - Schröder selbst oder jemand anderen. Denkbar wäre eine Koalition von SPD und FDP, die zusammen über eine knappe Mehrheit verfügen, oder eine Große Koalition von SPD und Union oder Teilen davon.

Die SPD-Fraktion hat sofort vor Schröders Ultimatum kapituliert. Nachdem sich ursprünglich vier Abgeordnete gegen den Bundeswehreinsatz ausgesprochen hatten, will sie nun geschlossen für den Kanzler stimmen, den sie in der Fraktionssitzung mit stehenden Ovationen feierte.

Bei den Grünen ist die Lage ungeklärt. Bisher wollten mindestens acht Abgeordnete gegen den Einsatz stimmen Bleiben sie bei ihrer Haltung, hätte Schröder kein Mehrheit, da die rot-grüne Koalition bei mehr als sieben Nein-Stimmen die Abstimmung verliert. Es ist allerdings anzunehmen, dass einige abtrünnige Grünen unter dem massiven Druck, der jetzt eingesetzt hat, noch nachgeben werden.

Ein Hauch von Staatsstreich

Anders als etwa das britische lässt das deutsche politische System eine vorzeitige Auflösung des Parlaments nur in Ausnahmefällen zu. Das wichtigste Mittel dazu ist die Vertrauensfrage. Sie wurde in der bisherigen Geschichte der Bundesrepublik nur drei Mal gestellt. Im September 1972 erzwangen Willy Brandt und im Dezember 1982 Helmut Kohl damit eine vorzeitige Auflösung des Bundestags, um sich in der anschließenden Wahl eine stabile Mehrheit zu sichern.

Helmut Schmidt stellte im Februar 1982 die Vertrauensfrage, um die brüchige Koalition mit der FDP zu stabilisieren und die eigene Partei zu disziplinieren. Indem er die Abgeordneten zwang, ihm das Vertrauen auszusprechen, versuchte er der wachsenden Opposition gegen seinen politischen Kurs in den eigenen Reihen Herr zu werden. Diese Opposition richtete sich sowohl gegen seine Arbeits- und Wirtschaftspolitik als auch gegen die Stationierung atomarer Mittelstreckenraketen auf deutschem Boden, gegen die damals Hunderttausende auf die Straße gingen. Schmidt setzte sich durch und gewann die Abstimmung, aber sieben Monate später war die sozialliberale Koalition trotzdem am Ende. Die FDP wechselte zur CDU. Schmidt hatte mit seinem rechten Kurs Helmut Kohl den Weg geebnet, der für die nächsten sechzehn Jahre Kanzler blieb.

Gerhard Schröder tritt in die Fußstapfen Helmut Schmidts, wenn er nun die Vertrauensfrage erneut als Mittel benutzt, um kritische Stimmen in den eignen Reihen zum Schweigen zu bringen. Dabei geht er noch wesentlich weiter als Schmidt, der die Vertrauensfrage nicht mit der Abstimmung über eine Sachfrage verknüpft hatte. Indem er das Votum über seine Regierung mit dem Bundeswehr-Einsatz verbindet, betritt Schröder verfassungsrechtliches Neuland. Die Vertrauensfrage, die eigentlich der Feststellung dient, ob ein Kanzler noch das Vertrauen des Parlaments besitzt, wird so zu einem Mittel, dem Parlament den Willen des Kanzlers aufzuzwingen.

Dabei steht außer Zweifel, dass die zaghafte Opposition einiger Grünen- und SPD-Abgeordneten nur ein schwaches Echo einer weitverbreiteten Stimmung ist. Der FDP-Vorsitzende Guido Westerwelle hat dies vergangene Woche im Bundestag offen ausgesprochen, als er die Abgeordneten mahnte, sich nicht zum "Echo von Stimmungen" in der Bevölkerung zu machen.

In den Ortsverbänden von SPD und Grünen brodelt es. Unmittelbar vor Schröders Entscheidung haben 170 SPD-nahe Persönlichkeiten aus dem Kultur- und Medienbereich einen Appell veröffentlicht, in dem es heißt, selbst Anhängern der rot-grünen Koalition sei nicht mehr erkennbar, was deren Politik auf den Feldern Wirtschaft, Steuern, Bildung und Gesundheit von der Politik der Union oder der FDP unterscheide. Dies gelte noch mehr für Fragen von Militär und Sicherheit. Gefordert wird eine Politik, "die dem dominierenden Neoliberalismus und der schleichenden Militarisierung in Theorie und Praxis entgegentritt".

Unter vielen Grünen gilt es inzwischen als ausgemacht, dass die Partei in einem Jahr den Einzug in den Bundestag nicht wieder schafft, wenn sie an ihrem gegenwärtigen Kriegkurs festhält. Dies ist eine der Unwägbarkeiten der morgigen Abstimmung. Zumindest einige Grüne sind zum Schluss gelangt, dass die zutiefst diskreditierte Partei nur einen Rest von Glaubwürdigkeit retten kann, wenn sie jetzt in die Opposition geht.

Angesichts dieser verbreiteten Ablehnung des Regierungskurses haftet dem Vorgehen Schröders, auch wenn es formal keine juristischen Normen verletzt, ein Hauch von Staatstreich an. Es dient der Durchsetzung einer Politik, die zutiefst unpopulär ist. Drei Jahre nach der Abwahl der Kohl-Regierung erzwingt Schröder einen Kurs, der die volle Unterstützung der Liberalen und der Konservativen hat und diesen den Weg zurück an die Mach ebnet - ohne dass die Wähler den geringsten Einfluss darauf hätten.

Inzwischen trifft sich Schröder fast täglich mit FDP-Chef Guido Westerwelle. Am Dienstag hat er demonstrativ die Fraktionssitzung der FDP besucht, um ihr sein Vorgehen zu erläutern - eine deutliches Signal für eine zukünftige Koalition mit den Liberalen.

"Außenpolitische Notwendigkeiten"

War es bisher üblich, bei Abstimmungen über so grundlegende Fragen wie Krieg und Frieden Gewissensentscheidungen von Abgeordneten zu respektieren, hat Schröder nun erklärt, bei "außenpolitischen Notwendigkeiten" könne es keine Gewissensentscheidung geben.

In der Tat geht es bei der Entsendung von Bundeswehreinheiten in den Mittleren Osten um weit mehr als um die Frage, ob sich deutsche Soldaten an einer bestimmten Militäraktion beteiligen oder nicht. Die Bundesregierung hält eine militärische Teilnahme am gegenwärtigen Krieg für unverzichtbar, um wieder eine Rolle als Großmacht spielen zu können. Was im Namen der "uneingeschränkten Solidarität" mit der USA beginnt, zielt langfristig darauf ab, der letzten verbliebenen Supermacht beim Streit um Rohstoffe, Absatzmärkte und Einflusssphären Paroli zu bieten.

In dieser Frage weiß sich Schröder mit den Konservativen einig. Wolfgang Schäuble, der inzwischen wieder als möglicher Kanzlerkandidat der Union gehandelt wird, hat erst letzte Woche verkündet, die Welt wolle "die Führung einer einzigen Macht nicht ertragen". Zeitgleich mit der Abstimmung im Bundestag findet am Freitag auf dem Bonner Petersberg ein Geheimtreffen der Verteidigungsminister Deutschlands, Frankreichs, Großbritanniens und Italiens statt, wie Der Spiegel in seiner jüngsten Ausgabe berichtet. Es soll das europäische Verhalten im Afghanistan-Konflikt besser koordinieren und so die Stellung Europas gegenüber den USA stärken.

Einige Vertreter der Grünen trösten sich inzwischen damit, dass nach dem Fall von Kabul die heiße Phase des Afghanistan-Krieges vorbei sei und den deutschen Einheiten - ähnlich wie auf dem Balkan - nur noch Aufräum- und Sicherungsaufgaben verbleiben. Sie übersehen, dass der von der US-Regierung verkündete "Krieg gegen den Terrorismus" in Afghanistan erst begonnen hat und der Einsatzbeschluss für die Bundeswehr auch ganz andere Gebiete - "die arabische Halbinsel, Mittel- und Zentralasien und Nord-Ost-Afrika sowie die angrenzenden Seegebiete" - umfasst.

Eine militärische Eskalation ist unvermeidlich und stärkt unweigerlich die rechten, militaristischen Elemente in Gesellschaft und Politik. SPD und Grüne spielen dabei die Wegbereiter. Hatten sie in Friedenszeiten Mitbestimmung und Demokratie gepredigt, so lauten die neuen Tugenden, dem Druck der Bevölkerung widerstehen und immun sein gegenüber den Gräueln des Krieges.

Ein Element von Panik

Schröders Verhalten enthält auch ein Element von Panik. Vor der SPD-Bundestagsfraktion begründete er seinen Schritt damit, er wolle angesichts der wirtschaftlichen Lage eine stabile Regierung garantieren. Er rechnet offensichtlich damit, dass steigende Arbeitslosigkeit, drastische Lohnsenkungen und sinkende Sozialleistungen eine Welle des sozialen Protests auslösen werden.

Während sich Regierung und Opposition hinsichtlich der Kriegspolitik weitgehend einig sind, stößt sie nicht nur in breiten Teilen der Bevölkerung, sondern auch in Teilen der Presse auf Ablehnung. Dabei vermischen sich die unterschiedlichsten Motive. Während in der Bevölkerung Erinnerungen an die Schrecken des Zweiten Weltkriegs und die Furcht vor einer militärischen Eskalation vorherrschen, gibt es in der Presse Befürchtungen, dass die Regierung undurchdacht und unvorbereitet vorpresche oder sich zu eng an die US-Regierung binde.

Weitere politische Krisen und heftige Auseinandersetzungen sind damit vorprogrammiert.

Die Arbeiterklasse braucht dabei eine eigene politische Stimme. SPD und Grüne haben sich in dieser Hinsicht völlig diskreditiert und die PDS, die sich als Friedenspartei gebärdet, wartet sehnsüchtig darauf, dass sie von der SPD bei der nächsten Krise zu Hilfe gerufen wird. Ihre Schwüre gegen den Krieg werden sich dann als ebenso trügerisch erweisen, wie die früheren der Grünen. Die Brutalität, mit der Schröder den Kriegskurs der Regierung durchsetzt, führt die Notwendigkeit vor Augen, auf der Grundlage eines internationalen sozialistischen Programms eine neue, unabhängige Partei der Arbeiterklasse aufzubauen.

Siehe auch:
Bundesregierung beschließt größten Militäreinsatz seit dem Zweiten Weltkrieg
(10. November 2001)